Catégorie : Romane

Der blinde Fleck – Auszug der Radiosendung – Leseprobe 2

Meine Mutter verletzte sich täglich. Die Ecken und Kanten der neuen Wohnung waren ihr noch nicht vertraut, oft stieß sie sich an scharfen Schreib- und Küchentischkanten, an spitzen Schuh- und Badezimmerschrankecken, manchmal lief sie gegen offene Türen und Schränke. Auf ihrem Körper zeichneten sich Kratzer, Flecken, Schrammen und Blutergüsse ab, die sie unter ihrer Kleidung versteckte. Aufgeplatzte Wunden im Gesicht, über ihren Schläfen und unter ihren Brauen, blieben für jeden sichtbar. Wenn sie ein blaues Auge hatte, wollte sie nicht aus dem Haus gehen. Sie meinte, sie sähe verprügelt aus. Bis es zu einem unauffälligen Fleck wurde, fragte sie mich oft mehrmals am Tag nach dessen Farbe. Manchmal sagte ich, es habe sich in ein schwaches Hellgelb verwandelt, wenn es noch ein kräftiges Gelbgrün war. Ich log nicht sehr gerne, aber es erleichterte meine Mutter. Sie gewöhnte sich daran, sich Arme und Beine aufzuschlagen, auf ihren Oberschenkeln hatte sie immer ein oder zwei blaue Flecken in Tischhöhe. Meine Mutter behauptete, sie habe fast kein Schmerzempfinden mehr. Ein Mal bemerkte sie ihre Verletzung erst an der Wärme des fließenden Blutes, ein anderes Mal entdeckte ich, dass ihre Haarsträhnen rotbraun verkrustet waren. Sie versuchte sich zu erinnern, wo und wann sie sich besonders wehgetan haben konnte. Die weißen Alpenveilchen hatte sie unter dem Wohnzimmerfenster gegossen und auf den Boden gefallene, vertrocknete Blütenblätter aufgesammelt. Aus der Hocke sich aufrichtend schlug sie mit ihrem Kopf gegen die gekachelte Fensterbank, dort musste sie sich eine blutende Wunde geschlagen haben, die beim Trocknen ihre Haare verklebt hatte.

Ich führte meine Mutter durch unsere Wohnung wie durch eine fremde Stadt. In jedem Zimmer sah ich mich um, griff nach ihrer rechten Hand und ließ sie mit ihren Fingerspitzen alle Ecken und Kanten langsam abtasten. Ich beschrieb ihr den Abstand jeder möglichen Gefahr zu den Wänden, Türen und Schwellen, nach denen sie sich richtete. Sie musste sich jedes Hindernis einprägen, um sich im Raum, den ihr die abgestellten Möbel gelassen hatten, bewegen zu können. Meine Mutter und ich gingen alle Gänge der Wohnung ab: gerade Wege, enge Umwege, einfache Sackgassen und verschachtelte Abkürzungen zwischen Tischen, Stühlen, Betten und Schränken. Sie zählte die Schritte von der Türschwelle bis zum Schaukelstuhl, vom Schaukelstuhl bis zum Schreibtischstuhl und vom Schreibtisch bis zur Fensterbank. Oft wurde sie ungeduldig, ich blieb ruhig, denn fast alles war für meine Mutter gefährlich: das robuste Waschbecken im Bad, die klobigen Türklinken und selbst die schweren Hängelampen. In den neuen Zimmern versuchte ich zu ihrem vorangehenden Schatten zu werden, ich wollte sie beschützen. Oft sagte sie streng: „Lass mich das bitte alleine machen!“ oder „Ich kann es selbst!“ Damit sie sich nicht unselbständig fühlte, blieb ich nur hinter ihr stehen und beobachtete sie unauffällig. Wenn ich fast sicher war, dass sie sich bald verletzen würde, griff ich im letzten Moment ein. Manchmal war es zu spät.

Der Großvater besuchte uns nach einer „Herzkranzgefäßverengung“ und vor einer „Magenverstimmung“. Er schob uns zwischen seinen Patienten ein, um auch bei uns „nach dem Rechten“ zu sehen. Als er meine Mutter zur Begrüßung auf die Wangen küsste, entdeckte er eine Verletzung. Er nahm ihren Kopf behutsam in die Hände, führte sie zur nächsten Lichtquelle, schob einige ihrer Haarsträhnen zur Seite und betrachtete sie unter der Flurlampe. Der Großvater untersuchte eine Wunde auf der Kopfhaut, die ich übersehen, und die meine Mutter mir verschwiegen hatte.

„Mein Kind! Eigentlich hätte es genäht werden müssen. Du hast noch einmal einen Schutzengel gehabt. Wann ist es passiert?“
„Vor drei Tagen.“
„Sonst alles in Ordnung? Herz? Stuhl?“
„Ja, ja.“
„Eher fester? Eher breiig?“
„Normal.“

Der Großvater schob erst den rechten Ärmel ihrer Bluse und dann die linke Manschette seines Hemdes hoch. Er hielt mit Daumen und Zeigefinger ihr Handgelenk, sah auf seine goldene Armbanduhr und verfolgte deren Sekundenzeiger. Nach einigen Atemzügen brach er sein Schweigen.

„Puls völlig unbedenklich.“

Er strich meiner Mutter einmal über die linke Kopfhälfte, griff in seine Manteltasche und überreichte ihr ein Geschenk. Aus dem gestreiften Papier wickelte sie einen Bogen aus Messing und bat mich einen Hammer zu holen. Der Großvater schlug einen Nagel in die schiefe Flurwand.

