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Der blinde Fleck – Auszug der Radiosendung – Leseprobe 2

Meine Mutter verletzte sich täglich. Die Ecken und Kanten der neuen Wohnung waren ihr noch nicht vertraut, oft stieß sie sich an scharfen Schreib- und Küchentischkanten, an spitzen Schuh- und Badezimmerschrankecken, manchmal lief sie gegen offene Türen und Schränke. Auf ihrem Körper zeichneten sich Kratzer, Flecken, Schrammen und Blutergüsse ab, die sie unter ihrer Kleidung versteckte. Aufgeplatzte Wunden im Gesicht, über ihren Schläfen und unter ihren Brauen, blieben für jeden sichtbar. Wenn sie ein blaues Auge hatte, wollte sie nicht aus dem Haus gehen. Sie meinte, sie sähe verprügelt aus. Bis es zu einem unauffälligen Fleck wurde, fragte sie mich oft mehrmals am Tag nach dessen Farbe. Manchmal sagte ich, es habe sich in ein schwaches Hellgelb verwandelt, wenn es noch ein kräftiges Gelbgrün war. Ich log nicht sehr gerne, aber es erleichterte meine Mutter. Sie gewöhnte sich daran, sich Arme und Beine aufzuschlagen, auf ihren Oberschenkeln hatte sie immer ein oder zwei blaue Flecken in Tischhöhe. Meine Mutter behauptete, sie habe fast kein Schmerzempfinden mehr. Ein Mal bemerkte sie ihre Verletzung erst an der Wärme des fließenden Blutes, ein anderes Mal entdeckte ich, dass ihre Haarsträhnen rotbraun verkrustet waren. Sie versuchte sich zu erinnern, wo und wann sie sich besonders wehgetan haben konnte. Die weißen Alpenveilchen hatte sie unter dem Wohnzimmerfenster gegossen und auf den Boden gefallene, vertrocknete Blütenblätter aufgesammelt. Aus der Hocke sich aufrichtend schlug sie mit ihrem Kopf gegen die gekachelte Fensterbank, dort musste sie sich eine blutende Wunde geschlagen haben, die beim Trocknen ihre Haare verklebt hatte.

Ich führte meine Mutter durch unsere Wohnung wie durch eine fremde Stadt. In jedem Zimmer sah ich mich um, griff nach ihrer rechten Hand und ließ sie mit ihren Fingerspitzen alle Ecken und Kanten langsam abtasten. Ich beschrieb ihr den Abstand jeder möglichen Gefahr zu den Wänden, Türen und Schwellen, nach denen sie sich richtete. Sie musste sich jedes Hindernis einprägen, um sich im Raum, den ihr die abgestellten Möbel gelassen hatten, bewegen zu können. Meine Mutter und ich gingen alle Gänge der Wohnung ab: gerade Wege, enge Umwege, einfache Sackgassen und verschachtelte Abkürzungen zwischen Tischen, Stühlen, Betten und Schränken. Sie zählte die Schritte von der Türschwelle bis zum Schaukelstuhl, vom Schaukelstuhl bis zum Schreibtischstuhl und vom Schreibtisch bis zur Fensterbank. Oft wurde sie ungeduldig, ich blieb ruhig, denn fast alles war für meine Mutter gefährlich: das robuste Waschbecken im Bad, die klobigen Türklinken und selbst die schweren Hängelampen. In den neuen Zimmern versuchte ich zu ihrem vorangehenden Schatten zu werden, ich wollte sie beschützen. Oft sagte sie streng: „Lass mich das bitte alleine machen!“ oder „Ich kann es selbst!“ Damit sie sich nicht unselbständig fühlte, blieb ich nur hinter ihr stehen und beobachtete sie unauffällig. Wenn ich fast sicher war, dass sie sich bald verletzen würde, griff ich im letzten Moment ein. Manchmal war es zu spät.

Der Großvater besuchte uns nach einer „Herzkranzgefäßverengung“ und vor einer „Magenverstimmung“. Er schob uns zwischen seinen Patienten ein, um auch bei uns „nach dem Rechten“ zu sehen. Als er meine Mutter zur Begrüßung auf die Wangen küsste, entdeckte er eine Verletzung. Er nahm ihren Kopf behutsam in die Hände, führte sie zur nächsten Lichtquelle, schob einige ihrer Haarsträhnen zur Seite und betrachtete sie unter der Flurlampe. Der Großvater untersuchte eine Wunde auf der Kopfhaut, die ich übersehen, und die meine Mutter mir verschwiegen hatte.

„Mein Kind! Eigentlich hätte es genäht werden müssen. Du hast noch einmal einen Schutzengel gehabt. Wann ist es passiert?“
„Vor drei Tagen.“
„Sonst alles in Ordnung? Herz? Stuhl?“
„Ja, ja.“
„Eher fester? Eher breiig?“
„Normal.“

Der Großvater schob erst den rechten Ärmel ihrer Bluse und dann die linke Manschette seines Hemdes hoch. Er hielt mit Daumen und Zeigefinger ihr Handgelenk, sah auf seine goldene Armbanduhr und verfolgte deren Sekundenzeiger. Nach einigen Atemzügen brach er sein Schweigen.

„Puls völlig unbedenklich.“

Er strich meiner Mutter einmal über die linke Kopfhälfte, griff in seine Manteltasche und überreichte ihr ein Geschenk. Aus dem gestreiften Papier wickelte sie einen Bogen aus Messing und bat mich einen Hammer zu holen. Der Großvater schlug einen Nagel in die schiefe Flurwand.

„Glück, Glück! Wer will sagen, wer du bist und wo du bist! Fontane.“

Der Großvater machte eine Pause, er sah mich ruhig und eindringlich an, ich hörte nur noch seinen Atem und das Ticken seiner Uhr. Plötzlich rüttelte er am Nagel, um nachzuprüfen, ob dieser fest in der Wand steckte. Er nickte und hängte den Messingbogen als umgekehrtes U daran auf. „Das ist ein Glücksbringer“, sagte er und verabschiedete sich.

„Meine Patienten rufen.“

Meine Mutter stand in der Küche und zerkleinerte Lauch mit einem scharfen Messer. Sie brauchte einen besseren Schutzengel, ich musste seine Arbeit übernehmen. Wenn sie kochte, konnte ich die Gefahr nicht einschätzen. Würde sie in der nächsten Sekunde Lauch oder ihren Finger schneiden? Sie schnitt sich eine Fingerkuppe der linken Hand an, sofort schoss Blut aus der Wunde, es spritzte über das Weiß vom Gemüse auf das Holzbrett. Meine Mutter hielt ihren Finger unter fließend kaltes Wasser.

„Die Kälte verengt die Kapillargefäße. So kann man eine Wunde stillen.“
„Was für Gefäße?“
„Haargefäße.“

Ich verstand nichts und lief in ihr Schlafzimmer. Um das Apothekerschränkchen öffnen zu können, stieg ich auf einen Stuhl. Ich suchte nach einem Pflaster, im unteren Fach der Innenseite der Tür fand ich es. Als ich in die Küche zurückkam, hielt meine Mutter ihren Zeigefinger senkrecht in die Luft. Er war rot. Sie bat mich, einen Meter Toilettenpapier zu holen, damit umwickelte sie den Finger. Ich wischte mit Spülmittel das blutbefleckte Gemüse und Holzbrett ab. Das rosa Toilettenpapier verfärbte sich rot. Nach einiger Zeit floss kein Blut mehr aus dem Finger, meine Mutter streckte ihn mir entgegen und ich umklebte die Schnittstelle mit dem Pflaster. Sie lachte: „Jetzt habe ich mir auch noch ins eigene Fleisch geschnitten.“ Ich wusste nicht, was daran so komisch sein sollte. Sie fragte: „Ist Blut auf das Gemüse gekommen?“ Ich sagte: „Nein.“ Mit den gespreizten Fingern ihrer linken Hand hielt sie die Lauchstange, die sie mit der rechten Hand weiter schnitt. Der Porreeauflauf schmeckte wie immer, meine Mutter kochte ihn nie wieder. Wenn sie sich beim Zubereiten eines Essens stark verletzte, hatte sie keine Lust, es nochmals zu kochen, als hätte gerade dieses Gericht ihr Unglück gebracht. Immer häufiger aßen wir wässrige Tütensuppen und aufgetaute Tiefkühlpizzen.

Meine Mutter schob Bœuf Stroganow als Fertiggericht in den vorgeheizten Ofen. Die blauen Flammen gingen aus, sie kniete sich vor den Herd und versuchte ihn mehrmals wieder anzuzünden, es gelang ihr nicht. Ich bot meine Hilfe an, sie antwortetet nur: „Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht.“ Immer wieder hielt sie ein brennendes Streichholz in das Loch, aus dem das Gas treten sollte, nichts geschah. Plötzlich stach eine riesige Flamme aus dem Ofen. Es zischte. Schreiend wich meine Mutter mit ihrem Oberkörper nach hinten und schlug sich mit den Händen gegen die Stirn und auf die Augen. Sie richtete sich auf. Sie tastete nach einem Küchenstuhl, zog ihn zu sich heran und setzte sich. Ein eigenartiger Geruch breitete sich aus. Sie zitterte, als sei ihr sehr kalt. Wo lange Wimpern am Rande ihrer Augenlider und dichte Härchen im Bogen über ihren Augen angeordnet gewesen waren, hingen winzige, verkohlte Kügelchen. Meine Mutter glich einem Fisch, sie hatte keine Augenbrauen und Wimpern mehr. Ich strich über ihre Wange, sie lächelte ein wenig. An die kürzeren Stirnfransen konnte ich mich gewöhnen, an ihr nacktes Gesicht nicht. Wie lange würde es dauern, bis sie wieder wie ein Mensch aussah? Wuchsen Wimpern überhaupt nach? Ich griff nach ihrer Hand und streichelte ihre Finger, die Härchen auf ihren Händen und Unterarmen waren auch angesengt. Meine Mutter wiederholte ständig: „Was für ein Glück, dass ich heute Baumwolle trage. Sonst wäre ich verbrannt.“ Paulinchen war allein zu Haus, es brennt die Hand, es brennt das Haar, es brennt das ganze Kind sogar. „Sonst hätte die Synthetikkleidung mich in Plastik eingeschmolzen.“ Verbrannt ist alles ganz und gar, das arme Kind mit Haut und Haar, ein Häufchen Asche blieb allein. „Der geerbte Gasherd ist lebensgefährlich. Ich will eines Tages auf einen Elektroherd sparen. Ein solcher ist „blindenfreundlicher.“ Zum ersten Mal hörte ich sie dieses Wort benutzen.

Ich ging zum himmelblauen Müllsack, den meine Mutter aus Frankreich mitgebracht und in den Kleiderschrank gestellt hatte. Ich durchwühlte ihn und zog meine Puppe heraus, die Batterie war leer, sie konnte nicht weinen. Mit einer Nagelschere schnitt ich ihr die Wimpern ab, ich legte die Puppe in den Müllsack zurück und verknotete ihn fest.

Meine Mutter und ich standen in einem glänzenden Treppenhaus. Sie nahm das violette Seidenpapier vom Blumenstrauß, den sie in der Hand hielt und knüllte es zu einem Ball, den sie in ihre Schultertasche steckte. Sie nickte, ich drückte auf eine Klingel, unter deren Namensschild ein Streifen voller abtastbarer Punkte klebte. Die Tür öffnete sich, Magda betrat die Fußmatte, Kurt blieb hinter ihr im Flur. Beide hatten die Augen geschlossen. Sie waren die ersten blinden Bekannten meiner Mutter, Magda und Kurt würden nicht sehen können, dass meiner Mutter Augenbrauen und Wimpern fehlten. Magda strich sich über den Rock, der steife Taftstoff raschelte. Sie lachte aufgedreht und bat uns hineinzukommen. Meine Mutter überreichte die Blumen und sagte: „Das sind bunte Tulpen.“ Magda dankte überschwänglich und ging in die Küche. Sie öffnete einen Schrank, fand tastend eine Vase, steckte den Zeigefinger ins Innere des Gefäßes und ließ Wasser einlaufen. Als das Wasser ihren Finger berührte, drehte sie den Hahn ab und stellte die Blumen hinein. Sie fragte nach deren Farben, ich zählte die Farbtöne auf. Dieser Strauß war das falsche Geschenk, Magda konnte ihn weder sehen, noch riechen, Tulpen rochen nach nichts. Sie bat uns „in die gute Stube“ und sagte: „Kurt hat den Tisch gedeckt, während ich den Kuchen gebacken habe.“ Nichts fehlte auf der grobgewebten Tischdecke: Sahne, Kuchen, Kuchenheber, Kuchenteller, Kuchengabeln, Tassen, Untertassen, Kaffeelöffel, Kaffeesahne, Kaffeewärmer, Zuckerstückchen und zu Dreiecken gefaltete Servietten. Jeder einzelne Gegenstand war einem anderen genauestens zugeordnet, Kurt musste sich lange damit beschäftigt haben. Meine Mutter näherte sich dem Tisch und stieß gegen ein Tischbein, die Kaffeesahne schwappte aus dem Kännchen und machte einen Fleck auf der Decke. Ich sollte Magda und Kurt darauf aufmerksam machen, ich sagte nichts, ich wollte meine Mutter nicht verraten. Magda nahm mit ihrer einen Hand die Kaffeekanne, den Zeigefinger ihrer anderen Hand führte sie knapp unter den oberen Rand der Tasse. Bevor der dampfende Kaffee ihren Finger berührte, hörte sie auf, einzuschenken. Kurt stand auf, holte für mich ein Glas und eine Flasche Ananassaft aus der Küche und goss ein, auch er benutzte seinen Zeigefinger. Ich fragte: „Wie habt ihr den Kuchen in zwölf gleiche Stücke schneiden können?“ Magda lachte: „Ich habe eine Kuchenschneidehilfe.“ Als meine Mutter den Geschmack des Apfelkuchens lobte, erklärte Magda: „Das ist ein Fertigkuchen.“ Für den Teig musste man nur ein Ei, Milch und Butter ins Pulver geben, für die Apfelfüllung nur heißes Wasser auf die trockenen Fruchtstücke gießen. Magda lachte und sagte: „Dieser blindenfreundlichen Erfindung wegen verdient der Hersteller einen Preis.“

Meine Mutter, Magda und Kurt unterhielten sich über Blindenberufe. Magda und Kurt hörten von morgens bis abends Stimmen, sie arbeiteten für die Stadtverwaltung als Telefonisten. Sie lächelten. „Es ist, als ob wir stundenlang Menschen sehen.“ Meine Mutter sagte: „Wenn ich ganz blind sein werde, würde ich lieber einen anderen Beruf ausüben.“ Kurt antwortete: „Wenn du nicht gerade Körbe flechten oder Bürsten herstellen willst, ist die Auswahl nicht übermäßig groß.“ Meine Mutter entgegnete: „Früher habe ich Sport unterrichtet, jetzt beginne ich als Gymnastiklehrerin und später werde ich vielleicht als Masseurin arbeiten.“ Ich wollte nicht, dass meine Mutter fremde Menschen anfasste. Magda lachte. „Dann hast du schon deine ersten Patienten. Kurt und ich haben Schultern aus Eisen. Vom Halten unserer Blindenstöcke sind wir vollkommen verspannt.“

Magda und Kurt begannen, den Tisch abzudecken, sie wollten meiner Mutter etwas zeigen. Ich bot meine Hilfe an, Kurt bat mich, ihnen nicht zu helfen. Wenn sie nicht genau wüssten, wo ich etwas abstellte, sei es für sie viel umständlicher alles wieder zusammenzusuchen. Nachdem der Tisch leergeräumt war, holte Kurt ein buntes Lego-Haus ohne Dach von einem Beistelltisch. Er reichte es meiner Mutter, die ihren Stuhl nach hinten rückte und sich das Haus auf die Oberschenkel legte.

Kurt sagte: „Weißt du denn, dass Magda und ich uns ein blindenfreundliches Eigenheim bauen? Wir haben mit Legosteinen vorgebaut.“ Magda und Kurt griffen ins Haus, betasteten und beschrieben einzelne Räume. Plötzlich presste Magda die Hand von Kurt weg und nahm drei Finger meiner Mutter. Erst führte sie ihren Mittelfinger im Wohnzimmer herum. Dann steckte sie den Zeigefinger durch die Tür zum Flur und drückte den kleinen Finger gegen die angelehnte Esszimmertür. Was war ein blindenfreundliches Zuhause? Ich fragte: „Gibt es in eurem Haus dann keine Lichtschalter?“ So stünden sie nicht vor dem Rätsel, ob das Licht brennt oder nicht, ob es aus- oder eingeschaltet werden muss. Magda lachte laut. „Nein, schließlich sollen sich auch Sehende darin zurechtfinden. Du sollst uns auch besuchen kommen. Wir haben uns vor allem gewünscht, in einem Flachbau ohne Treppen zu leben.“ Kurt erzählte, wie Magda vorletzten Winter drei vereiste Stufen vor der Haustür hinuntergerutscht war und sich die Beine aufgeschlagen hatte. Mit blutigen Knien und aufgerissenen Seidenstrümpfen hatte sie auf dem Glatteis liegend laut gelacht und gerufen: „Was bin ich für ein blindes Huhn!“ Meine Mutter, Magda und Kurt lachten, Kurt nahm meiner Mutter das Lego-Haus ab und stellte es auf den Beistelltisch. Ein Teil der Wohnzimmerwand war ausgebrochen. Ich kroch auf dem wolligen Fußboden herum, fand die Mauerreste neben dem Schuh meiner Mutter und steckte sie auf die abgebrochene Wand.