„Glück, Glück! Wer will sagen, wer du bist und wo du bist! Fontane.“

Der Großvater machte eine Pause, er sah mich ruhig und eindringlich an, ich hörte nur noch seinen Atem und das Ticken seiner Uhr. Plötzlich rüttelte er am Nagel, um nachzuprüfen, ob dieser fest in der Wand steckte. Er nickte und hängte den Messingbogen als umgekehrtes U daran auf. „Das ist ein Glücksbringer“, sagte er und verabschiedete sich.

„Meine Patienten rufen.“

Meine Mutter stand in der Küche und zerkleinerte Lauch mit einem scharfen Messer. Sie brauchte einen besseren Schutzengel, ich musste seine Arbeit übernehmen. Wenn sie kochte, konnte ich die Gefahr nicht einschätzen. Würde sie in der nächsten Sekunde Lauch oder ihren Finger schneiden? Sie schnitt sich eine Fingerkuppe der linken Hand an, sofort schoss Blut aus der Wunde, es spritzte über das Weiß vom Gemüse auf das Holzbrett. Meine Mutter hielt ihren Finger unter fließend kaltes Wasser.

„Die Kälte verengt die Kapillargefäße. So kann man eine Wunde stillen.“
„Was für Gefäße?“
„Haargefäße.“

Ich verstand nichts und lief in ihr Schlafzimmer. Um das Apothekerschränkchen öffnen zu können, stieg ich auf einen Stuhl. Ich suchte nach einem Pflaster, im unteren Fach der Innenseite der Tür fand ich es. Als ich in die Küche zurückkam, hielt meine Mutter ihren Zeigefinger senkrecht in die Luft. Er war rot. Sie bat mich, einen Meter Toilettenpapier zu holen, damit umwickelte sie den Finger. Ich wischte mit Spülmittel das blutbefleckte Gemüse und Holzbrett ab. Das rosa Toilettenpapier verfärbte sich rot. Nach einiger Zeit floss kein Blut mehr aus dem Finger, meine Mutter streckte ihn mir entgegen und ich umklebte die Schnittstelle mit dem Pflaster. Sie lachte: „Jetzt habe ich mir auch noch ins eigene Fleisch geschnitten.“ Ich wusste nicht, was daran so komisch sein sollte. Sie fragte: „Ist Blut auf das Gemüse gekommen?“ Ich sagte: „Nein.“ Mit den gespreizten Fingern ihrer linken Hand hielt sie die Lauchstange, die sie mit der rechten Hand weiter schnitt. Der Porreeauflauf schmeckte wie immer, meine Mutter kochte ihn nie wieder. Wenn sie sich beim Zubereiten eines Essens stark verletzte, hatte sie keine Lust, es nochmals zu kochen, als hätte gerade dieses Gericht ihr Unglück gebracht. Immer häufiger aßen wir wässrige Tütensuppen und aufgetaute Tiefkühlpizzen.

Meine Mutter schob Bœuf Stroganow als Fertiggericht in den vorgeheizten Ofen. Die blauen Flammen gingen aus, sie kniete sich vor den Herd und versuchte ihn mehrmals wieder anzuzünden, es gelang ihr nicht. Ich bot meine Hilfe an, sie antwortetet nur: „Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht.“ Immer wieder hielt sie ein brennendes Streichholz in das Loch, aus dem das Gas treten sollte, nichts geschah. Plötzlich stach eine riesige Flamme aus dem Ofen. Es zischte. Schreiend wich meine Mutter mit ihrem Oberkörper nach hinten und schlug sich mit den Händen gegen die Stirn und auf die Augen. Sie richtete sich auf. Sie tastete nach einem Küchenstuhl, zog ihn zu sich heran und setzte sich. Ein eigenartiger Geruch breitete sich aus. Sie zitterte, als sei ihr sehr kalt. Wo lange Wimpern am Rande ihrer Augenlider und dichte Härchen im Bogen über ihren Augen angeordnet gewesen waren, hingen winzige, verkohlte Kügelchen. Meine Mutter glich einem Fisch, sie hatte keine Augenbrauen und Wimpern mehr. Ich strich über ihre Wange, sie lächelte ein wenig. An die kürzeren Stirnfransen konnte ich mich gewöhnen, an ihr nacktes Gesicht nicht. Wie lange würde es dauern, bis sie wieder wie ein Mensch aussah? Wuchsen Wimpern überhaupt nach? Ich griff nach ihrer Hand und streichelte ihre Finger, die Härchen auf ihren Händen und Unterarmen waren auch angesengt. Meine Mutter wiederholte ständig: „Was für ein Glück, dass ich heute Baumwolle trage. Sonst wäre ich verbrannt.“ Paulinchen war allein zu Haus, es brennt die Hand, es brennt das Haar, es brennt das ganze Kind sogar. „Sonst hätte die Synthetikkleidung mich in Plastik eingeschmolzen.“ Verbrannt ist alles ganz und gar, das arme Kind mit Haut und Haar, ein Häufchen Asche blieb allein. „Der geerbte Gasherd ist lebensgefährlich. Ich will eines Tages auf einen Elektroherd sparen. Ein solcher ist „blindenfreundlicher.“ Zum ersten Mal hörte ich sie dieses Wort benutzen.

Ich ging zum himmelblauen Müllsack, den meine Mutter aus Frankreich mitgebracht und in den Kleiderschrank gestellt hatte. Ich durchwühlte ihn und zog meine Puppe heraus, die Batterie war leer, sie konnte nicht weinen. Mit einer Nagelschere schnitt ich ihr die Wimpern ab, ich legte die Puppe in den Müllsack zurück und verknotete ihn fest.

Meine Mutter und ich standen in einem glänzenden Treppenhaus. Sie nahm das violette Seidenpapier vom Blumenstrauß, den sie in der Hand hielt und knüllte es zu einem Ball, den sie in ihre Schultertasche steckte. Sie nickte, ich drückte auf eine Klingel, unter deren Namensschild ein Streifen voller abtastbarer Punkte klebte. Die Tür öffnete sich, Magda betrat die Fußmatte, Kurt blieb hinter ihr im Flur. Beide hatten die Augen geschlossen. Sie waren die ersten blinden Bekannten meiner Mutter, Magda und Kurt würden nicht sehen können, dass meiner Mutter Augenbrauen und Wimpern fehlten. Magda strich sich über den Rock, der steife Taftstoff raschelte. Sie lachte aufgedreht und bat uns hineinzukommen. Meine Mutter überreichte die Blumen und sagte: „Das sind bunte Tulpen.“ Magda dankte überschwänglich und ging in die Küche. Sie öffnete einen Schrank, fand tastend eine Vase, steckte den Zeigefinger ins Innere des Gefäßes und ließ Wasser einlaufen. Als das Wasser ihren Finger berührte, drehte sie den Hahn ab und stellte die Blumen hinein. Sie fragte nach deren Farben, ich zählte die Farbtöne auf. Dieser Strauß war das falsche Geschenk, Magda konnte ihn weder sehen, noch riechen, Tulpen rochen nach nichts. Sie bat uns „in die gute Stube“ und sagte: „Kurt hat den Tisch gedeckt, während ich den Kuchen gebacken habe.“ Nichts fehlte auf der grobgewebten Tischdecke: Sahne, Kuchen, Kuchenheber, Kuchenteller, Kuchengabeln, Tassen, Untertassen, Kaffeelöffel, Kaffeesahne, Kaffeewärmer, Zuckerstückchen und zu Dreiecken gefaltete Servietten. Jeder einzelne Gegenstand war einem anderen genauestens zugeordnet, Kurt musste sich lange damit beschäftigt haben. Meine Mutter näherte sich dem Tisch und stieß gegen ein Tischbein, die Kaffeesahne schwappte aus dem Kännchen und machte einen Fleck auf der Decke. Ich sollte Magda und Kurt darauf aufmerksam machen, ich sagte nichts, ich wollte meine Mutter nicht verraten. Magda nahm mit ihrer einen Hand die Kaffeekanne, den Zeigefinger ihrer anderen Hand führte sie knapp unter den oberen Rand der Tasse. Bevor der dampfende Kaffee ihren Finger berührte, hörte sie auf, einzuschenken. Kurt stand auf, holte für mich ein Glas und eine Flasche Ananassaft aus der Küche und goss ein, auch er benutzte seinen Zeigefinger. Ich fragte: „Wie habt ihr den Kuchen in zwölf gleiche Stücke schneiden können?“ Magda lachte: „Ich habe eine Kuchenschneidehilfe.“ Als meine Mutter den Geschmack des Apfelkuchens lobte, erklärte Magda: „Das ist ein Fertigkuchen.“ Für den Teig musste man nur ein Ei, Milch und Butter ins Pulver geben, für die Apfelfüllung nur heißes Wasser auf die trockenen Fruchtstücke gießen. Magda lachte und sagte: „Dieser blindenfreundlichen Erfindung wegen verdient der Hersteller einen Preis.“

Meine Mutter, Magda und Kurt unterhielten sich über Blindenberufe. Magda und Kurt hörten von morgens bis abends Stimmen, sie arbeiteten für die Stadtverwaltung als Telefonisten. Sie lächelten. „Es ist, als ob wir stundenlang Menschen sehen.“ Meine Mutter sagte: „Wenn ich ganz blind sein werde, würde ich lieber einen anderen Beruf ausüben.“ Kurt antwortete: „Wenn du nicht gerade Körbe flechten oder Bürsten herstellen willst, ist die Auswahl nicht übermäßig groß.“ Meine Mutter entgegnete: „Früher habe ich Sport unterrichtet, jetzt beginne ich als Gymnastiklehrerin und später werde ich vielleicht als Masseurin arbeiten.“ Ich wollte nicht, dass meine Mutter fremde Menschen anfasste. Magda lachte. „Dann hast du schon deine ersten Patienten. Kurt und ich haben Schultern aus Eisen. Vom Halten unserer Blindenstöcke sind wir vollkommen verspannt.“

Magda und Kurt begannen, den Tisch abzudecken, sie wollten meiner Mutter etwas zeigen. Ich bot meine Hilfe an, Kurt bat mich, ihnen nicht zu helfen. Wenn sie nicht genau wüssten, wo ich etwas abstellte, sei es für sie viel umständlicher alles wieder zusammenzusuchen. Nachdem der Tisch leergeräumt war, holte Kurt ein buntes Lego-Haus ohne Dach von einem Beistelltisch. Er reichte es meiner Mutter, die ihren Stuhl nach hinten rückte und sich das Haus auf die Oberschenkel legte.