Die Sonne ging unter, Kurt stand auf. Es fing langsam an, dämmerig zu werden. Er steuerte auf den Lichtschalter zu, betätigte ihn jedoch nicht und ging zum Plattenspieler. Meine Mutter hatte wegen des Lichts nichts gesagt, ich fragte nicht nach. Kurt setzte den Arm des Plattenspielers auf den Rand einer Schallplatte. Ein Vogel sang, unterschiedlichste Vogelstimmen ertönten, wir saßen im dunklen Wald. Meine Mutter schwieg, Magda und Kurt nannten, sobald das Gezwitscher sich veränderte, abwechselnd Vogelnamen: Fink, Spatz, Star, Zeisig, Meise, Schwalbe, Amsel, Drossel, Kuckuck und Nachtigall.

Kurt flüsterte:

„Wir hören gerade Magdas Lieblingsplatte.“ Meine Mutter lachte.
„Ich sehe den Wald vor lauter Vögeln nicht.“

Magda und Kurt sagten nichts, meine Mutter fing mit hoher Stimme zu singen an.

„Auf einem Baum ein Kuckuck, sim sa-la-dim bam-ba sa-la du sa-la-dim, auf einem Baum ein Kuckuck saß. Da kam ein junger Jägers-, sim sa-la-dim bam-ba sa-la du sa-la-dim, da kam ein junger Jägersmann.“

Ich sah mich im Wohnzimmer um, betrachtete die Wände und zählte, wie viele Segelboote in den zwei gerahmten Bildern schwammen.

„Der schoss den armen Kuckuck, sim sa-la-dim bam-ba sa-la du sa-la-dim, der schoss den armen Kuckuck tot.“

Magda wandte sich mir zu und öffnete kurz ihre Augen. Vielleicht hatte ich nicht richtig gesehen, Magdas Augen waren weiß. Hastig zählte ich, wie viele Häkeldeckchen über dem Sofa, den Sesseln und Fensterbänken lagen. Meine Mutter hatte aufgehört zu singen, Kurt sang weiter.

„Und als ein Jahr vergangen, sim sa-la-dim bam-ba sa-la du sa-la-dim, und als ein Jahr vergangen war, da war der Kuckuck wieder, sim sa-la-dim bam-ba sa-la du sa-la-dim, da war der Kuckuck wieder da.“

Ein erwachsener Mann stand plötzlich im Zimmer. Er machte das Licht an und begrüßte Magda und Kurt. Kurt sagte: „Ich habe dich nicht kommen hören.“ Magda lachte. „Du hast ohrenbetäubend laut gesungen.“ Der Mann mit kurzem Haaren und kleiner Nase lebte in dieser Wohnung. Roman war ihr Sohn, er würde den Fleck meiner Mutter auf der Tischdecke entdecken und vor allem ihre fehlenden Wimpern. Magda drückte einen Knopf ihrer Armbanduhr, der Glasdeckel sprang auf und sie betastete das Zifferblatt. Sie fragte meine Mutter: „Was für eine Blindenuhr hast du?“ Meine Mutter antwortete: „Ich komme noch sehr gut mit meiner normalen Armbanduhr zurecht. Das Zifferblatt ist fettgedruckter als das einer Bahnhofsuhr.“ Kurt sagte: „Wir wissen nicht wie Bahnhofsuhren aussehen. Wir …“ Magda unterbrach ihn und drehte sich in meine Richtung: „Willst du mal eine Blindenuhr anfassen?“ Ich fühlte kleine Erhebungen. Wie konnte ein Finger die Zeit ertasten? Die Pünktchen waren kleiner als Stecknadelköpfe, Blinde mussten feinfühlig sein. Magda lächelte. „Die böse Uhr raubt uns die liebsten Gäste.“ Sie fragte: „Soll Roman euch nach Hause fahren?“ Meine Mutter dankte und sagte: „Ich laufe gern ein paar Meter und Louise wird mich durch die Nacht führen.“

Der blinde Fleck, Braumüller Literaturverlag Wien, 2011, Seite 116-127

Der blinde Fleck – Romanbeginn – Leseprobe 1

Auf einmal stand meine Mutter in ihrem orangeroten Cape vor der Kirche. Sie hatte mich noch nie von der Schule abgeholt, sie war mir noch nie auf dem Weg nach Hause entgegen gekommen. In der schiefen, grauen Kirche hatte mein Vater zu Weihnachten betrunken „Teufel, Teufel“ geschrien, und sie hatte leise und doch laut „pst, pst“ gezischt. Mein Vater war Katholik, meine Mutter Protestantin. Beide glaubten an nichts, sagten sie. Die Kirche quoll vor Menschen über, ich schämte mich nicht, als alle sich nach uns umdrehten. Ich sah auf den unebenen Steinboden und versuchte die Kacheln zu zählen, sie waren unzählbar. Wir kannten sowieso niemanden, außer den Ärzten meiner Mutter, außer meinen Lehrern.

Hüpfend rannte ich auf meine Mutter zu. Sie trug ihre schwarze Sonnenbrille, die Sonne schien nicht, die Feuchtigkeit der Luft hatte ihr rotes, schulterlanges Haar gewellt. Sie setzte die Brille ab, ihr linkes Auge war blutunterlaufen und fast geschlossen, ihre linke Wange angeschwollen, als sei sie gestürzt.
„Wir gehen nach Deutschland!“
„Wann?“
„Jetzt!“
Sie nahm meine Hand, ich merkte, dass die Hand zitterte, wusste aber nicht, ob es die meiner Mutter oder meine war. Die Wege der französischen Kleinstadt, in der wir lebten, verliefen uneben, der Regen der letzten Wochen hatte sich in Schlaglöchern gesammelt. Ich achtete darauf, dass meine Mutter nicht in schlammige Pfützen trat und führte sie nach Hause. Wir gingen immer Hand in Hand, wir waren zwei und doch eins. Sah ich eine Bordsteinkante nahen, verlangsamte ich meinen Schritt und sie ihren, ich blieb eine Fußlänge vor der Kante stehen und sie auch. Wir brauchten nicht miteinander zu sprechen, unser Zeichen reichte. Indem ich kurz ihre Hand drückte, wusste sie, dass eine Stufe kommen würde. Mit mir stolperte sie nie, sie konnte schon nicht mehr gut sehen und meine Augen sahen für sie.

Meine Mutter schloss zum letzten Mal die Haustür auf.
„Wir nehmen nur die allerwichtigsten Sachen mit!“
Hastig stopften wir einen alten Koffer und eine gelbe Reisetasche voll, hektisch versteckten wir Tafelsilber und Silberkannen in einer runden Waschpulverpackung im Keller. Mein Vater konnte jederzeit zurückkommen oder erst in drei Wochen. Schnell warf ich meine Spielsachen in einen himmelblauen Müllsack, alles, was wir in der Eile nicht mitnehmen konnten, sollte später abgeholt werden. Ich durfte nur das einpacken, was ich selbst tragen konnte. Das dicke Buch, in dem ich nachts immer mit einer Taschenlampe las, war zu schwer. Ich wollte meine Mutter nicht fragen, ob sie es in ihren Koffer geben könnte, so suchte ich die schönste Seite, riss sie vorsichtig heraus, faltete sie zweimal zusammen und steckte sie in meine Manteltasche. Mein Hund durfte nicht mit, der Großvater in Deutschland, zu dem wir reisen würden, war Arzt und hielt Tiere für unhygienisch. Jeden Abend schlief der Hund am Fußende meines Bettes auf der rotgrün karierten Decke. Wenn mein Vater nicht deprimiert war, trug er ihn wie ein Hirte sein Lamm auf den Schultern und sprach mit ihm in der Sprache der Schafe. Ich hatte keine Freunde, keine Geschwister, aber diesen schwarzweiß gefleckten Hund. Zum Weinen blieb keine Zeit.

Wir standen vor der Haustür. Aus dem Garten kam uns der Hund entgegen gelaufen, er sprang an mir hoch, ich kraulte ihm den Nacken. Meine Mutter steckte gerade den Schlüssel ins Schloss, als ich unter ihren Arm kroch und mich durch den Türspalt quetschte. Ich lief durch den Flur in die Küche, der Hund rannte mir hinterher, sie rief ihn zu sich und er gehorchte. Ich hörte ihre Stimme.
„Louise!“
Ich riss den Eisschrank auf, zog das unterste, braune Plastikfach heraus und schob alle Essensreste, die in den einzelnen Fächern standen, hinein.
„Louise!“
„Ich beeile mich.“
Ich öffnete die Tür zur Terrasse, schraubte drei Gläser auf, schüttete Oliven, Sardellen und Essiggürkchen auf den Betonboden, leerte den Inhalt einer offenen Maisbüchse, warf eine Wurst, ein paar Scheiben rosigen Schinken und einen verwelkten Salatkopf daneben. Meine Mutter schrie erneut. Aus zwei Töpfen schaufelte ich mit den Fingern hellrote und grüngelbe Marmelade, ich schlug die Glastür der Terrasse zu und wusch mir die Hände. Der Eisschrank stand noch offen, im Weglaufen knallte ich ihn zu. Außer Atem kam ich zu meiner Mutter zurück, sie schimpfte, der Hund bellte. Sie schüttelte den Kopf, zog die Haustür zu und griff nach dem Koffer. Wir liefen zum weißen Gartenzaun und schlossen das Lattentor hinter uns. Der Hund steckte seinen Kopf durch das Loch für den Ölschlauch. Er wedelte mit dem Schwanz und sah uns nach, plötzlich hörte er auf zu bellen.

Wir trugen das schwere Gepäck zum Zahnarzt des Ortes. Meine Mutter hatte sich mit ihm und seiner jugoslawischen Frau angefreundet. Mein Vater sagte immer wieder, er sei ein Schlachter, von ihm ließe er sich nicht einmal einen Zahn ziehen. Er trank lieber Pastis gegen den Schmerz bis er verschwand. Der Zahnarzt nahm meine Mutter in die Arme und ging mit ihr ins Behandlungszimmer. Die Praxis war leer, ich wartete sehr lange im Wartezimmer. Ich betrachtete die Lampen, die wie Tropfen von der Decke hingen. Mein Vater hatte dem Zahnarzt diese Lampenschirme aus gräulichem Kunststoff verkauft, bevor seine Firma in Konkurs ging, und er arbeitslos wurde. An Kunststoff glaubte er nie, sagte er, sobald man eine Glühbirne einschraubte, die stärker als 40 Watt war, schmolz er. In seiner gesamten Kunstoffkarriere konnte mein Vater nur zwei Verkaufserfolge verbuchen. Immer wieder erinnerte er sich – und insbesondere meine Mutter – daran, dass seine Lampen noch heute tschechische Speisewagons und polnische Hotelzimmer beleuchten würden. An manchen Tagen entgegnete meine Mutter ihm nur, „Du und deine Plastikfunzeln!“ Um besser sehen zu können, hatte sie überall im Haus die stärksten Glühbirnen eingeschraubt, die es zu kaufen gab. Der Kunststoff tropfte auf den Boden. Irgendwann kam meine Mutter aus dem Behandlungszimmer wieder heraus und erklärte: „Ich habe ein letztes Mal meine Zähne zeigen wollen.“ Wir übernachteten in der Wohnung des Zahnarztes. Seine Frau, die eine Perserkatze und Fettpflanzen liebte, bezog unsere Betten im Gästezimmer. Die Bettwäsche roch nach ihrem pudrigen Parfum, und ich fiel in einen tiefen Schlaf.

Die „Lieblingspatientin“ des Großvaters holte uns mit dem Auto ab, der Wagen und ihre Haut glänzten. Sie sprach mit zittriger Stimme zu meiner Mutter in deutscher Sprache. Wenn ein Windstoß kam, blieb ihr hellblondes Haar unverändert auf dem Kopf liegen. Zweimal wies sie darauf hin, ich müsse mich mit dem „Sicherheitsgurt“ anschnallen. So lange sie das Einrasten der metallenen Schnalle nicht hörte, blickte sie immer wieder in den Rückspiegel. Auf der Fahrt bestand die Lieblingspatientin darauf, mir ein Spiel beizubringen, sie lachte.

„Das Kind wird abgelenkt, und wir tun etwas für unsere grauen Zellen!“

Meine Mutter stimmte sofort zu.

„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe hinein.“
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe und einen Rock hinein.“
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe, einen Rock und ein Buch hinein.“
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe und einen Rock und ein Buch und ein Reisebügeleisen hinein.“
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe und einen Rock und ein Buch und ein Reisebügeleisen und eine Zahnbürste hinein.“

Ich war wieder an der Reihe.

„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe und einen Rock und ein Buch und ein Reisebügeleisen und eine Zahnbürste und ein Plüschtier hinein.“
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe und einen Rock und ein Buch und ein Reisebügeleisen und eine Zahnbürste und ein Plüschtier und eine Reservezahnbürste hinein.“
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe und einen Rock und ein Buch und ein Reisebügeleisen und eine Zahnbürste und ein Plüschtier und eine Reservezahnbürste und einen Schuhlöffel hinein.“

Ich war schon wieder an der Reihe.

„Ich packe meinen Koffer und lege meinen Hund hinein.“
„Sei kein Spielverderber!“ riefen die Lieblingspatientin und meine Mutter im Chor.

Ich wollte mir nichts mehr merken und sagte nichts mehr, meine Mutter und die Lieblingspatientin zählten sich bis zur Grenze gegenseitig Gegenstände auf: Schuhcreme, Handbürsten, Waschlappen, Reserveschuhcreme, Reservehandbürsten, Reservewaschlappen. Als wir uns der Grenze näherten, beendeten sie das Spiel. Meine Mutter betonte mehrmals, ein Grenzübertritt mit mir sei keine Kindesentführung, auch wenn sie noch nicht die richtigen Papiere zusammen hätte.

Vor Monaten waren meine Mutter und ich zum Rechtsanwalt in die nächste Stadt gefahren. Während der Busfahrt wiederholte sie ständig: „Das ist ein Geheimnis, das nur wir haben! Du darfst keinem verraten, zu wem wir gehen!“ In einer dunkelbraunen Kanzlei sprach ein Zigarre rauchender Mann über Sätze und Gesetze. Meine Mutter hielt ihm ihren blauen, aufgeschlagenen Pass hin, mit seiner freien Hand deutete er unter ihr Passfoto, ich klebte da. Danach schickten sie mich hinaus, schlossen die gepolsterte Tür und ich sah im holzgetäfelten Vorzimmer der Sekretärin beim Tippen zu. Auf der Rückfahrt schwieg meine Mutter.

Wir blieben in der ersten deutschen Stadt nach der Grenze. Ich hörte weitere Worte, die ich nicht kannte, meine Mutter musste „Behördengänge“ erledigen. Sie versuchte, mich in einem Kinderheim abzugeben. Die Erzieher wollten mich nicht dabehalten, meine Mutter schlug vor, ihren Pass als Pfand zu lassen. Dennoch befürchteten sie, meine Mutter wolle mich aussetzen, sie entschuldigten sich, sie könnten mich leider nicht aufnehmen. So verbrachte ich den Tag in der Großküche des Hotels, in dem wir übernachteten, und wartete, dass meine Mutter zurückkehrte. Auf blauen Flammen brodelten Metalltöpfe. Die Essensreste hatte mein Hund sicher längst gefressen. Wann würde mein Vater nach Hause kommen? Die Köche mit hohen, weißen Mützen gaben mir eine Orangenlimonade, die ‚Blume’ oder ‚Bluma’ hieß, zu trinken. Sie blieben häufig neben mir stehen, redeten mit mir und lächelten mich an, auch wenn ich ihre Sprache nicht gut verstand. Ich durfte von jedem Topf probieren. Wenn ich auf einen Topf zeigte, nahm ein rotgesichtiger Koch den Deckel hoch und füllte mir etwas Dampfendes in eine kleine Schüssel: Kartoffelklöße, Kartoffelpuffer, Kartoffelsuppe. Buchstabensuppe, die kannte ich, es war das gleiche Alphabet. Ich verbrannte mir die Zunge. Abends konnte ich nicht einschlafen, ich hatte zu viel gegessen, und meine Mutter war mit der Lieblingspatientin spät zurückgekommen.