Kurt sagte: „Weißt du denn, dass Magda und ich uns ein blindenfreundliches Eigenheim bauen? Wir haben mit Legosteinen vorgebaut.“ Magda und Kurt griffen ins Haus, betasteten und beschrieben einzelne Räume. Plötzlich presste Magda die Hand von Kurt weg und nahm drei Finger meiner Mutter. Erst führte sie ihren Mittelfinger im Wohnzimmer herum. Dann steckte sie den Zeigefinger durch die Tür zum Flur und drückte den kleinen Finger gegen die angelehnte Esszimmertür. Was war ein blindenfreundliches Zuhause? Ich fragte: „Gibt es in eurem Haus dann keine Lichtschalter?“ So stünden sie nicht vor dem Rätsel, ob das Licht brennt oder nicht, ob es aus- oder eingeschaltet werden muss. Magda lachte laut. „Nein, schließlich sollen sich auch Sehende darin zurechtfinden. Du sollst uns auch besuchen kommen. Wir haben uns vor allem gewünscht, in einem Flachbau ohne Treppen zu leben.“ Kurt erzählte, wie Magda vorletzten Winter drei vereiste Stufen vor der Haustür hinuntergerutscht war und sich die Beine aufgeschlagen hatte. Mit blutigen Knien und aufgerissenen Seidenstrümpfen hatte sie auf dem Glatteis liegend laut gelacht und gerufen: „Was bin ich für ein blindes Huhn!“ Meine Mutter, Magda und Kurt lachten, Kurt nahm meiner Mutter das Lego-Haus ab und stellte es auf den Beistelltisch. Ein Teil der Wohnzimmerwand war ausgebrochen. Ich kroch auf dem wolligen Fußboden herum, fand die Mauerreste neben dem Schuh meiner Mutter und steckte sie auf die abgebrochene Wand.

Die Sonne ging unter, Kurt stand auf. Es fing langsam an, dämmerig zu werden. Er steuerte auf den Lichtschalter zu, betätigte ihn jedoch nicht und ging zum Plattenspieler. Meine Mutter hatte wegen des Lichts nichts gesagt, ich fragte nicht nach. Kurt setzte den Arm des Plattenspielers auf den Rand einer Schallplatte. Ein Vogel sang, unterschiedlichste Vogelstimmen ertönten, wir saßen im dunklen Wald. Meine Mutter schwieg, Magda und Kurt nannten, sobald das Gezwitscher sich veränderte, abwechselnd Vogelnamen: Fink, Spatz, Star, Zeisig, Meise, Schwalbe, Amsel, Drossel, Kuckuck und Nachtigall.

Kurt flüsterte:

„Wir hören gerade Magdas Lieblingsplatte.“ Meine Mutter lachte.
„Ich sehe den Wald vor lauter Vögeln nicht.“

Magda und Kurt sagten nichts, meine Mutter fing mit hoher Stimme zu singen an.

„Auf einem Baum ein Kuckuck, sim sa-la-dim bam-ba sa-la du sa-la-dim, auf einem Baum ein Kuckuck saß. Da kam ein junger Jägers-, sim sa-la-dim bam-ba sa-la du sa-la-dim, da kam ein junger Jägersmann.“

Ich sah mich im Wohnzimmer um, betrachtete die Wände und zählte, wie viele Segelboote in den zwei gerahmten Bildern schwammen.

„Der schoss den armen Kuckuck, sim sa-la-dim bam-ba sa-la du sa-la-dim, der schoss den armen Kuckuck tot.“

Magda wandte sich mir zu und öffnete kurz ihre Augen. Vielleicht hatte ich nicht richtig gesehen, Magdas Augen waren weiß. Hastig zählte ich, wie viele Häkeldeckchen über dem Sofa, den Sesseln und Fensterbänken lagen. Meine Mutter hatte aufgehört zu singen, Kurt sang weiter.

„Und als ein Jahr vergangen, sim sa-la-dim bam-ba sa-la du sa-la-dim, und als ein Jahr vergangen war, da war der Kuckuck wieder, sim sa-la-dim bam-ba sa-la du sa-la-dim, da war der Kuckuck wieder da.“

Ein erwachsener Mann stand plötzlich im Zimmer. Er machte das Licht an und begrüßte Magda und Kurt. Kurt sagte: „Ich habe dich nicht kommen hören.“ Magda lachte. „Du hast ohrenbetäubend laut gesungen.“ Der Mann mit kurzem Haaren und kleiner Nase lebte in dieser Wohnung. Roman war ihr Sohn, er würde den Fleck meiner Mutter auf der Tischdecke entdecken und vor allem ihre fehlenden Wimpern. Magda drückte einen Knopf ihrer Armbanduhr, der Glasdeckel sprang auf und sie betastete das Zifferblatt. Sie fragte meine Mutter: „Was für eine Blindenuhr hast du?“ Meine Mutter antwortete: „Ich komme noch sehr gut mit meiner normalen Armbanduhr zurecht. Das Zifferblatt ist fettgedruckter als das einer Bahnhofsuhr.“ Kurt sagte: „Wir wissen nicht wie Bahnhofsuhren aussehen. Wir …“ Magda unterbrach ihn und drehte sich in meine Richtung: „Willst du mal eine Blindenuhr anfassen?“ Ich fühlte kleine Erhebungen. Wie konnte ein Finger die Zeit ertasten? Die Pünktchen waren kleiner als Stecknadelköpfe, Blinde mussten feinfühlig sein. Magda lächelte. „Die böse Uhr raubt uns die liebsten Gäste.“ Sie fragte: „Soll Roman euch nach Hause fahren?“ Meine Mutter dankte und sagte: „Ich laufe gern ein paar Meter und Louise wird mich durch die Nacht führen.“