Die Großmutter stand in der Einfahrt ihres Hauses, in der Luft lag der Geruch von Keksen, sie streckte mir die Arme entgegen.

„In Deutschland wirst du es besser haben!“

Sie spitzte den Mund, den eine Schicht rosigcremiger Lippenstift überzog, ich drehte den Kopf weg. Dicke Nähte eines Büstenhalters zeichneten sich durch eine Seidenbluse auf ihrem eckigen Busen ab. Sie rief in die offene Haustür hinein, in der der Großvater meine Mutter in den Armen hielt:

„Was hat denn dieses Kind?“

Der Großvater trug einen weißen Kittel. Als ich neben ihm stand, beugte er sich hinunter und strich mir mit seiner warmen Hand über den Rücken, er lächelte und nickte.

„Aller Anfang ist schwer.“

Dann verschwand er. Die Großmutter sah meine Mutter an.

„Nimm endlich deine Sonnenbrille ab. Man muss sich doch gerade in die Augen sehen können.“

Meine Mutter setzte ihre Brille ab, die Großmutter hielt den Atem an.

„Oh Gott! Was hat er mit dir gemacht!“

Ein dunkelblauer Fleck umrandete inzwischen das linke Auge meiner Mutter, geplatzte Äderchen durchzogen das Weiß des Augapfels. Die Großmutter wandte schnell ihren Blick ab.

„Setz die Brille bitte wieder auf!“

Zwei Frauen in rosa Kitteln näherten sich der Großmutter, die gerade auf unser Gepäck zeigte.

„Das sind Inge und Frau Biermann! Unsere Haushaltshilfe und unsere Putzfrau!“

Inge griff nach der gelben Reisetasche, Frau Biermann nach dem alten Koffer. Die Großmutter öffnete eine Tür, schob mich in ein Zimmer und zeigte auf Menschen, die auf roten und schwarzen Stühlen um einen Tisch voller abgegriffener Zeitschriften saßen.

 „Das sind unsere Patienten. Sag guten Tag.“

 Ich sagte nichts und starrte auf den stachligen, stahlblauen Teppichboden.

„Das ist unser Enkelkind!“

Die Großmutter lächelte kurz, zog mich aus dem Zimmer und der abgestandenen Luft wieder heraus. Sie machte leise die Tür hinter sich zu und zog fest an meinem Arm.

„Du musst freundlich zu den Leuten sein. Schließlich sind das unsere Patienten!“

Sie schritt durch einen hohen, langen Flur mit kirschrotem Teppichboden und sonnengelber Blumentapete, so große Blüten gab es in keinem Garten. Meine Mutter und ich, Frau Biermann und Inge gingen der Großmutter hinterher. Mit einem Schlüsselbund, an dem viele Schlüssel hingen, schloss die Großmutter erst eine Tür mit Milchglasscheibe, dann eine weißlackierte Holztür auf. Wir standen zu fünft in einem hellen Raum, dem Wohnzimmer, an das ein dunkles, weiteres Zimmer grenzte. Im Wohnzimmer öffnete die Großmutter einen breiten, leeren Kleiderschrank und zählte die Bügel nach, Holz und Metall stießen aneinander.

Ich fragte sie:

„Wie alt bist du eigentlich?“

Die Großmutter drehte sich um.

„Nach dem Alter fragt man nicht!“

Sie gab Frau Biermann und Inge ein Zeichen, dass sie gehen konnten. Abwesend blickte meine Mutter auf eine rosa Couch und rosa Sessel. Die Großmutter ging ins andere Zimmer und zog ratternde Holzrollos hoch. Zwei gleich große Eichenbetten standen nebeneinander, die nur ein Nachttisch trennte. Schneeweiße, durchscheinende Gardinen verhingen große Glasflächen, unter ihnen spiegelten sich meterlange, schwarze Marmorfensterbänke, die leer standen. Auf der gegenüberliegenden Seite glänzte ein kleines Waschbecken, an metallenen Handtuchhaltern hingen frische Handtücher wie im Hotel.

Die Großmutter streckte ihren Zeigefinger in die Luft.

„Das ist dein neues Zuhause! Hörst du!“

Sie strich mit dem anderen über die Fensterbänke.

„Sicher wollt ihr euch erst einmal frisch machen! Nachher gibt es Kaffee und Kuchen.“

Die Großmutter verschwand, meine Mutter fing an, Koffer und Reisetasche auszupacken. Ich saß auf einem der Eichenbetten und blickte durch die Gardine in den Garten. Eine Teppichstange stand dort, es hing keine Schaukel an ihr, der Rasen war kurz geschnitten, der Himmel weder blau noch grau. Meine Mutter ließ mich aussuchen, in welchem Bett ich schlafen wollte. Das an der Wand sollte meines sein. Aus der Manteltasche holte ich meine herausgerissene Buchseite, die Reise hatte sie zerknittert. Ich strich sie glatt und legte sie zwischen Matratze und Bettkante.

„Wie lange bleiben wir hier?“
„Eine Zeit.“
„Was ist eine Zeit?“
„Ich weiß es nicht.“

Woher sollte ich wissen, was eine Zeit ist, wenn selbst meine Mutter es nicht wusste.

Der blinde Fleck, Braumüller Literaturverlag Wien, 2011, Seite 5-15

Romananfang Seite 5-15

Das Gesicht der Stradivari – Porträt – Berliner Zeitung

Im Pariser achten Arrondissement fanden Isaac Stern, Yehudi Menuhin und David Oistrach einen diskreten Geigenbauer, der ihnen den Ton ihrer Träume erfüllte: Etienne Vatelot

Als Holzwürmer sich durch ein Stradivari-Cello der Berliner Philharmoniker gefressen hatten, brachte man es zu Etienne Vatelot nach Paris. Das Instrument blieb zweieinhalb Jahre lang in seiner Werkstatt. Monsieur Vatelot erinnert sich genau an den Arbeitsvorgang vor zwei, drei Jahrzehnten. « Das Cello musste vollkommen auseinander genommen werden. Und je mehr wir es auseinander nahmen, desto mehr scheußliche Dinge mussten wir entdecken. » Ganze Galerien an Würmern und Spuren vorangegangener schlechter Restaurierungen kamen zu Tage. Millimeter um Millimeter ist das Instrument dann in Vatelots Werkstatt wieder zusammengebaut worden. « Natürlich kann man die Arbeitsstunden nicht zählen », sagt Vatelot. « Den Preis, den wir zu Beginn festgesetzt hatten, überschritten wir um mindestens das Doppelte. Aber wir wollten zeigen, dass man ein eigentlich schon abgeschriebenes Instrument retten konnte. » Die renommierte Werkstatt von Etienne Vatelot hat im achten Arrondissement ihren Sitz, in einer jener Straßen von Paris, wo die meisten Geigenbauer der Stadt angesiedelt sind. Das von seinem Vater Marcel 1909 begründete Geschäft erstreckt sich über zwei Etagen. Mit hellgrauen Holzvertäfelungen, dunkelroten Teppichen und für die französische Hauptstadt charakteristischen bis zur Decke reichenden Spiegeln über Kaminaufsätzen gleicht es eher einer bürgerlichen Wohnung. In jeder Ecke stehen Streichinstrumente: Geigen, die Kunden zum Verkauf deponiert haben. Sie hängen mit kleinen, weißen Schildern versehen zweireihig an Eisenstangen. Geigen, die für eine Auktion geschätzt werden sollen, liegen nummeriert aneinander gelehnt auf dem Boden. Und unzählige Celli stehen in ihren sperrigen, teilweise möbelartigen Instrumentenkästen herum. Sie halbieren auch die Breite eines ohnehin schon schmalen Flures, der zur eigentlichen Werkstatt mit weiteren Geigen und Celli führt. Im Vorzimmer bleibt Monsieur Vatelot vor einem der vielen Porträts stehen. Geiger und Geigenvirtuosen bedanken sich mit Widmungen für seine Arbeit und nicht selten auch für seine Freundschaft – unter ihnen Isaac Stern, Yehudi Menuhin und David Oistrach. Vatelot beugt sich zu einer statuenhaften Aufnahme von Menuhin. « Ist er nicht schön? Das war 1961. » Der berühmte Geiger bekundet seinen Dank – ohne den teuren Freund sei der Ton seiner Träume unerfüllt geblieben. Menuhin wies mit der ihm eigenen Höflichkeit häufig darauf hin, er spiele zwar Geige, aber er würde nie behaupten, er verstünde sie so, wie Etienne sie verstünde. Oistrach verglich die Arbeit Vatelots an seiner Geige einmal mit einer Herzoperation. Er bescheinigte dem Freund, er sei mehr als ein Arzt, er sei ein Musiker. Monsieur Vatelot sagt, er habe sich natürlich immer gefreut, wenn ihm der Bau, die Stimmung oder die Restaurierung einer Geige gut gelungen seien. Aber eigentlich sei das zweitrangig. Ihm hätten die Beziehungen zu den Musikern mehr bedeutet. Es habe ihm stets große Freude bereitet, wenn Musiker zwischendurch vorbeigekommen seien, um ihm guten Tag zu sagen. « Im Grunde war das Atelier eine Art Beichtstuhl », sagt der 75-Jährige. Denn hatte ein Geiger Schwierigkeiten beim Spielen, musste das nicht zwangsläufig an seinem Instrument liegen. Manchmal durchlebte er eine depressive Phase, hatte Probleme mit der Gesundheit oder in seinen Gefühlsbeziehungen. Monsieur Vatelot will die Geheimnisse nicht preisgeben, die er im Laufe der Jahre erfahren hat. Dann erinnert er sich aber, dass einst ein berühmter Geiger die Aufnahmen für eine Platte abgebrochen habe, weil sein Instrument, wie er sagte, so merkwürdig vibriere. Der Produzent des Künstlers sei besorgt zu ihm in die Werkstatt gekommen und habe ihn gebeten, sich die Geige anzuschauen. Die registrierte Musik klänge gar nicht gut. Vatelot überprüfte die Geige und antwortete, das sei alles keineswegs verwunderlich. Er bat darum, das Instrument über Nacht in der Werkstatt behalten zu dürfen. Am nächsten Morgen gab er dem Musiker die Geige zurück und fragte: « Was hältst du jetzt davon? » Der Musiker war begeistert. Ihm gelangen nun großartige Aufnahmen, die Musikgeschichte schrieben. Vatelot sagt: « Ich hatte die Geige nicht angerührt. Sie war in einem außergewöhnlich guten Zustand. » Was er tat, nennt Vatelot keine Lüge. Den Namen des Künstlers verrät er nicht, er bleibt diskret. « Mein Vater und ich konnten uns sehr gut anlügen », sagt Etienne Vatelot. Kurz vor dessen Tod habe er ihn, wie jeden Abend, vom Atelier ein Stück begleitet. Marcel Vatelot sei mehrfach stehen geblieben und habe gesagt: « Merkwürdig, in der Straße weht viel mehr Wind als sonst. » Der Sohn verstand, dass der Vater Schwierigkeiten mit der Atmung haben müsste. Am folgenden Tag brachte er ihn bis zur Haustür. Als sein Vater wissen wollte, warum er nun den ganzen Weg mitgegangen wäre, antwortete er, ihm würde zu zweit die Zeit schneller vergehen. « So hatte jeder den anderen aus einer Art Scheu angelogen. » Mit vergleichbarer Zurückhaltung hatte sich der Vater bei der Berufsentscheidung des Sohnes verhalten. Ursprünglich wollte Etienne Schauspieler oder Flugzeugpilot werden. « Da ich nicht wusste, wie die Arbeit meines Vaters aussieht, schlug er mir vor, zwei, drei Wochen ,mal vorbeizukommen . » Etienne war sechzehn Jahre alt. Damals setzte er zum ersten Mal seinen Fuß ins Atelier – bis auf die Lehrzeit in den holzreichen Vogesen und ein Praktikum in Amerika hat er es seitdem nicht mehr verlassen. In Mirecourt, dem traditionellen Ort des Geigenbaus in Frankreich, ging er durch eine harte Schule. Einmal zerbrach sein Meister mit dem Knie eine schlechte Arbeit von ihm und warf sie vor seinen Augen ins Feuer. « Es war grauenhaft », erzählt Vatelot, « aber ich habe nie bereut, auf diese Weise zu lernen, was gute Arbeit ist. » Als der Sohn das väterliche Geschäft längst übernommen hatte, kam Marcel Vatelot auch weiterhin vorbei. « Ohne Geigen zu sehen, konnte er nicht leben », sagt Etienne Vatelot. Der Vater habe sich bei seinen Besuchen still auf einen Stuhl im Büro gesetzt. Kam bei diesen Gelegenheiten gerade ein « schwieriger » Kunde ins Geschäft, bot er an, sich um ihn zu kümmern. « Nie hatte ich Streit mit ihm », beschreibt Etienne Vatelot das Verhältnis zu seinem Vater. Die gegenseitige Achtung habe auch ihre 28-jährige Zusammenarbeit geprägt. Viele Geigen und Bratschen haben sie gemeinsam gebaut. Der Vater gab dem Sohn weiter, was er konnte und wusste. Die Formel seines Geigenlacks jedoch wollte er ihm nicht nennen. Etienne Vatelot fragte den Vater immer wieder, welche Ingredienzen er in welchem Verhältnis verwenden würde. Doch dieser antwortete nicht. Stets zog sich der Vater für etwa eine Woche aufs Land zurück, wenn er den Lack zubereitete. Mit dem fertigen Ergebnis kehrte er in die Werkstatt zurück. Nicht zufällig ist der geheimnisvolle Lack von Stradivari von Mythen umgeben, hängt doch der Klang einer Geige – neben der Qualität des Holzes – vom Lack ab. Etienne Vatelot sagt, er habe wohl zu spät bemerkt, dass sein wiederholtes Fragen nach dem Geheimnis des Lackes den Vater traurig stimmte. Eines Tages dann sagte der Vater zu ihm: « Du musst wissen, dass in einer Schublade meines Büros ein Heft liegt, auf dem dein Name geschrieben steht. Und in diesem Heft wirst du, wenn ich nicht mehr da bin, all meine Formeln für den Lack finden. » Heute baut Monsieur Etienne Vatelot zwar keine Geigen mehr – seit einigen Jahren ist Jean-Jacques Rampal sein Nachfolger -, aber die Lackierung der Instrumente liegt noch immer in seinen Händen. Noch immer zeichnet er für alles verantwortlich, was den Klang der Geige bestimmt. Wie bisher wählt er das Holz für die Geigen aus – je länger Ahorn- und Fichtenholz trocknen, desto besser ist es für das Instrument. Da sich der vor fast hundert Jahren gekaufte Holzvorrat seines Vaters inzwischen dem Ende zuneigt, hat nun Etienne für die nächste Generation vorgesorgt. Und um das Kunsthandwerk seiner Zunft zu sichern, hat er schon vor dreißig Jahren in Mirecourt ein Geigenbaustudium ins Leben gerufen. Jeden Tag fertigt Etienne Vatelot zudem mehrere Expertisen von Geigen. Zu ihm kommen Violinisten, die sich vor dem Kauf eines Instruments beraten wollen, aber auch Kunden, die um ein Gutachten für ihre vermeintliche Stradivari bitten. Die meisten muss er enttäuschen, denn es sind nur etwa 450 Geigen von Stradivari erhalten geblieben. Für die Beurteilung der Instrumente gelten ausschließlich visuelle und nicht akustische Kriterien. « Wenn eine Geige schön ist, bestätigt das meistens auch der Klang. » Obwohl seit über einem halben Jahrhundert Geigen durch die Hände von Monsieur Vatelot gehen, kann er manchmal nur Alter oder Ursprungsland nennen. Jedes Mal, so sagt er, sei es geradezu ein Vergnügen, dem « Gesicht der Geige » einen Namen geben zu können. Vatelot öffnet den hinter ihm stehenden Safe und zeigt auf eine im dunklen Innenraum kaum erkennbare Geige. « Eine Stradivari. Sehen Sie, was für eine Farbe! » Er betont, die Wahl der Geige müsse man immer auf den Musiker abstimmen. Er erinnert sich ungern daran, dass er – es war zu Beginn seiner Tätigkeit – einen jungen Geiger nicht daran gehindert hat, eine Stradivari für sich auszuwählen. Der junge Mann, so Vatelot, war sichtbar vom Namen Stradivari geblendet, seine Karriere gab er schon zwei Jahre später auf. Noch heute fühlt sich Monsieur Vatelot mitverantwortlich. « Wenn ich damals älter gewesen wäre, hätte ich darauf bestanden, dass er eine andere Geige wählt. » Später habe er dann von Instrumenten auch entschieden abgeraten. Um sein Gehör zu schulen, ging Mon-sieur Vatelot früher täglich ins Konzert, bis vor kurzem dann drei bis viermal wöchentlich. Es sei eine Art Berufskrankheit, in den ersten fünf Minuten nicht die Musik, sondern nur das Instrument zu hören, sagt er. Er erinnert sich, wie Menuhin nach einem Konzert eine Zugabe spielte und er beim Zuhören dachte, der Geige müsse etwas passiert sein. Die Klangfärbung war plötzlich eine andere als im Konzert. Vatelot schlich sich, früher als verabredet, zu Menuhin in die Kulissen. Als dieser hörte, was Vatelot beunruhigte, brach er in schallendes Gelächter aus. Er hatte in der Eile seine Stradivari, die er auf dem Sofa der Loge abgelegt hatte, mit der Ersatz-Stradivari im Instrumentenkasten verwechselt. Menuhin bezweifelte, dass das Publikum diese Nuance bemerkt haben könnte. Etienne Vatelot selbst war kein Meister auf der Geige. « Ich spielte nur so herum », sagt er. Schon als Geigenschüler galt er als eher unbegabt, und beim jährlichen Abschlussvorspiel erwies er sich als einer der Schlechtesten. « Das war traurig », erinnert er sich, « denn mein Vater gab mir immer eine sehr schöne Geige. Ich war keine gute Werbung für ihn. » Der von ihm wenig geliebte Geigenunterricht vermittelte ihm jedoch die Klangqualitäten des Instrumentes. « Um Geigen zu stimmen, muss man sie spielen können, wenn auch schlecht. » Er macht eine Pause und lächelt. « Ich hatte nicht das Talent, auch nur eine Sonate zu spielen. »

Die dritte Lüge – Porträt – Berliner Zeitung

Exil und Einsamkeit sind die Stoffe der Schriftstellerin Agota Kristof

Agota Kristof verreist nicht gerne. Nur für einen Tag bleibt sie in Paris. Der Gesprächsort, den sie wählt, gleicht eher einer Bahnhofshalle – zwischen Eingangstür und Rezeption des Hotels, in dem sie zu früh geweckt wurde. Blau gekleidete Arbeiter, die morgens den Baulärm gemacht haben müssen, essen laut im Hintergrund. Fragt man Agota Kristof, warum sie ungern auf Reisen geht, antwortet sie, sie wüsste es nicht. « Ich verlasse selten das Haus. Nur um Einkäufe zu machen oder um von Zeit zu Zeit Freunde zu treffen. » In ihrer Wohnung in Neuchâtel fühlt sich die gebürtige Ungarin zu Hause. Das habe nichts mit der Schweiz zu tun, es könne genauso gut in Paris oder Ungarn sein. Exil, Einsamkeit und Entwurzelung sind die Themenkreise der Schriftstellerin. Nachdem der ungarische Aufstand 1956 von den Russen niedergeschlagen worden war, verließen Agota Kristof und ihr damaliger Mann, so wie zweihunderttausend andere Landsleute, die Heimat. « Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit, aber nach dem Krieg war es furchtbar. Wir lebten in einer wirklich unglaublichen Armut. » Die Russen exportierten alles, was es in Ungarn zu essen und zu trinken gab. Im Alter von 21 Jahren floh Agota Kristof mit einem Wörterbuch, Windeln und Fläschchen über die ungarisch-österreichische Grenze – zu Fuß durch die Wälder. « Ich trug mein viermonatiges Baby im Arm », erinnert sie sich, « ich konnte nicht laufen, nur schnell gehen. » Die Frage, ob die Flucht so gewesen sei, wie Kristof sie in ihren Büchern beschreibt, bejaht sie zunächst, unterbricht sich dann und sagt « non, non ». Denn in ihren Romanen kommt nur der über den Todesstreifen, der einen Ahnungslosen vor sich hergehen und statt seiner selbst auf eine Mine treten lässt. Agota Kristof half jemand, der schon anderen zur Flucht verholfen hatte. Sie gaben ihm alles ungarische Geld, das sie noch besaßen. Dieser Mann habe sicher nicht schlecht verdient, sagt Agota Kristof. Nachts überquerten sie eine Brücke, Schüsse fielen. Sie legten sich auf den Boden, um von den Russen nicht gesehen zu werden. « Es war gefährlich », sagt sie. Agota Kristof schreibt es dem Zufall zu, in welches Land sie gekommen ist. Es hätte auch Deutschland, England oder Amerika sein können. Österreich war von Menschen schon überfüllt, die Botschaft händigte ihnen ein Schweizer Einreisevisum aus. Ein Sonderzug brachte die ungarischen Flüchtlinge in die französische Schweiz, wo Agota Kristof in einer Uhrenfabrik zu arbeiten begann. « Um fünf Uhr morgens aufstehen, aus dem Haus gehen, die Straße entlang laufen, um den Bus zu erwischen, vierzig Minuten Fahrt, die Ankunft im vierten Dorf, zwischen den Mauern der Fabrik. Schnell den grauen Kittel anziehen, im Gedränge die Karte in die Stechuhr schieben, zur Maschine eilen, sie in Gang setzen, so schnell wie möglich ein Loch stanzen, stanzen, stanzen, immer das gleiche Loch in das gleiche Stück, möglichst zehntausend Mal am Tag, denn von diesem Tempo hängt unser Lohn, unser Leben ab. » So schildert Agota Kristof im Roman « Gestern » den fünf Jahre lang erlebten Fabrikalltag. Wie andere Arbeiter nahm sie ein weißes Pulver, das die Nerven beruhigte und den Apotheker des Ortes bereicherte. Der Direktion war es bekannt, sie ließ in der Fabrikhalle Musik einspielen. « Damit wir nach dem Rhythmus besser arbeiteten. » Über jeden Arbeiter gab es Aufzeichnungen. Als Eric Bergkraut seinen Dokumentarfilm, « Der Kontinent K. » über die Schriftstellerin drehte, suchte sie die Uhrenfabrik nach Jahren wieder auf. Sie bekam Einsicht in ihre Akte. « Sie haben sie noch immer, nichts Besonderes stand drin. » Agota Kristof hat sich auch als Verkäuferin Geld verdient. Doch sie zog die Fabrikarbeit vor, bei der monotonen Tätigkeit konnte sie träumen und nachdenken. Inzwischen hat sie sich an die Schweiz und das Essen, dem es an Schärfe fehlt, gewöhnt. Manchmal stellt die 65-Jährige staunend fest, wie « dermaßen schweizerisch » ihre drei erwachsenen Kinder geworden sind. Da sie auch Freunde hat, fühlt sie sich nicht mehr wirklich als Ausländerin. Mit ihrem Schweizer Pass reist Agota Kristof seit 1968 mindestens einmal im Jahr nach Ungarn. Die Sprache des fremden Landes lernte sie sehr langsam. « In der Fabrik konnten wir nicht miteinander sprechen, so habe ich in den Jahren nichts gelernt. » Mit Flüchtlingen aus Ungarn unterhielt sie sich weiter in der Muttersprache. Im Nachhinein scheinen die jahrelangen Sprachschwierigkeiten geradezu unvorstellbar, denn Agota Kristof hat ihre mittlerweile mit Literaturpreisen ausgezeichneten Romane alle in Französisch geschrieben. Eigentlich habe sie durch die Schulaufgaben ihrer Kinder am meisten gelernt, sagt sie. Als sie schon zwölf Jahre im Exil lebte, begann sie « aus Spaß » eigene ungarische Gedichte zu übersetzen und kurze Texte in Französisch zu verfassen. « Da Kinder, Nachbarn und Eltern nur Französisch sprachen und ich den Tag französisch erlebte, wäre es merkwürdig gewesen, weiter Ungarisch zu schreiben. » In den siebziger Jahren entstehen erste Theaterstücke: « Der Schlüssel zum Fahrstuhl » (1977), « Eine Ratte die vorbeikommt » (1972-1984), « Die graue Stunde oder der letzte Kunde » (1975-1984). « John und Joe » (1972) findet vor allem in Deutschland und Japan großen Anklang. Ihre Gedichte möchte sie heute nicht veröffentlicht wissen, denn sie « mag sie überhaupt nicht », auch wenn sie das Schreiben im Alter von vierzehn Jahren mit Versen begann. Der Vater – ein Volksschullehrer -, der jüngere Bruder Attila und sie saßen zu dritt in einem Zimmer, und jeder schrieb. Attila Kristof ist heute Schriftsteller in Ungarn. « Er beschreibt dieselben Menschen wie ich, aber ganz anders, sehr blumig und mit langen Sätzen », sagt Agota Kristof über den Bruder. In ihrem ersten Roman (1986) fand sie zu ihrem minimalistischen Stil. « Das große Heft » schildert in nüchterner Sprache die Kindheit eines Zwillingspaares, das in einem vom Krieg zerstörten Land überleben lernt: es bettelt, stiehlt, schlachtet und tötet. « Auch wenn mein Buch nicht autobiografisch ist, bin ich darin vollkommen enthalten. » In den unzertrennlichen Zwillingen spiegelt sich Agota Kristofs Beziehung zu ihrem zwei Jahre älteren Bruder Jeno wieder. Von klein auf war sie in ihn verliebt und hat die durch ihre Flucht bedingte Trennung von ihm nie verwunden. « Es war sehr schmerzhaft, das zu schreiben », erinnert sie sich. Vergeblich habe sie versucht, wirklich Erlebtes niederzuschreiben, sie fing mit « wahren Sätzen » an und setzte doch mit « Lügen » fort. Aus dem Bemühen heraus, sich der Wahrheit zu stellen, folgten auf « Das große Heft » in einer ebenso abgründigen Poetik zwei weitere Romane. « Der Beweis » (1988) beschreibt den Lebenskampf eines der fünfzehnjährigen Zwillinge, den sein geflohener Zwillingsbruder in einem totalitären Staat allein zurückgelassen hat. In « Die dritte Lüge » (1991) kehrt jener Zwilling, der das Land verlassen hatte, nach Jahrzehnten in die Heimat zurück, um seinen Bruder und seine Identität zu finden. Diese drei Romane bilden eine parabelartige Trilogie über Krieg, Tod, Verbrechen und sexuelle Perversion. Thomas Vinterberg, dänischer Regisseur, der mit seinem Dogmafilm « Festen » 1998 Aufsehen erregte, wird Kristofs Trilogie verfilmen. Derzeit arbeiten sein Koautor Mogens Rukov und er an einer Drehbuchfassung. Viele Produzenten und Regisseure, auch Deutsche, hatten vergeblich versucht die Filmrechte zu erwerben. Kristofs Landsmann Istvan Szabó bekundete Interesse am Stoff, wusste aber nicht, wie er ihn für sich umsetzen sollte. Als weiteres Filmprojekt ist Silvio Soldinis Verfilmung von Agota Kristofs viertem und jüngstem Roman « Gestern » geplant. Seit fünf Jahren hat sie nichts mehr veröffentlicht. Theaterstücke und Gedichte will sie nicht mehr schreiben, nur noch Romane. In letzter Zeit schreibe sie viel weniger. Sie versuche es, aber es komme nichts Besonderes heraus. Mit einem Computer möchte sie nicht arbeiten, denn da könne es passieren, dass man versehentlich seine Worte löscht. « Bevor ich einschlafe, schreibe ich ein bisschen in meinem Kopf. Manchmal notiere ich die Gedanken und am nächsten Morgen werfe ich dann das Blatt weg. » Agota Kristof meint, die Ideen kämen, wenn man sie am wenigsten erwartet, beim Gehen, Arbeiten oder Haushaltmachen. « Jetzt habe ich eine Putzhilfe, jetzt schreibe ich nicht mehr », sagt sie. Auch wenn sie sich als Ungarin fühle, erklärt sie, wäre es für sie undenkbar, wieder in der Muttersprache zu schreiben. Als sie vor wenigen Jahren eine Lesung in Ungarn hatte, habe sie Angst gehabt, Sätze falsch auszusprechen. Die französische Sprache beherrsche sie bis heute nicht vollkommen, und doch fühle sie sich in ihr beheimatet. Agota Kristof spricht nicht viel. Doch das Thema Sprache hat sie fast gesprächig gemacht. Sie erzählt, zu Hause habe sie ein Regal mit allen Übersetzungen ihrer Bücher: in 33 Sprachen, unter anderem Vietnamesisch. Manchmal ist sie verwundert, welche merkwürdigen Sprachen es überhaupt gibt, wie Katalanisch, Kastilisch, Galicisch. Ihre eigenen Texte möchte sie nicht selbst ins Ungarische übertragen müssen. Zwei Mal die gleichen Sätze, das sei zu viel. « Das ist auch eine Frage der Faulheit », fügt sie hinzu. Sie zählt wahrlich nicht zu jenen Schriftstellern, die sich in den Vordergrund drängen. Mit französischen Intellektuellen, kann sie meistens nichts anfangen. Noch lebende Denkmäler des französischen Literaturbetriebs, die sich selbst inszenieren, nennt sie einfach « furchtbar ». Diese Menschen ließen sie kalt und interessierten sie nicht, sie sähe sie höchstens im Fernsehen. Agota Kristof liest keine zeitgenössischen Schriftsteller, nur Krimis. Sie habe viel gelesen, früher die Russen auf Ungarisch – im Alter von zwölf Jahren Dostojewski -, später im Sprachkurs auch französische Klassiker. Als sie aber sagt, sie sei keine philosophische Intellektuelle, muss man an eine ihrer Romanfiguren, Sandor Lester, denken: « Ich bin nur ein Arbeiter. Selbst wenn ich ein Schriftsteller würde, wäre ich zu nichts gut, ohne Kultur, ohne Bildung, ein Hurensohn. » Die Frage, ob diese Beschreibung ihrem Selbstbild nahe komme, bejaht Agota Kristof. Sowohl im Gespräch als auch auf der Konferenz über ein pluralistisches Europa, der eigentliche Anlass ihrer Reise nach Paris, bemerkt sie: « Ich habe nichts Besonderes zu sagen. » Die Antworten der Schriftstellerin sind kurz und eindringlich wie ihre geschriebenen Sätze. In Erinnerung bleiben ihre vorsichtige Stimme und ein Körper, der beinahe abwesend wirkt, als sei der Mensch sehr weit weg. Fragt man Agota Kristof nach ihren Plänen, sagt sie: « Nichts ».

Agota Kristof erhält an diesem Sonnabend in Zürich den renommierten Gottfried-Keller-Preis.

Kunst und Kühe – Porträt – Berliner Zeitung

Der Jerusalemer Maler Jacob Pins über seine Kindheit in Deutschland und seine obsessive Liebe zum japanischen Pfostenbild

Asiatische, kegelförmige Lampen aus hellem Reispapier hängen von der Decke. Türen sind flaschengrün gestrichen, Sessel altrosa bezogen, Teppiche reich an Ornamenten. In allen Nischen des weitläufigen Wohnzimmers stehen goldglänzende Buddhastatuen und schwere, steinerne Buddhaköpfe. Eine philippinische Haushälterin geht auf leisen Sohlen, und eine grau melierte Katze schleicht durch die Räumlichkeiten. Der in Westfalen aufgewachsene deutsche Jude Jacob Pins lebt inmitten von Jerusalem in seiner eigenen Sammlung ostasiatischer Kunst, die als die bedeutendste Israels gilt. Manchmal wundere er sich selbst, wie es ihm gelingen konnte, sie zusammenzutragen. « Denn hier Ostasiatika zu sammeln, ist wie Judaika in Nordghana zu sammeln », witzelt Jacob Pins. Seiner Aussprache des Deutschen ist noch heute die gedehnte, westfälische Sprechweise anzuhören.

Den Ort seiner Kindheit, Höxter, suchte er zum ersten Mal 1959 kurz wieder auf. Er fühlte damals, dass seine Jugend abrupt abgebrochen worden war und er sie dort gelassen hatte. Noch aus der Eisenbahn sah er hinaus. « Alles schien so klein. Ich war wahnsinnig enttäuscht und wusste, da nichts mehr zu suchen zu haben. Irgendwie erleichterte es mich, ich lachte innerlich, alles war so unsinnig. » Die kleine Stadt habe gar keinen Eindruck auf ihn gemacht.