Der blinde Fleck, Braumüller Literaturverlag Wien, 2011, Seite 116-127

Der blinde Fleck – Romanbeginn – Leseprobe 1

Auf einmal stand meine Mutter in ihrem orangeroten Cape vor der Kirche. Sie hatte mich noch nie von der Schule abgeholt, sie war mir noch nie auf dem Weg nach Hause entgegen gekommen. In der schiefen, grauen Kirche hatte mein Vater zu Weihnachten betrunken „Teufel, Teufel“ geschrien, und sie hatte leise und doch laut „pst, pst“ gezischt. Mein Vater war Katholik, meine Mutter Protestantin. Beide glaubten an nichts, sagten sie. Die Kirche quoll vor Menschen über, ich schämte mich nicht, als alle sich nach uns umdrehten. Ich sah auf den unebenen Steinboden und versuchte die Kacheln zu zählen, sie waren unzählbar. Wir kannten sowieso niemanden, außer den Ärzten meiner Mutter, außer meinen Lehrern.

Hüpfend rannte ich auf meine Mutter zu. Sie trug ihre schwarze Sonnenbrille, die Sonne schien nicht, die Feuchtigkeit der Luft hatte ihr rotes, schulterlanges Haar gewellt. Sie setzte die Brille ab, ihr linkes Auge war blutunterlaufen und fast geschlossen, ihre linke Wange angeschwollen, als sei sie gestürzt.
„Wir gehen nach Deutschland!“
„Wann?“
„Jetzt!“
Sie nahm meine Hand, ich merkte, dass die Hand zitterte, wusste aber nicht, ob es die meiner Mutter oder meine war. Die Wege der französischen Kleinstadt, in der wir lebten, verliefen uneben, der Regen der letzten Wochen hatte sich in Schlaglöchern gesammelt. Ich achtete darauf, dass meine Mutter nicht in schlammige Pfützen trat und führte sie nach Hause. Wir gingen immer Hand in Hand, wir waren zwei und doch eins. Sah ich eine Bordsteinkante nahen, verlangsamte ich meinen Schritt und sie ihren, ich blieb eine Fußlänge vor der Kante stehen und sie auch. Wir brauchten nicht miteinander zu sprechen, unser Zeichen reichte. Indem ich kurz ihre Hand drückte, wusste sie, dass eine Stufe kommen würde. Mit mir stolperte sie nie, sie konnte schon nicht mehr gut sehen und meine Augen sahen für sie.

Meine Mutter schloss zum letzten Mal die Haustür auf.
„Wir nehmen nur die allerwichtigsten Sachen mit!“
Hastig stopften wir einen alten Koffer und eine gelbe Reisetasche voll, hektisch versteckten wir Tafelsilber und Silberkannen in einer runden Waschpulverpackung im Keller. Mein Vater konnte jederzeit zurückkommen oder erst in drei Wochen. Schnell warf ich meine Spielsachen in einen himmelblauen Müllsack, alles, was wir in der Eile nicht mitnehmen konnten, sollte später abgeholt werden. Ich durfte nur das einpacken, was ich selbst tragen konnte. Das dicke Buch, in dem ich nachts immer mit einer Taschenlampe las, war zu schwer. Ich wollte meine Mutter nicht fragen, ob sie es in ihren Koffer geben könnte, so suchte ich die schönste Seite, riss sie vorsichtig heraus, faltete sie zweimal zusammen und steckte sie in meine Manteltasche. Mein Hund durfte nicht mit, der Großvater in Deutschland, zu dem wir reisen würden, war Arzt und hielt Tiere für unhygienisch. Jeden Abend schlief der Hund am Fußende meines Bettes auf der rotgrün karierten Decke. Wenn mein Vater nicht deprimiert war, trug er ihn wie ein Hirte sein Lamm auf den Schultern und sprach mit ihm in der Sprache der Schafe. Ich hatte keine Freunde, keine Geschwister, aber diesen schwarzweiß gefleckten Hund. Zum Weinen blieb keine Zeit.

Wir standen vor der Haustür. Aus dem Garten kam uns der Hund entgegen gelaufen, er sprang an mir hoch, ich kraulte ihm den Nacken. Meine Mutter steckte gerade den Schlüssel ins Schloss, als ich unter ihren Arm kroch und mich durch den Türspalt quetschte. Ich lief durch den Flur in die Küche, der Hund rannte mir hinterher, sie rief ihn zu sich und er gehorchte. Ich hörte ihre Stimme.
„Louise!“
Ich riss den Eisschrank auf, zog das unterste, braune Plastikfach heraus und schob alle Essensreste, die in den einzelnen Fächern standen, hinein.
„Louise!“
„Ich beeile mich.“
Ich öffnete die Tür zur Terrasse, schraubte drei Gläser auf, schüttete Oliven, Sardellen und Essiggürkchen auf den Betonboden, leerte den Inhalt einer offenen Maisbüchse, warf eine Wurst, ein paar Scheiben rosigen Schinken und einen verwelkten Salatkopf daneben. Meine Mutter schrie erneut. Aus zwei Töpfen schaufelte ich mit den Fingern hellrote und grüngelbe Marmelade, ich schlug die Glastür der Terrasse zu und wusch mir die Hände. Der Eisschrank stand noch offen, im Weglaufen knallte ich ihn zu. Außer Atem kam ich zu meiner Mutter zurück, sie schimpfte, der Hund bellte. Sie schüttelte den Kopf, zog die Haustür zu und griff nach dem Koffer. Wir liefen zum weißen Gartenzaun und schlossen das Lattentor hinter uns. Der Hund steckte seinen Kopf durch das Loch für den Ölschlauch. Er wedelte mit dem Schwanz und sah uns nach, plötzlich hörte er auf zu bellen.

Wir trugen das schwere Gepäck zum Zahnarzt des Ortes. Meine Mutter hatte sich mit ihm und seiner jugoslawischen Frau angefreundet. Mein Vater sagte immer wieder, er sei ein Schlachter, von ihm ließe er sich nicht einmal einen Zahn ziehen. Er trank lieber Pastis gegen den Schmerz bis er verschwand. Der Zahnarzt nahm meine Mutter in die Arme und ging mit ihr ins Behandlungszimmer. Die Praxis war leer, ich wartete sehr lange im Wartezimmer. Ich betrachtete die Lampen, die wie Tropfen von der Decke hingen. Mein Vater hatte dem Zahnarzt diese Lampenschirme aus gräulichem Kunststoff verkauft, bevor seine Firma in Konkurs ging, und er arbeitslos wurde. An Kunststoff glaubte er nie, sagte er, sobald man eine Glühbirne einschraubte, die stärker als 40 Watt war, schmolz er. In seiner gesamten Kunstoffkarriere konnte mein Vater nur zwei Verkaufserfolge verbuchen. Immer wieder erinnerte er sich – und insbesondere meine Mutter – daran, dass seine Lampen noch heute tschechische Speisewagons und polnische Hotelzimmer beleuchten würden. An manchen Tagen entgegnete meine Mutter ihm nur, „Du und deine Plastikfunzeln!“ Um besser sehen zu können, hatte sie überall im Haus die stärksten Glühbirnen eingeschraubt, die es zu kaufen gab. Der Kunststoff tropfte auf den Boden. Irgendwann kam meine Mutter aus dem Behandlungszimmer wieder heraus und erklärte: „Ich habe ein letztes Mal meine Zähne zeigen wollen.“ Wir übernachteten in der Wohnung des Zahnarztes. Seine Frau, die eine Perserkatze und Fettpflanzen liebte, bezog unsere Betten im Gästezimmer. Die Bettwäsche roch nach ihrem pudrigen Parfum, und ich fiel in einen tiefen Schlaf.

Die „Lieblingspatientin“ des Großvaters holte uns mit dem Auto ab, der Wagen und ihre Haut glänzten. Sie sprach mit zittriger Stimme zu meiner Mutter in deutscher Sprache. Wenn ein Windstoß kam, blieb ihr hellblondes Haar unverändert auf dem Kopf liegen. Zweimal wies sie darauf hin, ich müsse mich mit dem „Sicherheitsgurt“ anschnallen. So lange sie das Einrasten der metallenen Schnalle nicht hörte, blickte sie immer wieder in den Rückspiegel. Auf der Fahrt bestand die Lieblingspatientin darauf, mir ein Spiel beizubringen, sie lachte.

„Das Kind wird abgelenkt, und wir tun etwas für unsere grauen Zellen!“

Meine Mutter stimmte sofort zu.

„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe hinein.“
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe und einen Rock hinein.“
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe, einen Rock und ein Buch hinein.“
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe und einen Rock und ein Buch und ein Reisebügeleisen hinein.“
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe und einen Rock und ein Buch und ein Reisebügeleisen und eine Zahnbürste hinein.“

Ich war wieder an der Reihe.

„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe und einen Rock und ein Buch und ein Reisebügeleisen und eine Zahnbürste und ein Plüschtier hinein.“
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe und einen Rock und ein Buch und ein Reisebügeleisen und eine Zahnbürste und ein Plüschtier und eine Reservezahnbürste hinein.“
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe und einen Rock und ein Buch und ein Reisebügeleisen und eine Zahnbürste und ein Plüschtier und eine Reservezahnbürste und einen Schuhlöffel hinein.“

Ich war schon wieder an der Reihe.

„Ich packe meinen Koffer und lege meinen Hund hinein.“
„Sei kein Spielverderber!“ riefen die Lieblingspatientin und meine Mutter im Chor.

Ich wollte mir nichts mehr merken und sagte nichts mehr, meine Mutter und die Lieblingspatientin zählten sich bis zur Grenze gegenseitig Gegenstände auf: Schuhcreme, Handbürsten, Waschlappen, Reserveschuhcreme, Reservehandbürsten, Reservewaschlappen. Als wir uns der Grenze näherten, beendeten sie das Spiel. Meine Mutter betonte mehrmals, ein Grenzübertritt mit mir sei keine Kindesentführung, auch wenn sie noch nicht die richtigen Papiere zusammen hätte.

Vor Monaten waren meine Mutter und ich zum Rechtsanwalt in die nächste Stadt gefahren. Während der Busfahrt wiederholte sie ständig: „Das ist ein Geheimnis, das nur wir haben! Du darfst keinem verraten, zu wem wir gehen!“ In einer dunkelbraunen Kanzlei sprach ein Zigarre rauchender Mann über Sätze und Gesetze. Meine Mutter hielt ihm ihren blauen, aufgeschlagenen Pass hin, mit seiner freien Hand deutete er unter ihr Passfoto, ich klebte da. Danach schickten sie mich hinaus, schlossen die gepolsterte Tür und ich sah im holzgetäfelten Vorzimmer der Sekretärin beim Tippen zu. Auf der Rückfahrt schwieg meine Mutter.