Schon als Kind sammelte er, noch in Deutschland, Briefmarken, Münzen und Bücher. Der 83-Jährige denkt, « von Natur aus » Sammler zu sein. Nach dem frühen Beschluss später Maler zu werden, fing er an, auch Kunstreproduktionen zu sammeln. Als er 1936 von Deutschland nach Palästina floh, bestimmten andere Sorgen das Leben. « An Briefmarken konnte ich nicht mehr denken. » Im Kibbuz nahm er jede Arbeit an, die angeboten wurde, auch im Straßenbau. « Orangenhaine waren unsere Haupteinnahmequelle. Als Konkurrenten hatten wir die Araber, die viel billiger arbeiteten und zudem noch mehr getriezt wurden als wir. » Fünf Jahre lebte Jacob Pins im Kibbuz. 1939 bekam er dort Kinderlähmung, die er mit seiner ihn bezeichnenden Haltung « eine Invalidität kann ich mir nicht leisten » bekämpfte. « Ich bin schön wieder gelaufen. Es war schwer, aber es ging. » An allen Treppen musste ein Stock für ihn liegen, damit er sie hinauf und hinunter kam. Nach zwei Jahren konnte er sich soweit wieder bewegen, dass es ihm möglich war, leichte Arbeiten zu verrichten. Das Bein sei ihm sicher behilflich gewesen, um aus dem Kibbuz zu kommen. « Ich konnte sagen, jetzt möchte ich Kunst studieren. »

Erst als er den Kibbuz wieder verlassen hatte, begann er erneut zu sammeln. Da er arm « wie eine Kirchenmaus » war, sparte er am Essen. Nach ein paar Jahren konnte er nichts mehr kauen. « Im Land der Zitrusfrüchte hatte ich einen echten Skorbut. » So habe er damals gelebt, als er in Jerusalem seinen ersten japanischen Holzschnitt in einer Galerie entdeckte, die kaum als solche bezeichnet werden konnte. Jacob Pins sah jenen in einem nicht mehr so guten Zustand befindlichen Farbholzschnitt an, der sich später als Fälschung erweisen sollte, und war begeistert. Ihn faszinierte, was die Japaner mit einem einzigen Stück Holz anzufangen wussten. Dieser Fund habe den Beginn seiner heutigen Sammlung initiiert. Jacob Pins lacht wieder: « Am Anfang hatte ich eine herrliche Sammlung an Fälschungen. » Auf seinen Tel Aviver Streifzügen kaufte er fast alles, was ihm ins Auge fiel. Für zwanzig Dollar erwarb er einen unter einer Dreckschicht verborgenen Buddha aus dem 9. Jahrhundert, den er nur mit seiner Spucke zu reinigen vermochte. Durch Reisen, Händler, Kataloge und Beziehungen fand er im Laufe der Jahre weitere schöne Stücke. Als obsessiver Sammler stieß er manchmal auf Unverständnis. Im Testament seines Onkels aus England wurde er sehr schlecht bedacht. « Er muss sich gesagt haben, der dumme Junge gibt doch nur alles für diese japanischen Tapeten aus. » Anlass zu jener Mutmaßung mag Jacob Pins Reise 1951 nach London gewesen sein. Nach 15 Jahren kam er erstmalig wieder nach Europa. Als sein Onkel mit ihm ins British Museum gehen wollte, entdeckte er auf dem Weg in einem Schaufenster einen japanischen Holzschnitt, der zwei Pfund kostete. Das entsprach ungefähr der Hälfte dessen, was Jacob Pins insgesamt besaß. Sein Onkel sei entsetzt gewesen, als er den Holzschnitt kaufte. Jacob Pins antwortete lediglich: « Ich sammle die! » Am folgenden Tag gab sein Onkel ihm Taschengeld, und er zog alleine los. Jeden Tag brachte er Neuerwerbungen mit, was seinen Onkel zunehmend verstimmte. Er habe ihm seine Sammelleidenschaft nie verziehen.

Inzwischen gilt Jacob Pins als der Experte japanischer Pfostenbildern. Er publizierte 1982 « The japanese pillerprint », ein maßgebliches Handbuch über jene Holzschnitte von 1740 bis 1840 mit besonderem Format: 70 cm Höhe und nur 12 cm Breite. « Durch meine Veröffentlichung sind die Preise leider so angestiegen », sagt er, « dass ich kaum mitkomme. » Noch heute, wenn er ein schönes Stück sehe, müsse er es haben. Das Telefon klingelt, Jacob Pins, der soeben einen deutschen Satz beendet hat, spricht fließend auf Englisch mit dem Anrufer weiter.

Der Sammler Jacob Pins, der schon als Zwölfjähriger beschlossen hatte, Maler zu werden, konnte nicht mehr in Deutschland Kunst studieren. Er lernte in Jerusalem an der « Bezalel Academy of Art » bei einem Schüler von Lovis Corinth, dem Expressionisten Jakob Steinhardt. Während seines Studiums sei es ihm wie dem « armen Poeten in Spitzwegs wunderbarem Bild » ergangen. Die Kibbuzbewegung hatte sich mit der Begründung, man bräuchte Kühe und keine Maler, geweigert, ihm ein Stipendium zuzugestehen. Jacob Pins lebte in einem winzigen Zimmer von 2,30 mal 2,40 Meter ohne elektrisches Licht. « Ich hätte auch einen Regenschirm aufspannen können. » Das Wasser lief die Wände hinunter, ins Bett hinein. Das Sonderbare war, dass er damals glücklich gewesen sei. Er stand morgens um sieben Uhr auf, und schon bald malte, zeichnete und holzschnitzte er. Mit Hilfe einer Petroleumlampe arbeitete er bis spät in die Nacht hinein. Als Arbeitsmaterial erhielt er von Tischlern für seine Holzschnitte Holzabfälle. Später kaufte er über Zeitungsanzeigen Möbel, die er zerlegte. Auf billige Weise kam er zu großen Planken, « denn in der Wüste wachsen nicht gerade viele Bäume ».

Die Lichtverhältnisse des Nahen Ostens erschwerten Jacob Pins anfänglich das Malen. « Das Licht fraß alles auf. Es war so grell, dass keine Farbe blieb. Die Landschaft setzte sich nur aus einem blauen Himmel über einer hellgrauen Ebene mit schweren Schlagschatten zusammen. Von der so genannten Farbigkeit des Orients war nichts zu sehen. » Jacob Pins sehnte sich nach einem saftigen Grün und dem Rot der Dächer.

Als er nach Jahren Europa wieder besuchte, sah er bei der Flugzeuglandung den Unterschied: « Dieses Grün! Und die Farben von London: Silbergrau auf Silbergrund, herrliche Rot- und Weißtöne! » Später sei er mit Israels Landschaft nur fertig geworden, indem er ihre Farben übersetzte. Ein Braun musste Rot, ein Grün stärker und reiner werden. Jacob Pins glaubt, dass es kein Zufall sei gerade mit seinen schwarz-weiß Holzschnitten Erfolg gehabt zu haben, die inzwischen in den wichtigsten Sammlungen vorzufinden sind (u.a. The Metropolitan Museum of Art, New York; The Museum of Modern Art, New York; Ludwig Museum, Köln; The British Museum, London; Puschkin Museum, Moskau).

Fragt man Jacob Pins, wie stark er sich von der jüdischen Kultur geprägt sieht, weist er darauf hin, dass sein erster Linolschnitt Goethes Porträt darstellte, dessen 100. Todestag man 1932 feierte. Auch auf derzeitige Spannungen in Israel angesprochen, zitiert Jacob Pins sogleich den Studenten Brander aus Goethes Faust « Politisch Lied, ein garstig Lied ». Er sei von der deutschen Kultur « durchtränkt ». « Wir Juden waren so assimiliert. Meinem Vater wurde im Ersten Weltkrieg als Offizier das Eiserne Kreuz verliehen. Ich habe mich als Deutscher gefühlt. Hitler hat mich eines Besseren belehrt. » Der Vater erkannte sofort, dass « Hitler nicht einfach vorübergeht ». Hätte er die Möglichkeit gehabt, wäre Jacob Pins schon 1934 nach Palästina ausgewandert. Seine Eltern ließen den 14-jähriger Bruder, auch wenn es ihnen schwer fiel, nach Amerika gehen, wo 400 Familien jüdische Kinder aus Deutschland zur Rettung aufnahmen.

Zeitgleich verließ Jacob Pins das Elternhaus, um zunächst eineinhalb Jahre lang in Stettin eine zionistische Ausbildungsstätte « Hachschara » zu besuchen, die ihn in einer Art Wohngemeinschaft auf das Leben in Palästina vorbereiten und in der er eine nützliche Arbeit als Gärtner oder Tischler erlernen sollte. Da es der Kunst am nächsten stand, ließ er sich zum Anstreicher ausbilden. Wieder fällt Jacob Pins eine seiner unzähligen Anekdoten ein: « Ein Malermeister stellte vier Jungs von uns insgeheim an, was natürlich gefährlich war. Wir wurden fast alle nicht bezahlt. Als der Meister einen Auftrag bei einem alten Nazi bekam, durften zwei, die etwas jüdisch aussahen nicht mit. Die anderen, die sehr christlich aussahen, deutsch, konnten hingeschickt werden. Der Meister machte sich einen Spaß daraus, indem er dem Hausherrn sagte: « Seien Sie vorsichtig, der eine ist bei der SS. » Herr Pins lacht laut. Daraufhin springt ihm seine Katze auf den Schoss, und er streichelt das schnurrende Tier.

In Berlin befand sich in der Meinekestraße jene Organisation, die von der britischen Regierung ausgestellte Zertifikate für Palästina verteilte. Da man von Zeit zu Zeit kleine Gruppen herüberschickte, konnte er rechtzeitig auswandern. « Meine Eltern hatten vor, nachzukommen. Leider haben sie es nicht mehr geschafft. Als der Krieg ausbrach, war die Falle zu. » In den Holzschnitten « Totentanz » und den (sich im British Museum befindlichen) fünf Blättern zur « Apokalypse » verarbeitete er 1945 und 1946 die Ermordung seiner Eltern. Wie die meisten jüdischen Familien aus Westfalen hatte man sie 1941 nach Riga geschickt, wo sie im Ghetto leben mussten. Als die Russen sich näherten, wurden sie erschossen oder vergast. Jacob Pins stellte Nazis in seinen Arbeiten nie personifiziert dar, sondern wählte Skelette als Metapher. Kunst müsse abstrahieren, eine allgemein gültige Form finden und nicht dokumentieren. « Hätte ich Hakenkreuze gezeigt, wäre es billiger Journalismus, einfach banal! » In seinem Werk hat er die Shoa als Thema nicht wieder aufgreifen wollen. « Man kann nicht nur in der Vergangenheit leben. » Er gesteht es anderen zu, die nicht anders können. Doch er sei immer bemüht gewesen, sich zu erheben und darüber zu stehen.

Bittet man Jacob Pins sein heutiges Verhältnis zu Deutschland zu beschreiben, antwortet er, mit seiner Landschaft habe er kein Problem. Sie habe ihm nichts getan, ebenso wenig die Sprache. Auch mit jungen Leuten habe er keine Schwierigkeiten. « Die ich traf, waren alle offen, neugierig und stellten intelligente Fragen. Eine wunderbare Jugend. » Es gebe keine Schuld, die man auf seine Kinder übertragen könne. Jedoch bei Menschen seines Alters, frage er sich immer: « Wo wart ihr während des Krieges? Habt ihr meine Eltern umgebracht? » Denn natürlich sei es keiner gewesen, das sei sein Problem. Gleichzeitig räumt er ein, von der deutschen Kindheit zutiefst beeinflusst zu sein. Die Umgebung und sein Vater vermittelten ihm Selbstdisziplin, Genauigkeit und einen gewissen Ordnungssinn. Er hasse nichts mehr, als ein wildes Durcheinander.

Erneut klingelt das Telefon. Jacob Pins spricht diesesmal auf hebräisch weiter. Als er das Gespräch beendet hat, bittet er die Haushaltshilfe, das Essen zu servieren. Mitten in Jerusalem sitzt man an einem deutschen Mittagstisch. Grünkohl mit Rauchentchen könne er in Israel leider nicht bekommen. Jacob Pins isst Bohnen, Weißkohl und Kartoffelpuffer. Er erinnert sich: « Meine Mutter kochte oft graue Erbsen mit sauersüßer Sahnesoße, auch Stielmus. Wunderbar schmeckte das. Das habe ich nie wieder gegessen. »

Free Speed – eine Tragikomödie

Tragikomödie für 3 D, 5 H, 1 Kind / 1 Dek.: Peter, Autospeaker / Lillian, Autospeakerin / Tom und Jupp, Vorstadtjugendliche / Thronfolger von Togo / Frau / Mädchen neureicher Eltern / Autonarr und Beifahrerin  / zwei Stimmen für Lautsprecherdurchsagen

UA : Theater Halle 7 München, Regie: Thomas Haaf

Jedes Jahr muss die Autoindustrie ihre neuen Modelle vorführen und so raffiniert wie möglich bewerben. Was zählt am Markt? Power und Sex. Was ist die logische Folge? Das Auto soll selbst zum Sexualobjekt werden, also identifiziert man Metall, Motor, vier Räder und alles andere mit weiblichem Sex, der zur Verfügung steht – man muss ihn nur zu nehmen und zu behandeln wissen. Mit diesem Werbekonzept geht die NM-Firma auf die Automesse. Wenn ein Interessent in dem ausgestellten NM-Wagen Platz nimmt, wird er von einer einschmeichelnden weiblichen Stimme, die das Auto selbst ist, begrüßt und die Vorteile des Autos/der verfügbaren Frau werden genauestens erläutert. So lockt man Kunden, Interessenten und vielleicht auch Käufer. Jede Frage nach Technik, Bequemlichkeit und allen Details dieses neuen Objekts der Begierde wird detailliert und liebevoll beantwortet. Dass damit Platz gemacht ist für Neurotiker, Psychopathen, Sexmaniacs, aber auch Gehemmte und Zögerliche, ist Sinn und Absicht des Programms. Es hat nur einen Haken:

Lillian, die in einer Sprechkabine sitzt und auf all das als das verkörperte Auto reagieren muss, ist ein Mensch und kein Computer. Piet, der das Werbeprogramm völlig verinnerlicht hat, ist den Anforderungen letzten Endes aber nicht gewachsen. Er bricht zusammen. Lillian wird immer motorischer, reagiert nur mehr wie ein Computer. Brave new world?

Text: Marek Koterski für my / Theater-Korrespondenz. Mykenae Verlag

Free speed

Figuren: Piet, Autospeaker / Lillian, Autospeakerin / Tom und Jupp /Vorstadtjugendliche / Thronfolger von Togo / Frau / Mädchen neureicher
Eltern / Autonarr und Beifahrerin  / zwei Stimmen für Lautsprecherdurchsagen

Leseprobe
Szene 1

Über Lautsprecher erklingt erst ein Gong, dann hallend eine Durchsage.
Polizei: Achtung! Achtung! Hier spricht die Polizei. Wir möchten Sie mit den Sicherheitsvorkehrungen vertraut machen. Im Falle der Lautsprecher-durchsage „Alarmstufe 1“ bewahren Sie bitte die Ruhe, im Falle der Lautsprecherdurchsage „Alarmstufe 2“ verlassen Sie bitte die Halle.

Kurzer, harter Ton, Ende der Durchsage.

Peter:            Derartigen Spaß bringt das. Ich habe nicht einmal das Gefühl zu arbeiten. Das ist der lustigste Job, den ich je gemacht habe.

Öffnen einer knarrenden Holztür.

Laura:             Ein Hühnerstall!
Peter:              Wieso? Eine ganz normale Arbeitskabine. 
Laura:             Nicht ein einziges Fenster! (zu sich, leise) Dann bin ich eben vierzehn Tage in einer Holzkiste eingesperrt.

Luftzufuhr einer Klimaanlage.

Peter:              Die Klimaanlage hier liefert Frischluft. Was brauchst du Fenster? (begeistert) Du hast den Bildschirm. Und hier: (euphorisch) Computer, Kopfhörer und Mischpult.