Wir blieben in der ersten deutschen Stadt nach der Grenze. Ich hörte weitere Worte, die ich nicht kannte, meine Mutter musste „Behördengänge“ erledigen. Sie versuchte, mich in einem Kinderheim abzugeben. Die Erzieher wollten mich nicht dabehalten, meine Mutter schlug vor, ihren Pass als Pfand zu lassen. Dennoch befürchteten sie, meine Mutter wolle mich aussetzen, sie entschuldigten sich, sie könnten mich leider nicht aufnehmen. So verbrachte ich den Tag in der Großküche des Hotels, in dem wir übernachteten, und wartete, dass meine Mutter zurückkehrte. Auf blauen Flammen brodelten Metalltöpfe. Die Essensreste hatte mein Hund sicher längst gefressen. Wann würde mein Vater nach Hause kommen? Die Köche mit hohen, weißen Mützen gaben mir eine Orangenlimonade, die ‚Blume’ oder ‚Bluma’ hieß, zu trinken. Sie blieben häufig neben mir stehen, redeten mit mir und lächelten mich an, auch wenn ich ihre Sprache nicht gut verstand. Ich durfte von jedem Topf probieren. Wenn ich auf einen Topf zeigte, nahm ein rotgesichtiger Koch den Deckel hoch und füllte mir etwas Dampfendes in eine kleine Schüssel: Kartoffelklöße, Kartoffelpuffer, Kartoffelsuppe. Buchstabensuppe, die kannte ich, es war das gleiche Alphabet. Ich verbrannte mir die Zunge. Abends konnte ich nicht einschlafen, ich hatte zu viel gegessen, und meine Mutter war mit der Lieblingspatientin spät zurückgekommen.

Die Großmutter stand in der Einfahrt ihres Hauses, in der Luft lag der Geruch von Keksen, sie streckte mir die Arme entgegen.

„In Deutschland wirst du es besser haben!“

Sie spitzte den Mund, den eine Schicht rosigcremiger Lippenstift überzog, ich drehte den Kopf weg. Dicke Nähte eines Büstenhalters zeichneten sich durch eine Seidenbluse auf ihrem eckigen Busen ab. Sie rief in die offene Haustür hinein, in der der Großvater meine Mutter in den Armen hielt:

„Was hat denn dieses Kind?“

Der Großvater trug einen weißen Kittel. Als ich neben ihm stand, beugte er sich hinunter und strich mir mit seiner warmen Hand über den Rücken, er lächelte und nickte.

„Aller Anfang ist schwer.“

Dann verschwand er. Die Großmutter sah meine Mutter an.

„Nimm endlich deine Sonnenbrille ab. Man muss sich doch gerade in die Augen sehen können.“

Meine Mutter setzte ihre Brille ab, die Großmutter hielt den Atem an.

„Oh Gott! Was hat er mit dir gemacht!“

Ein dunkelblauer Fleck umrandete inzwischen das linke Auge meiner Mutter, geplatzte Äderchen durchzogen das Weiß des Augapfels. Die Großmutter wandte schnell ihren Blick ab.

„Setz die Brille bitte wieder auf!“

Zwei Frauen in rosa Kitteln näherten sich der Großmutter, die gerade auf unser Gepäck zeigte.

„Das sind Inge und Frau Biermann! Unsere Haushaltshilfe und unsere Putzfrau!“

Inge griff nach der gelben Reisetasche, Frau Biermann nach dem alten Koffer. Die Großmutter öffnete eine Tür, schob mich in ein Zimmer und zeigte auf Menschen, die auf roten und schwarzen Stühlen um einen Tisch voller abgegriffener Zeitschriften saßen.

 „Das sind unsere Patienten. Sag guten Tag.“

 Ich sagte nichts und starrte auf den stachligen, stahlblauen Teppichboden.

„Das ist unser Enkelkind!“

Die Großmutter lächelte kurz, zog mich aus dem Zimmer und der abgestandenen Luft wieder heraus. Sie machte leise die Tür hinter sich zu und zog fest an meinem Arm.

„Du musst freundlich zu den Leuten sein. Schließlich sind das unsere Patienten!“

Sie schritt durch einen hohen, langen Flur mit kirschrotem Teppichboden und sonnengelber Blumentapete, so große Blüten gab es in keinem Garten. Meine Mutter und ich, Frau Biermann und Inge gingen der Großmutter hinterher. Mit einem Schlüsselbund, an dem viele Schlüssel hingen, schloss die Großmutter erst eine Tür mit Milchglasscheibe, dann eine weißlackierte Holztür auf. Wir standen zu fünft in einem hellen Raum, dem Wohnzimmer, an das ein dunkles, weiteres Zimmer grenzte. Im Wohnzimmer öffnete die Großmutter einen breiten, leeren Kleiderschrank und zählte die Bügel nach, Holz und Metall stießen aneinander.

Ich fragte sie:

„Wie alt bist du eigentlich?“

Die Großmutter drehte sich um.

„Nach dem Alter fragt man nicht!“

Sie gab Frau Biermann und Inge ein Zeichen, dass sie gehen konnten. Abwesend blickte meine Mutter auf eine rosa Couch und rosa Sessel. Die Großmutter ging ins andere Zimmer und zog ratternde Holzrollos hoch. Zwei gleich große Eichenbetten standen nebeneinander, die nur ein Nachttisch trennte. Schneeweiße, durchscheinende Gardinen verhingen große Glasflächen, unter ihnen spiegelten sich meterlange, schwarze Marmorfensterbänke, die leer standen. Auf der gegenüberliegenden Seite glänzte ein kleines Waschbecken, an metallenen Handtuchhaltern hingen frische Handtücher wie im Hotel.

Die Großmutter streckte ihren Zeigefinger in die Luft.

„Das ist dein neues Zuhause! Hörst du!“

Sie strich mit dem anderen über die Fensterbänke.

„Sicher wollt ihr euch erst einmal frisch machen! Nachher gibt es Kaffee und Kuchen.“

Die Großmutter verschwand, meine Mutter fing an, Koffer und Reisetasche auszupacken. Ich saß auf einem der Eichenbetten und blickte durch die Gardine in den Garten. Eine Teppichstange stand dort, es hing keine Schaukel an ihr, der Rasen war kurz geschnitten, der Himmel weder blau noch grau. Meine Mutter ließ mich aussuchen, in welchem Bett ich schlafen wollte. Das an der Wand sollte meines sein. Aus der Manteltasche holte ich meine herausgerissene Buchseite, die Reise hatte sie zerknittert. Ich strich sie glatt und legte sie zwischen Matratze und Bettkante.

„Wie lange bleiben wir hier?“
„Eine Zeit.“
„Was ist eine Zeit?“
„Ich weiß es nicht.“

Woher sollte ich wissen, was eine Zeit ist, wenn selbst meine Mutter es nicht wusste.

Der blinde Fleck, Braumüller Literaturverlag Wien, 2011, Seite 5-15

Romananfang Seite 5-15

Der blinde Fleck – Radiosendung -Hörprobe

Radiokulturhaus ORF Ö1 Beispiele
9. September 2011 (17 Min.)
„Der blinde Fleck“ von Christine Velan
Redaktion: Edith-Ulla Gasser
Auszug gelesen von Daniela Golpashin

Der blinde Fleck – Inhalt

Von einem Tag auf den anderen muss Louise ihre gewohnte Umgebung in Frankreich verlassen. Mit ihrer unter einer Augenkrankheit leidenden Mutter geht sie nach Deutschland. Das fremde Land, die neue Sprache und die Rituale des großbürgerlichen, blitzblank aseptischen Arzthaushaltes der deutschen Großeltern werfen das entwurzelte Kind zurück auf ihre einzige Bezugsperson, die Mutter. Deren langsame Erblindung begreifen die Großeltern vor allem als gesellschaftlichen Makel. Im gleichen Maß wie die Erwachsene ihre Sehkraft und Handlungsfreiheit verliert, muss das Kind für sie sehen. Das Abhängigkeitsverhältnis der beiden verdichtet sich zunehmend, während die Mutter mehr und mehr jegliche Orientierung verliert …

Die erzählende Stimme, Louise, beschreibt die fortschreitende Hilflosigkeit ihrer Mutter und die erstickend beengenden familiären Verhältnisse lakonisch, mit der Leichtigkeit und Unbestechlichkeit des kindlichen Blicks und zugleich mit sezierender Genauigkeit und einer besonderen Vorliebe für Details und Farben. Der Dramatikerin Christine Velan gelingt es, die atmosphärische Dichte ihrer Bühnenwerke in ihrem aufwühlenden Roman Der blinde Fleck gekonnt umzusetzen.

Umschlagtext

Kritiken zum Roman: Pressestimmen

Hier machen andere Urlaub

Lou, eine Wiener Ägyptologin, reist in die Provence, aber nicht, um dort Urlaub zu machen. Bald stellt sich heraus, dass sie zum Begräbnis ihres französischen Vaters, den sie über 25 Jahre nicht gesehen hatte, muss und sich außerdem um seine Verlassenschaft zu kümmern hat. Unerwartet erbt sie sein verwahrlostes Haus mit Wald. Das lichtdurchflutete Idyll mit stets blauem Himmel ist zunehmend von Waldbränden und Wassermangel bedroht. Lou, die nur als Kleinkind in Frankreich, dann im konservativen Familienumfeld in Wien aufgewachsen ist, lernt ihre südfranzösischen Verwandten kennen und durch sie eine andere, chaotischere Lebensweise.

Zur erzählenden, rationalen Stimme von Lou gesellt sich manchmal eine zweite, eher assoziative Stimme, die des verstorbenen Vaters, einem ehemaligen Vertreter für Lampen und Aschenbecher aus Plastik, der einst vermeintlichen Materie der Zukunft. Der spätere Ziegenhirte und Waldarbeiter hatte als Trinker eine bürgerliche Existenz längst hinter sich gelassen.

Das Aufräumen des vermüllten Ortes und die Sanierung des Hauses mithilfe ihres Freundes Anders wird unvermutet zu einer Begegnung mit dem verlorenen Vater, dessen Bild sich Stück für Stück aus ergänzenden und widersprüchlichen Teilen zusammensetzt. Zugleich ist es auch eine Selbstverortung. Plötzlich steht Lou vor der Frage: Fortsetzung der prekären wissenschaftlichen Karriere in Wien oder trotz der Gefahren durch den Klimawandel im anderen Land ein unbestimmter Neubeginn?