Laura:             Ich habe noch nie auf einer Automesse gejobbt.
Peter:              Am Anfang fehlte mir auch das Tageslicht. Ich habe dann einfach angefangen, mir regelmäßig eine Portion Licht von der Sonnenbank abzuholen. (Peter lacht.) Irgendwo muss man Energie tanken.
Peter:             Am Anfang fehlte mir auch das Tageslicht. Ich habe dann einfach angefangen, mir regelmäßig eine Portion Licht von der Sonnenbank abzuholen. (Peter lacht.) Irgendwo muss man Energie tanken.
Laura:             Sieht alles ziemlich technisch aus. Wie funktioniert denn dieses System?
Peter:              Perfekt! (lehrerhaft, überbetonend)  Auf dem Mes-se-stand ist dein Mes-se-wa-gen ausgestellt. In den wurde eine Kamera eingebaut. Dein magisches Auge, das alles auf diesen Bildschirm überträgt. Sobald der Mes-se-be-su-cher vom NM-Mes-se-stand in deinen NM-Mes-se-wa-gen steigt, siehst du ihn. Er sieht dich aber nicht. Die Bildauflösung ist messe-messer-scharf. (Peter lacht.) Du kannst selbst das Muster der Krawatten erkennen. (leise) Pass auf, jetzt steigt einer ein.
Öffnen einer Autotür, Geräusche der Automesse, Zuschlagen einer Autotür, Rascheln von Stoff auf Leder, Atmen. Öffnen einer Autotür. Geräusche Automesse, Zuschlagen einer Autotür, Stille.
Laura:             Der ist schon wieder weg?
Peter:              Du hättest ihn sofort ansprechen müssen.
Laura:             (belustigt) Sind alle Leute auf dem Kopf und in Grün? Dieser Typ sah eher wie ein Astronaut aus! Nicht gerade wie ein Autofahrer.
Peter:              Ein leichter Übertragungsfehler, aber das Mikro ist spitze. Du hörst jede ihrer kleinsten Bemerkungen.
Laura:             Hast du schon Besucher bespitzelt?
Peter:              Im Messelärm ziehen sich Paare, Freunde und Geschäftspartner gerne in den Wagen zurück. Autos werden schnell zu Telefonzellen für Handybenutzer. (vertraulich) Auf einmal wirst du Zeuge intimer Gespräche oder zwielichtiger Verhandlungen.
Laura:             Wie aufregend!
Peter:              (streng) Du musst dich sofort zu erkennen geben! NM ist ehrlich, auf NM ist Verlass!
Laura:             Ja, ja. Worüber sprichst du denn mit den Einsteigenden?
Peter:              Du kannst über alles sprechen, was dir einfällt. Direkt-einspritzung, Versicherungseinstufung, Emissionsreduzierung. Fällt dir einmal nichts ein, kannst du einen Blick auf diese Listen werfen.
Papierblättern
Kleiner Hinweis: Wegen des Mikros ist panisches Blättern unvorteilhaft. Die meisten technischen Details kennst du sowieso. Hubraum, maximales Dreh-moment und und und. Du kannst dich auch einfach über die Automatik der Scheinwerferselbstreinigung unterhalten.
Laura:             Aha.
Peter:              Interessierst du dich denn nicht für Autos?
Laura:             (gleichgültig) Doch, doch. Ich habe nur keinen Führerschein und fahre selbst eigentlich Fahrrad. Worauf soll ich noch achten?
Peter:              Du musst die Leute, die in die ausgestellten Autos einsteigen, emotionalisieren. Sie müssen mit dir als Auto etwas Schönes erleben. Etwas Einmaliges. Aufgepasst: Du darfst keine Verkaufsgespräche führen. Gekauft wird nicht, wenn man verkaufen will. Gekauft wird nur, wenn man mensch-lich ist. Menschlichkeit steht auf Platz eins. Das ist das A und O von A bis Z. Das Antiblockiersystem und Ottomotorgetriebe von Abgasnorm bis Zündzeitpunkt.
Laura:             Ich bin dann das Auto?
Peter:              Du stellst dich einfach vor: „Hallo, ich bin das Auto!“ und sprichst dann über dich – als Auto. Durch die NM-Schulung ist dir bestens bekannt, wie NM-markenkonform du zu argumentieren hast. NM-Autos stehen für Sicherheit und nochmals Si-cher-heit. Also: keine Sperenzien von Ferrari oder Alfa Romeo. (Peter lacht.)
Laura:             Aha!
Peter:              Sicherheit heißt asexuell, asexuell heißt Sicherheit. Ganz seriös musst du sein. Du verkörperst schließlich d a s deutsche Markenauto und keine italienische Zuhälterkarre.
Laura.             (belustigt) Sehr seriös, wenn ich denen erzähle, ich bin ein Auto!
Peter:              Gefällt dir diese Arbeit etwa nicht?
Laura:             Doch, doch. Ich habe gerne mit Menschen zu tun und brauche auch dringend Geld.
Peter:              Willst du endlich deinen Führerschein machen?
Laura:             Nein, nein. Nächsten Monat muss ich aus meiner Wohnung …
Peter:              Wenn du eine positive Stimmung verbreitest, wenn du überzeugt bist, dann glauben Messebesucher sofort an dich – das NM-Auto. Die Arbeit muss dir vor allem Spaß machen. Du musst gute Laune haben! Hier, (Aufstellen eines Spiegels)  ich stelle dir einen Spiegel auf. Du solltest beim Sprechen immer überprüfen, ob du ein Lächeln auf den Lippen hast. Ob du lächelst oder nicht, hört man sofort deiner Stimme an.
Laura:              (mit lächelnder Stimme) Ich bin ein Auto, ein Auto, ein Auto. Ich fahre, also bin ich.  
Peter:              Atmen. Das Atmen nie vergessen. (Peter lacht.) Die Arbeit wird dich einfach mitreißen. Du wirst begeistert sein und nicht mehr aufhören können. Mir passiert es oft, dass ich meine Pausen vergesse, ohne es zu merken.
Laura:             Wirklich?
Peter:             Manche Messebesucher wissen nicht einmal, mit welchem Shampoo sie meinen Verloursboden am besten reinigen oder warum jetzt in einem meiner Ottomotoren der Schichtladebetrieb vom Dieselmotor verwendet wird. Bei derartigen Fragen kommt natürlich Freude auf.
Laura:             Wollen manche Besucher sich nicht einfach nur das Auto ansehen?
Peter:              Die lassen sich gerne überraschen und freuen sich, wenn jemand mit ihnen ein paar Einheiten redet. Übrigens, ein Durchschnittsgespräch sollte achteinhalb Minuten dauern.
Laura:             (ironisch) Achteinhalb Minuten? Und wenn die keine Lust haben so lange mit mir zu sprechen?
Peter:              Was ist das denn für eine Grundeinstellung?
Laura:             Jemand könnte meine Stimme unsympathisch finden. Ich könnte an die Ex-Frau oder eine Physiklehrerin erinnern.
Peter:              NM hat im deutschsprachigen Großraum telefonisch alles rauf- und runtergecastet, um deine offene, lebendige Stimme für eine offene, lebendige Stimmung zu finden. Von allen deutschen, schweizerischen, österreichischen Frauen musst du jene sein, die am sympathischsten klingt.
Laura:             Anscheinend.
Peter:              Du wurdest unter Hunderten ausgewählt. Dank deiner Stimm-bänder bist du die NM-Sympathieträgerin. Sonst dürftest du niemals d i e weibliche NM-Autostimme sein. Du bist NM-auto-stimmen-tauglich. Du bist der Sound des NM-Leitbilds: klar, menschlich und zuverlässig!  Du hast nur Lampenfieber. Aufgepasst: Nur für dich führe ich jetzt ein kleines Muster-gespräch: „Hallöchen, ich bin das sprechende Auto!“ „Das ist ja eine schöne Überraschung!“ „Fühlen Sie sich wohl auf meinem Sitz?“ „Ja, ich sitze hier besser als auf meinem Sofa!“ „Wahrscheinlich verbringen Sie auch mehr Zeit im Auto als Zuhause!“ „Woher wissen Sie das?“ „Weil ich Ihr Auto bin!“ (Peter lacht.) Und dann lege ich mit all dem technischen Schnickschnack los. (liebevoll) Soll ich erste Hilfe für dein erstes Gespräch leisten? Soll ich deine Kabine mitbesetzen?
Laura:             Danke, ich schaffe das alleine.
Peter:              Und vergiss nicht, du kannst neben Musik auch Geräuschkulissen einspielen. Für Fahrten ins Blaue und Grüne Bach-plätschern und Waldrauschen. Viel Spaß. Gib Gas, gib dem Auto einfach deine Seele.
Schließen der knarrenden Holztür. Lautes Ausatmen von Laura.
Öffnen einer Autotür. Geräusche der Automesse (Animationen, Menschenmassen). Einsteigen von Jupp.
Laura:             (mit neutraler, freundlicher Stimme) Schließen Sie bitte die Tür.
Jupp    :           Schnauze!
Schließen einer Autotür. Ende der Messegeräusche.
Laura:             (mit sachlicher Stimme) Ich habe keine Schnauze, sondern eine Vorderfront. Ich bin ein Auto.
Jupp:               Halt die Fresse!
Laura:             Ich habe keine Fresse, sondern eine Vorderfront.
Öffnen einer Autotür. Messegeräusche.
Jupp:               Tom, setz dich mal rein. Die Kiste quatscht!

Sinn und Form

2019 / Heft 5

Link Pdf als Text: Sinn und Form (Pdf)

Das Gesetz der Rache

Der Schriftsteller und Filmemacher Atiq Rahimi über eine Rückkehr nach Afghanistan, den ewigen Kreislauf der Tragödien seines Volkes und ein Leben mit verschiedenen Kulturen

Atiq Rahimi verabredete sich mit mir im Café Select, einem schicken, dennoch nicht snobistischen Pariser Intellektuellen-Treffpunkt. Als wir während des Interviews gerade über den letzten Krieg sprachen, verirrte sich eine Taube in das Café und flog knapp über unsere Köpfe mehrmals gegen die Fensterscheiben. Atiq Rahimi lachte und lachte zu meiner Verwunderung. Immer wieder war der dumpfe Aufprall des Tieres gegen das Glas zu hören. Schließlich verließ die Taube das Café. Mit kleinen Schritten ging sie durch den Haupteingang. Später las ich im in Frankreich veröffentlichten Tagebuch Rahimis: « Vielleicht lache ich deshalb immer in allen Situationen. Im Inneren bin ich gebrochen und krank, meine Nerven liegen blank. Doch sobald ich mit jemandem spreche, zeichnet sich dieses, sicherlich lächerliche, Lächeln auf meinen Lippen ab. »

Atiq Rahimi, Sie leben seit fast 20 Jahren im französischen Exil. Wie ist es Ihnen ergangen, als Sie letztes Jahr zum ersten Mal in Ihr Heimatland Afghanistan reisten?

Im Flugzeug hatte ich mich ganz hinten hingesetzt. Ich wollte nicht, dass mich jemand weinen sieht. Aber ich habe nicht einen Moment geweint. Ich fühlte mich leicht wie ein Strohhalm. Nach achtzehn Jahren setzte ich wieder den Fuß auf den Boden meiner Heimat. Die Rückkehr hatte nichts Belastendes, obwohl ich aus dem Flugzeug all die Ruinen gesehen hatte. Ich wusste von der Zerstörung und hatte sie vor der Reise akzeptiert. Im tiefsten Inneren fühlte ich nichts. Beim Betreten des Minibusses aber, der mich zum Flughafengebäude führte, brach alles in mir auf. Als ich die Musik hörte, die mir aus den Straßen und Basaren Kabuls vertraut war, fingen meine Beine zu zittern an. Damit hatte ich nicht gerechnet. Meine Kehle schnürte sich zu. In der Flughafenhalle erwartete mich niemand. Ein junger Mann kam auf mich zu: « Do you need a translator? » Jeder hielt mich für einen Fremden und rief: « Mister, Mister! » Ich sagte: « Ich bin Afghane. » Und als ich ins Taxi stieg, fragte mich der Fahrer: Also, wenn Sie Afghane sind, wo ist Ihr Haus? Ich habe kein Haus mehr, antwortete ich. Ich bin in ein Hotel gegangen. Wieder war ich ein Fremder. Das brachte mich zum Lachen, Afghanistan war für mich ein fremdes Land. Ich suchte das Haus auf, wo wir früher lebten. Die Leute, die es heute bewohnen, habe ich getroffen, mit ihnen gesprochen und Tee getrunken. Sie waren ein bisschen besorgt. Ich beruhigte sie, dass ich nur gekommen sei, um meine Vergangenheit ein wenig zu beleben. Lampions brannten in den Ecken. Es gab keinen Strom mehr. Der Maulbeerbaum war gefällt. Die von meinem Vater gepflanzten Blumen waren längst vertrocknet. Alles erschien mir absurd, surreal, wie in einem Traum, in dem einem etwas sehr Schlimmes passiert. Lachend versuchte ich eine Art Distanz einzunehmen.

Deckte sich Ihr realer Eindruck mit Ihrer bisherigen Vorstellung von Kabul aus Jugenderinnerungen und Medienbildern?

In den ersten Tagen dachte ich immer, ich sehe nur einen Film. Tagsüber ging ich durch die Straßen, und abends im Hotelzimmer hatte ich das Gefühl, nur Bilder gesehen zu haben, als sei Kabul ein Bildschirm. Diese zerstörte Stadt und dieses Elend sind erschütternd, ob man nun Afghane ist oder nicht. Bevor ich hinfuhr, hatte ich, um mich vorzubereiten, viele Filme über das Land gesehen. Als ich aber ankam und die Ruinen sah, konnte ich es nicht fassen. Die Dreharbeiten für einen Dokumentarfilm waren der Anlass meines Aufenthalts. Aber ich konnte die Kamera in den ersten Tagen nicht einmal einschalten. Erst mit dem Geruchssinn ist langsam der Eindruck einer imaginären Stadt verschwunden. Der Rauch in der Nacht, der Duft von Brot und Kebab, der Geruch von Staub und Schlamm, der Gestank können einen nicht täuschen. Nach drei, vier Tagen fing ich an, die Wirklichkeit meiner Reise, meine Identität, meine Heimat wahrzunehmen. Ich begriff, dass Afghanistan jetzt so ist. Das wiederum setzte mein bisheriges Leben in Klammern. Alles, selbst meine Kinder, erschienen mir so, als hätte ich sie in einem Traum gehabt. Plötzlich glaubte ich nicht mehr an mein Leben in Frankreich.

Gibt es ein ganz besonderes Erlebnis?

Unzählige. Nach dem Erdbeben, das es während meines Aufenthalts gab, lernte ich einen kleinen Jungen kennen, der mit seiner noch kleineren Schwester in den Trümmern ihres Hauses lebte und Linsen verkaufte. Er hatte die gleichen Augen wie der Sohn meines Bruders. Beim Drehen traf ich ein sich streitendes Ehepaar, dessen Haus im Bürgerkrieg vollkommen zerstört worden war. Sie waren nach Kabul zurückgekommen und hatten es einen Monat lang wieder aufgebaut, als die Erde zu beben begann. Der Mann meinte lächelnd, es sei gut, dass es eingestürzt sei, denn die Mauern seien sowieso schief gewesen. Den Wiederaufbau werde er an einem Tag bewältigen. Die Frau schimpfte und weigerte sich, mit ihren Kindern jemals wieder darin zu leben, das Haus werde sonst beim nächsten Beben zu ihrem Grab. Nicht nur die Mauern seien schief, sondern das ganze Fundament, was ich sehr sinnbildlich für Afghanistan befand: ob Gebäude, der Staat oder die Kultur, alles wird auf einem brüchigen Grund wieder aufgebaut, statt den Mut aufzubringen, wirklich bei null neu anzufangen.

Hat diese Reise Sie verändert?

Meine Identität, Vergangenheit, Familie, Kultur, sogar der Mensch und Gott wurden für mich vollkommen infrage gestellt. Es war großartig, ich wusste auf einmal, dass ich etwas gegen dieses Elend unternehmen kann. Plötzlich glaubte ich mehr an mich selbst, an meine Fähigkeiten und Handlungen. In Kabul gründe ich nun ein Verlagshaus mit, das afghanische Literatur publizieren wird. In Afghanistan gibt es keinen Verlag, aber viele junge Autoren. Für die Veröffentlichung ihrer Texte sind sie bisher gezwungen, die Parteien um finanzielle Hilfe zu bitten und so politische Kompromisse einzugehen. Ich möchte den Schriftstellern ihre Freiheit zurückgeben. Darüber hinaus plane ich, ein Literaturhaus an den Verlag anzugliedern, das im Exil lebende Autoren, die zurückkommen möchten und mittellos sind, übergangsweise beherbergt und unterstützt. Ich halte es für wichtig, Projekte zu initiieren, die Finanzierung zu gewährleisten, den Afghanen dann aber vor Ort die Verantwortung zu überlassen. Ich lebe weiter in Paris. Meinen Blick auf Frankreich hat diese Reise nicht verändert.

In Paris gilt es als « in » – insbesondere seit die Taliban Buddha-Statuen zerstörten – einen Pakol, jene aufgerollte afghanische Wollmütze, zu tragen. Was denken Sie, wenn Sie das Symbol des Widerstands der Mudjaheddin, zunächst gegen die Kommunisten, später gegen die Taliban, nun in eine trendige Kopfbedeckung verwandelt sehen?

Das bringt mich zum Lachen. Wenn die Leute nicht in ihrer eigenen Kultur verhaftet sind, übernehmen sie gerne Attribute eines Volkes, das in Elend und Krieg lebt. Dann gibt mein Land ihrem Leben wenigstens etwas Farbe. Kein Volk besitzt eine Kultur allein. Letztes Jahr stieß ich im Norden Griechenlands in einem Museum auf die kleine Statue eines griechischen Soldaten, die in Ägypten gefunden worden war. Er trug wie ein Afghane Pakol und Schal. So muss die Uniform der Soldaten Alexanders des Großen ausgesehen haben. Afghanistan übernahm sie, als dieser Persien eroberte und hat sie bis heute beibehalten. Alle Kulturen gehören der Menschheit. Hat das Exil Ihre Identität geprägt? Als ich noch in Afghanistan lebte, nannte mich jeder « Monsieur », weil ich mich wie einer aus dem Westen kleidete. Und als ich jetzt in meine Heimat zurückkam, sagten die Leute: « Atiq, du hast dich verändert, jetzt kommst du mit einem afghanischen Schal hier an. » In Frankreich hatte ich mich jahrelang von der afghanischen Kultur distanziert. Ich traf nur sehr wenige Landsleute und las keine persische Literatur mehr. Den Bruch zur persischen Kultur habe ich ganz bewusst vollzogen. Fünfzehn Jahre lang war ich sehr weit weg.

Ein Versuch, sich in die neue, fremde Kultur einzugliedern?

Nein, darin lag nicht der Grund. Ich war von der afghanischen Widerstandsbewegung, ebenso wie von den afghanischen Kommunisten, sehr enttäuscht. Damals wie heute sehe ich darin viel eher ein tief verankertes kulturelles, als ein vordergründig ideologisch-politisches Problem: Die Afghanen sind noch immer nicht erwachsen und definieren sich nicht als Nation, sondern in ihrer jeweiligen Stammeszugehörigkeit.

Warum haben Sie Afghanistan verlassen?

Mein Vater war Royalist, mein Bruder Kommunist und ich Anarchist. Ich konnte weder die väterliche Nostalgie noch die brüderliche Utopie teilen. Für diese dritte Meinung gab es in Afghanistan keinen Platz. Einige Male war ich auf Demonstrationen gegen die sowjetische Invasion. Jedes Mal musste mich mein Bruder protegieren. Er hoffte immer, dass ich eines Tages wieder auf seine Seite wechseln würde. Bereits als sehr junger Mensch hatte ich Freunde im maoistischen Milieu und war tendenziell links eingestellt gewesen. Doch durch den Einmarsch der Sowjets 1979 bekamen mein Bruder und ich eine enorme Distanz zueinander. Zu Hause gab es ständig nicht enden wollende politische Streitigkeiten. Irgendwann sah mein Bruder ein, dass wir keine Lösung finden würden und ließ mich in Ruhe. Er wusste, wie sehr ich das Kino liebe und setzte alles in Bewegung, damit ich ein sehr gutes Stipendium für eine Filmschule bekomme. Nachdem ich eine Zusage für die Sowjetunion hatte, sagte ich am Vorabend meiner Abreise ab. Wenn ich mein Studium dort gemacht hätte, hätte ich wahrscheinlich den siebenjährigen Militärdienst, der mir bevorstand, umgehen können. Inzwischen herrschte jedoch ein Klima, in dem ich keine Freiheit mehr hatte. Die von mir hier und da veröffentlichten Artikel, Erzählungen und Kinokritiken wurden aufmerksam verfolgt und « umgeschrieben ». Von diesen ideologischen Fragen abgesehen wollte ich sowieso in Europa leben und studieren.

Welchen Fluchtweg haben Sie gewählt?

Ich ließ mir einen Bart wachsen, schwärzte mir das Gesicht und verkleidete mich als afghanischer Bauer. Unter dem Vorwand, ich müsste zu einer Hochzeit in mein Dorf, verließ ich Kabul. Um von dort nach Pakistan zu kommen, brauchte man neun Tage und neun Nächte. Ich hatte mich mit meiner Lebensgefährtin einer bedeutenden Widerstandsgruppe anschließen können. Meistens schliefen wir tagsüber und wanderten nachts. Wir mussten uns nach fast jedem Schritt verstecken, um von den sowjetischen Flugzeugen nicht gesichtet zu werden. Die nach Pakistan führenden Wege und die Grenze standen unter Kontrolle der Roten Armee, da die Widerstandsbewegung über diesem Wege Kontakt zu Pakistan hielt und sich mit Waffen versorgte. Die Sowjets hatten überall Minen gelegt. Wir kamen in einem Dorf an, in dem es fast einen Meter hoch geschneit hatte. Der Mann, der uns über die Grenze führen sollte, sagte, wir könnten nicht weitergehen, denn der ganze Weg sei vermint, und bei dem Schnee könne man nicht erkennen, wo die Minen lägen. Wir müssten warten, bis er geschmolzen sei. Es war Dezember. Das bedeutete, dass wir zwei, drei Monate in diesem Dorf hätten verbringen müssen. Wie sollten wir dort leben? Wir hatten weder Haus noch Geld. Am nächsten Tag entschieden wir uns, doch weiter zu gehen. Der Kommandant der Widerstandsbewegung sagte: « Hört, ich gehe voran, ihr folgt mir. Wenn ich in die Luft gesprengt werde, nehmt einen anderen Weg. » Zuerst schoss er vor sich auf den Boden, dann ging er einen Schritt voran. Er schoss und ging, er schoss und ging. Jeder musste seinen Fuß genau in den Fußabdruck des Vordermannes setzen. Vier Stunden lang gingen wir im Indianerpfad. Uns ist nichts passiert. Wir sahen Blutlachen und Pferdekadaver einer Karawane, die ein paar Stunden zuvor unseren Weg gewählt hatte.

Bestand schon damals auch Gefahr von Seiten der Fundamentalisten?

Ja, denn schon Mitte der 80er-Jahre war der talibanesische Aspekt in Pakistan gegenwärtig. Afghanische Wege standen bereits unter Kontrolle pakistanischer Islamisten. Sie übten insbesondere auf junge Leute Druck aus und beschuldigten sie, von den Russen beauftragte Spione zu sein, um den Widerstand des Djihad zu unterwandern. Die Mullahs in den Straßen stellten Fragen zur Religion. Man musste die Koranverse auswendig aufsagen können, mit den fünf Gebeten sowie allen anderen Ritualen des Islams und dessen ideologischem Fundament bestens vertraut sein. Vor meiner Flucht war ich alles nochmals « durchgegangen », auch wenn ich es von meiner Erziehung her kannte. Man hatte mich vor religiösen Verhören gewarnt. Einer meiner Freunde ist fast getötet worden, weil er im Stehen « wie ein Esel » pinkelte. Islamisten brachten die allerjüngsten Flüchtlinge, die allein in Pakistan ankamen, in Koran- und Militärschulen. Viele junge Leute sind so verschwunden. Zum Glück flohen wir mit Untergrundkämpfern der Widerstandsbewegung. Als wir die Grenze erreichten, sagte der Fluchthelfer: « Vor euch liegt Pakistan, hinter euch euer Heimatland, seht es euch ein letztes Mal an. Ich drehte mich um und sah, soweit das Auge reichte, unsere Fußspuren im tiefen Bergschnee. Vor mir lag eine perfekte, weiße Landschaft. Das war für mich wie ein weißes Blatt, diese Freiheit.

Wie war das, als Sie in Europa ankamen?

Ich hatte einzig das Gefühl von Freiheit. Auch wenn Kultur, Architektur und Mentalität nicht vergleichbar sind, fühlte ich mich nicht in die Fremde verpflanzt. Als ich Kabul verließ, war es eine moderne, lebendige, westlich orientierte, von kriegerischen Auseinandersetzungen verschonte Stadt. In der Uni flirteten wir mit Mädchen, besuchten Diskotheken und ausländische Restaurants. Ich ging täglich ins Quick Snack, um auf einer wunderbaren Terrasse Wein zu trinken. In Musikzentren hörte ich Musik aus der ganzen Welt. Viele Ausländer lebten damals in Kabul. Im Goethe-Institut sah ich Übertragungen von Fußballspielen und im Französischen Kulturzentrum entdeckte ich die Nouvelle Vague.

Die meisten nach Europa geflohenen Afghanen leben in Deutschland. Aus welchen Gründen entschieden Sie sich, nach Frankreich ins Exil zu gehen?

Meine Schwestern leben in Frankfurt und Prag, meine Eltern inzwischen in Amerika. Nach Frankreich zu gehen war einfacher für mich. In Kabul hatte ich das französische Gymnasium Estiqlal besucht. Ich kannte ein wenig die Sprache, die Literatur und Filme. Als ich hier ankam, waren die Franzosen überrascht, dass ich ihre Filme besser kenne als sie. Wenn ich gefragt wurde, ob ich ein politischer Flüchtling sei, antwortete ich jedes Mal: « Nein, ich bin ein kultureller Flüchtling. » Sowohl Ihr Debüt-Roman « Erde und Asche » als auch Ihr zweites Buch « Die tausend Häuser des Traums und des Schreckens », der unter dem deutschen Titel « Der Krieg und die Liebe » jüngst erschienen ist, sind in Ihren Motiven und Ihrer poetischen Bildsprache von der persischen Kultur zutiefst durchdrungen. Afghanen finden es sehr westlich, wie ich schreibe, was den Stil, die Form, die Brüche und insbesondere die Sprache mit ihren kurzen Sätzen anbelangt. Im Persischen sind die Sätze sehr lang.

In Ihrem Erstlingswerk überleben ein alter Mann und dessen Enkel als Einzige eine Vergeltungsaktion der sowjetischen Besatzungsarmee gegen ihr Dorf. Dem Großvater steht bevor, seinem in einem fernen Bergwerk arbeitenden Sohn den Tod der Seinigen verkünden zu müssen. Sind Schmerz und Trauer autobiografisch verankert?

Die Taliban hatten in meinem Land die Macht übernommen, und die Welt reagierte darauf mit Gleichgültigkeit. Zum einen wollte ich schreibend über die dort herrschende Gewalt nachdenken, zum anderen die Trauerarbeit zum Tod meines Bruders angehen. Er war gestorben, und meine Familie hatte mir fast zwei Jahre lang seinen Tod verschwiegen. Einmal rief ich in Kabul an und sagte, ich hätte gehört, mein Bruder sei tot. « Nein, nein », entgegneten sie, « das stimmt nicht. » Dieses so genannte Spiel beruhte vielleicht auf Respekt, um mich nicht zu verletzen, oder um Trauer zu vermeiden, damit ich nicht leide. Meine Familie fürchtete, ich würde verrückt werden. Später wollte ich die genauen Umstände seines Todes nicht erfahren. Ich hörte die unterschiedlichsten Versionen, eine lautete: Er saß in einem Flugzeug, das mit Nahrung von den Vereinten Nationen eine Luftbrücke nach Kabul bildete, als es von einer Rakete getroffen wurde. Für mich ist sein Tod noch immer abstrakt und irreal. In Ihrem von Le Monde als « karg, berauschend, erschütternd, tief traurig und unvergleichlich » hervorgehobenen Debüt-Roman fragt sich der Protagonist: Was habe ich verbrochen, dass ich am Leben geblieben bin. – Die Toten seien heute glücklicher als die Lebenden.

Hatten Sie angesichts des Todes Ihres Bruders Schuldgefühle?

Ich dachte an den Bruder, den ich nicht mehr gesprochen und der nicht verstanden hatte, warum ich weggegangen war. Zehn Jahre nach meiner Flucht, kurz vor seinem Tod, erhielt ich einen Brief von ihm, in dem er mir Recht gab. Bis dahin hatte er mir nicht verziehen. Wir hatten keine Beziehung mehr zueinander. Die Trauer konnte mich entlasten und mir die Schuldgefühle nehmen. Es ist dieser rasende, nicht verarbeitete Kummer, der die Menschen in Afghanistan verdorben hat. Wenn der Schmerz nicht langsam verschwindet, indem er zu Tränen wird und aus den Augen rinnt, verwandelt er sich in ein Schwert oder im Inneren des Einzelnen in eine Bombe, die eines Tages hochgeht. Wenn man keine Trauerarbeit leistet, unterliegt man dem Gesetz der Rache und gerät in den ewigen Kreislauf von Tragödien, wo man entweder Blut an der Kehle oder an den Händen trägt.

Trauerarbeit als die Lösung?

Das Rachegefühl ist zutiefst menschlich und im Sinne von C. G. Jung archetypisch in unserem kollektiven Unterbewusstsein eingeschrieben. Wichtig sind jedoch die Mittel, die herangezogen werden, um es auszuleben. Wenn es uns gelänge, die Realität, also die konkrete Tötung, in die Vorstellungswelt zu verlagern, könnten wir endlich aus der Logik der Vergeltung aussteigen. Unser persisches Nationalepos Shahnama, das « Buch der Könige », das der Dichter Firdousi im 11. Jahrhundert verfasste, enthält eine Schlüsselszene, in der Rostam im Kampf zweier verfeindeter Clans unwissentlich seinen Sohn Sohrab tötet. Wenn die junge Generation unsere Mythen liest und sich mit ihnen auseinander setzt, wird ihr der imaginäre Akt der Rache eröffnet. In meiner Kindheit erlebte ich noch die alten Geschichtenerzähler, als ich mit meinem Vater durch die Dörfer der Provinz fuhr, in der er Gouverneur war. Sie konnten weder lesen noch schreiben, trugen aber Tausende, Abertausende von Versen der Shahnama auswendig vor. Afghanistan weist eine Analphabetenquote von 95 Prozent auf. Im Rahmen des Literaturhauses werde ich gezielt versuchen, diese alte Tradition zu fördern. Der im römischen Exil lebende König Zahir, der von 1933 bis 1973 in Afghanistan herrschte, meint, es sei schon seinerzeit heikel gewesen, die Blutrache abzuschaffen, da sie in der Scharia, dem religiösen Gesetz des Islams, verwurzelt sei. Als der Islam mit der arabischen Eroberung 642 ins heutige Afghanistan kam, stieß er im Gegensatz zu anderen muslimischen Ländern auf bereits vorhandene Religionen: den Zoroastrismus, die persische Nationalreligion, sowie den Buddhismus. Die von den muslimischen Mystikern übernommenen Religionen verschmolzen mit dem Islam zu einer Einheit. Statt eines erobernden, kämpferischen Islams wünschte ich mir eine Rückbesinnung auf unsere Tradition des Sufismus, jenen Mystizismus, der die Religion als innere Angelegenheit des Menschen auf der individuellen Suche nach Gott versteht. Dieser auf das Verzeihen ausgerichtete Glaube beruht auf der Liebe zu Gott und nicht auf Angst vor ihm und seinen Strafen.

In Ihrem zweiten Roman schildern Sie die Lebensgeschichte einer junge Witwe, die von ihrer Familie bedrängt wird, den Bruder ihres verstorbenen Mannes zu heiraten. Wie sehen Sie die heutige Situation der afghanischen Frau?

In den kleinen Dörfern leben die Frauen noch immer wie zu Zeiten der Taliban. Im Tal von Pandschir, wo der legendäre Militärchef der Nord-Allianz, Massud, geboren wurde, sieht man bis heute keine Frauen. Man darf nicht scheinheilig sein und alles dem Regime der Taliban zuschreiben. Eine solche Argumentationsweise dient nur dazu, die Vergangenheit zu rechtfertigen. Vielmehr sollte unsere Kultur infrage gestellt werden. Schon bevor die Taliban an die Macht kamen, war die Situation der afghanischen Frau problematisch. Ich bin glücklich, dass sich jetzt zumindest in den Städten die Lebensbedingungen der Frauen verbessern. Innerhalb eines Jahres ist ein Wechsel im Bewusstsein der Frauen und Männer festzustellen. Zum Beispiel trugen zu Schulbeginn in diesem Jahr von zehn Schülerinnen acht kein Kopftuch mehr. Dieser Fortschritt ist ermutigend. Wobei er nur einen minimalen Aspekt der schwer wiegenden Probleme der Afghanin darstellt, was ihre politische Mündigkeit, Erziehung, Sexualität und ihr Eheleben anbelangt: Der Mann hat immer noch das Recht, vier Frauen zu haben, selbst wenn er sie nicht alle ernähren kann. Oft nehmen sich Mullahs junge Mädchen, die unter furchtbaren psychologischen Problemen leiden. Diese Themen werden selten angesprochen. Im öffentlichen Diskurs Frankreichs stürzt man sich auf das Kopftuch und fordert auf diktatorische Weise dessen Abschaffung. Wenn man die Bildungs- und Erziehungsarbeit fortsetzt, wird es von allein verschwinden. In Ihrem Roman « Der Krieg und die Liebe » findet ein von Fundamentalisten auf der Straße zusammengeschlagener Mann bei einer fremden Frau Unterschlupf. Unverhoffte Güte im Moment äußerster Verzweiflung. Ich lebe in einem tiefschwarzen Bild und darin leuchtet ein ganz kleiner Fleck, der mir den Weg aus der Dunkelheit weist. Das Schwarze wird mich nie anziehen. Wenn es im Krieg einen Moment des Lachens gibt, dann zählt nur noch dieser. Jedes Mal drängt uns eine unglaubliche Überlebenskraft, alles zu akzeptieren, sich an die schwierigsten Momente anzupassen. Der junge Mann verliebt sich in die Frau, als ihm in der Küche der Geruch von angebratenen Zwiebeln in die Nase steigt. Für mich zählen die einfachsten Dinge: ein Augenblick, ein Essen, ein Film, ein Gedicht, ein Satz, ein Lächeln, ein Blick. Das Leben selbst gibt mir Hoffnung. An den Rest, an Politik, glaube ich nicht so sehr.

Wo fühlen Sie sich heute beheimatet?

Ich weiß es nicht. Vielleicht werde ich später in einem kleinen Dorf in Indien leben. Die gleiche Distanz, die ich gerne zu Menschen wahre, behalte ich zu einer Kultur, zu einem Land bei. So wie ein einziger Mensch einem nicht alles geben kann, kann man auch in einem einzigen Land nicht alles finden. In Frankreich gefallen mir Lebensart und Gastronomie. Die französische Arroganz amüsiert mich. An Holland schätze ich die Malerei, an Deutschland die Philosophie des 19. Jahrhunderts, die klassische Musik und Frankfurter Würstchen. An Afghanistan liebe ich die Küche, Kleidung und dessen mystische Vergangenheit. Ich bin überhaupt kein Patriot und verabscheue jeglichen Nationalismus. Ich lebe nicht in einem Land, ich lebe auf der Welt. Allen Kulturen liegt der Mensch zu Grunde. Den geografischen und historischen Kontext erachte ich nicht als wesentlich, er verleiht den Dingen nur eine Farbe. So wie ich mich nicht als Produkt einer Sozialisierung, Ideologie oder Religion sehe, bin ich einfach ein menschliches Wesen wie Milliarden andere. Ich glaube eher an das Individuum mit seinen Schwächen. Nur weil ich in Afghanistan geboren bin, muss ich nicht Afghane bleiben.

J wie Josephine

Brian Baker, eines der zwölf Adoptivkinder der legendären Tänzerin und Sängerin Josephine Baker, über das Leben im Schloss, im Hotel und die Träume seiner Mutter

Das Hôtel Scribe in Paris ist ein geschichtsträchtiger Ort: Die Lumière-Brüder veranstalteten hier 1895 die erste öffentliche Filmvorführung. Ein Jahr später stellte Wilhelm Conrad Röntgen seine Entdeckung der X-Strahlen vor, die später nach ihm umbenannt werden. 1929 bewarb sich Georg Orwell hier als Tellerwäscher. 1944 hielt General Eisenhower Pressekonferenzen ab, und statt Touristen gingen damals noch namhafte Kriegskorrespondenten ein und aus: Ernest Hemingway, Robert Capa und Lee Miller.

Brian Baker kommt zu spät, er hat sein Portemonnaie im Auto eines Freundes verloren, sagt er. Lang bespricht er mit der Bedienung, was er trinken könnte. Er wägt den Geschmack mancher Mineralwasser-Marken gegeneinander ab, bis er schließlich das passende Getränk gefunden hat: Einen Apfelsaft, s’il vous plaît.

Sie haben mit Ihrer Mutter Josephine Baker und Ihren Geschwistern einmal in diesem Hotel gelebt. Welche Erinnerungen ruft dieser Ort bei Ihnen hervor?

Wir wohnten drei Monate lang hier. Während der Woche gingen wir auf ein Jesuiten-Internat, an den Wochenenden kamen wir hierher. Meine neun Brüder, zwei Schwestern, meine Mutter und ich waren im ganzen Hotel verstreut. Wir Kinder hatten zu dritt, zu zweit oder allein ein Zimmer. Für meine Mutter muss das eine sonderbare Zeit gewesen sein: Ihr Schloss « Les Milandes », in dem wir vorher lebten, war zwangsversteigert worden und ein neues Haus noch nicht in Aussicht. Meine Mutter hatte sich hoch verschuldet.

Dennoch zog sie mit ihrer Großfamilie in ein Grandhotel?

Ich vermute, die damalige Hoteldirektion wird auf sie zugekommen sein und ihr vorgeschlagen haben, mit uns Kindern hierher kommen zu können. Entweder bekamen wir Zimmer, die sowieso leer standen und nicht verrechnet wurden, oder sie zahlte einen speziellen Gruppenpreis für uns alle. Die Leute wussten, dass meine Mutter ruiniert war. Das Fernsehen hatte nach ihrer Galaveranstaltung einen Spendenaufruf von Brigitte Bardot gesendet. Die großzügigen Spenden konnten die dramatische Zwangsversteigerung und anschließende Räumung des Schlosses auch nicht mehr verhindern.

Wie konnte sich die Situation derartig zuspitzen?

Meine Mutter hat nie glauben wollen, dass sie das Schloss verlieren könnte und sich eingeredet, Gott oder de Gaulle würden es nicht zulassen. Wir Kinder waren in Paris. Sie blieb alleine im Schloss, um es zu verteidigen. Der neue Besitzer wusste nicht, was er machen sollte. Er bestellte fünf Rausschmeißer, jeder bekam 500 Francs. Als meine Mutter sich weiterhin weigerte, das Schloss zu verlassen, haben die Jungs sie mit Gewalt aus der Schlossküche gezerrt. Draußen warteten Fotografen. Das Bild ging dann um die Welt, wie sie in Kopftuch und Bademantel vor die Tür gesetzt wurde.

Haben Sie diesen Umzug nach Paris als eine Art Bruch in Ihrem Leben empfunden?

Ich war 1969 zwölf Jahre alt. Als Kind habe ich mir nicht so viele Fragen gestellt. Immer lebte ich inmitten einer großen Gruppe. Wenn man allein und nicht ständig von anderen umgeben ist, hinterfragt man vielleicht mehr. Ich dachte nur, gut, wir werden jetzt ein paar Monate lang im Hotel wohnen. Meine Mutter hatte uns auch erklärt, dass das eine Übergangslösung sei.

Was bedeutete es für Sie, das mittelalterliche Schloss gegen die Großstadt einzutauschen?

Für uns Landkinder war das eine große Abwechslung. Wir fanden es besonders lustig, auf einmal in Paris zu leben. Meine Mutter ging zu der Zeit wenig auf Tournee. So bestanden unsere Wochenendausflüge aus Restaurant- und Kinobesuchen mit ihr. Das « Café de la Paix » wurde schnell zu unserem Stammlokal. Manchmal sagten wir zu ihr: « Komm, lass uns lieber da drüben ins Selbstbedienungsrestaurant gehen! » So etwas kannten wir nicht vom Land. Nachher haben wir nur noch dort gegessen, denn wir wussten, dass es nicht so teuer war.

Was für ein Verhältnis hatte Josephine Baker zum Geld?

Sie gab es einfach aus, sie konnte überhaupt nicht wirtschaften. Meine Mutter hat sehr viel verdient, aber auch sehr, sehr viel ausgegeben. Sowohl in den Jahren vor der Versteigerung des Schlosses als auch unmittelbar danach bestand sie auf unserem jährlichen Einkaufsritual. Einen Monat vor Weihnachten machte sie fünf Tage lang mit uns zwölf Kindern Einkäufe in den Galeries Lafayette. Die Direktion des Nobelkaufhauses stellte uns immer zwei, drei Verantwortliche zur Verfügung, die sich nur um uns kümmerten. Tagelang probierten wir Kleidung an, forsteten Regale durch und suchten Spielzeug aus. Wir waren glücklich, wobei wir schon vorher wussten, was wir zu Weihnachten bekommen würden. Dieser Shopping-Marathon hat uns immer vollkommen erschöpft. Ich frage mich noch heute, wie das Personal, das uns Kinder betreute, das durchgestanden hat.

War diese Einkaufstour für Ihre 60-jährige Mutter nicht auch ermüdend?

Manchmal ging sie zwischendurch weg und überließ uns den Verkäufern. In der Olympia Music Hall, die ganz in der Nähe lag, konnte sie dann Verabredungen erledigen. Aber sie wollte auf jeden Fall sehen, was wir für Klamotten kauften. Es war die Zeit der Mao-Kragen, des Hippie-Looks. Wir fragten uns immer, wird sie ja oder nein sagen. Manchmal hatten wir Glück, aber manchmal war es ihr zu hippiemäßig.

Wie stand sie zur Hippiekultur?

Die Ideale der Hippies « Peace & Love » befürwortete sie. Sie lehnte nur alles ab, was mit Drogen und Sex zusammenhing. Ihr Kommentar dazu lautete immer: « Ich möchte nicht, dass meine Kinder drogenabhängig werden! » Und zu Sex kein Kommentar.

Das steht im Widerspruch zum freizügigen Leben der Josephine Baker der Goldenen Zwanziger, in denen ihr ein verruchter Ruf vorauseilte. Durch ihre zahlreichen Liebhaber – wie Ernest Hemingway, Georges Simenon und Jean Gabin – wurde sie zum Inbegriff des « Flapper Girls », der emanzipierten Frau.

Die Mutter, die wir kannten, und die junge Künstlerin, das waren nicht ein und dieselbe Person. Wenn wir Kinder sie im Fernsehen – nur mit ihrem berühmten Bananenröckchen bekleidet – in den Zwanzigern tanzen sahen, dann versuchte sie verzweifelt, den Fernseher auszumachen und sagte: « Nein, das ist eine junge Tänzerin, das hat nichts mit mir zu tun! » « Das bist du », riefen wir dann, « Josephine Baker!!! » « Nein, das ist eine Tänzerin aus der Vergangenheit, ich bin eure Mutter! »

Hat sie ihre frivole Vergangenheit geleugnet?

Überhaupt nicht, nur vor uns. Von ihren Freunden habe ich später erfahren, wie ausgelassen sie im Alter von über 60 Jahren Partys feierte und sich über all die « Wer-gerade-mit-wem »-Bettgeschichten aus dem Showbusiness amüsierte.

Es gibt allein sechs verschiedene Versionen, wer Josephine Bakers Vater war. Wie erklären Sie sich, dass in nahezu jeder ihrer Biografien ihr Leben anders verläuft?

Meine Mutter hat versucht, die Spuren ihrer Vergangenheit zu verwischen. Ihren leiblichen Vater hat sie nie gekannt. Dass sie als Achtjährige als Dienstmagd zu Weißen gegeben wurde, weiß man noch. Aber sie wollte vertuschen, was sie zwischen 13 und 18 Jahren erlebt hat: zum Beispiel, als sie St. Louis verließ und nach New York ging. Angeblich hat sie die ersten zwei Nächte im Central Park schlafen müssen. Auch wenn das Spekulationen sind: Wir können nicht wissen, ob sie nicht vergewaltigt wurde. Oder ob Männer sie nicht ausnutzten, als sie ihre allerersten Jobs als Aushilfstänzerin hatte. Über ihre persönlichen Dramen hat sie nie etwas erzählt, auch nicht uns Kindern.

Dabei hat das Pogrom in St. Louis, bei dem 1917 bis zu hundert Schwarze ermordet worden sein sollen, sie als Elfjährige und ihren späteren Kampf gegen Rassenhass zutiefst geprägt.

So wenig sie uns über diese persönlich erlebten Lynchmorde erzählt hat, so viel hat sie mit uns über Rassismus gesprochen. Sie hat uns vermittelt, immer gegen Diskriminierung kämpfen zu müssen. Dabei hat sie uns auch geschildert, wie sie 1963 an der Seite von Martin Luther King am Marsch auf Washington teilgenommen hat. Insgesamt war ihr Blick aber weniger auf das Gewesene als auf die Zukunft gerichtet.

Was für ein Mensch war Josephine Baker?

Sie lehnte jede Form von Narzissmus ab. Sie wollte sich nicht im Fernsehen sehen, nicht Artikel über sich lesen und schon gar nicht ihre eigenen Platten zu Hause hören. Sie ging gerne wegen des Austauschs mit dem Publikum auf die Bühne, alles andere drum herum interessierte sie nicht. Ansonsten könnte man sie vor allem als großzügig und exzessiv bezeichnen. Ihre Entscheidungen waren manchmal völlig willkürlich.

Fällt Ihnen eine bestimmte Situation dazu ein?

Als meine Geschwister und ich das Gymnasium besuchten, hatten wir ein bisschen mehr Taschengeld als unsere Klassenkameraden. Einmal sagte der Schuldirektor zu meiner Mutter: « Madame Baker, Ihre Kinder haben viel mehr Taschengeld als die anderen zur Verfügung. Sie sollten ihnen ein bisschen weniger geben, so wären sie wie die anderen. » Meine Mutter antwortete: « Ja, Sie haben recht. Sie bekommen zu viel. Ich habe mich geirrt. » Von einem Tag auf den anderen gab es überhaupt kein Taschengeld mehr für uns! Null, gar nichts, bis mein Vater Jo Bouillon zurückkam. Meine Eltern lebten schon getrennt, und er besuchte uns nur von Zeit zu Zeit. Sobald er sein Kleingeld auf den Tischen herumliegen ließ, nahmen wir es ihm weg. Irgendwann merkte er das und fragte uns, warum. Wir erklärten ihm, dass wir überhaupt kein Taschengeld mehr bekämen. Beim Essen gab es eine große Diskussion, und mein Vater beschloss, dass wir von nun an auf vernünftige Weise Taschengeld bekommen sollten. Weder zu viel noch zu wenig. Meine Mutter war damit einverstanden. Als er wieder weg war, hat sie es zeitweilig wieder gestrichen. Sie ging auf Tournee und hatte Angst, dass meine älteren Brüder Dummheiten machen oder sich mit ihren Freunden Drogen besorgen.

Wie lebten Sie in dem Schloss?

Das war ein ungewöhnliches, aber alles andere als trauriges Leben. Es ähnelte am ehesten einer ständigen Ferienkolonie: Viele Erwachsene, viele Kinder und viele Tiere. Wir hatten eine Art kleinen Zoo: Papageien, Tukane, Pfauen, Katzen, Hunde und Affen. Tagsüber liefen die Affen im Park herum, nachts mussten sie in große Käfige. Es passierte auch schon mal, dass ein Pavian zu einem kam, um nach Flöhen zu suchen, unter dem Hosenbein oder auf dem Kopf. Am besten setzte man sich dann neben ihn und blieb ganz ruhig. Manchmal machten wir Kinder uns einen Spaß und liefen Grimassen schneidend mit den Affen zum Schlossgitter, hinter dem auch hie und da Paparazzi oder Touristen standen. Die waren dann schnell weg.

Kamen Touristen, um sich Josephine Baker « in echt » anzusehen?

Meine Mutter hat den Tourismus überhaupt erst in diese verlassene Gegend in den Südwesten Frankreichs, den Périgord, gebracht. Damals kannte kein Mensch die hügeligen Landschaften mit ihren Foie- Gras-Produktionen. Meine Eltern haben 1948 das Anwesen mit dem Schloss gekauft und in eine Art Josephineland verwandelt. Das hat Jahre gedauert. Es gab ein Dorf, das sie erweitern ließen, damit die Angestellten dort schlafen konnten. Hinzu kamen ein Hotel, ein Restaurant, ein Theater, ein Golf- und Tennisplatz und ein Wachsfigurenmuseum, das « Jorama », das Szenen aus dem Leben meiner Mutter nachstellte. Wir lebten im höher gelegenen Schloss, an das auch das Dorf angrenzte. Der Park erstreckte sich Hügel abwärts bis zu einem Fluss, wobei der untere Teil für Touristen zugänglich war, ebenso unser Schwimmbecken in J-Form, J wie Josephine. Wie bei einem König waren am Gitter des Schlosses und am Eingang des Theaters die Initialen JO oder JB eingearbeitet.

Sie sagten zuvor, Ihre Mutter habe jede Form von Narzissmus abgelehnt.

Sie war immerhin Amerikanerin! Das ist eher hollywoodmäßig. Und die Namen meiner Eltern hatten dieselben Anfangsbuchstaben: Joseph Boullion und Josephine Baker.

Welche Rolle nahm Ihr Vater, der fünfte Ehemann von Josephine Baker, bei Ihrer Erziehung ein?

Wenn er da war, kümmerte er sich als Vater um uns und versuchte, uns zu erziehen. Wir Kinder waren noch ganz klein, als meine Eltern sich trennten. Das Schloss war das Universum meiner Mutter, ihr Zuhause. Sie hatte alles initiiert, er blieb immer im Hintergrund und half, ihre Ideen zu verwirklichen. Wenn einer gehen musste, dann er. Er eröffnete in Buenos Aires ein Lokal, so sahen wir ihn nicht so oft.

Wie war er im Vergleich zu Ihrer Mutter?

Viel ausgeglichener! Wir fanden ihn normaler. Sie war ein bisschen verrückt, eine gute Mutter, aber durchgeknallt. Mit wechselhaften Stimmungen. Man wusste nie, wie sie reagieren würde. Unser Vater war sehr französisch: logisch denkend und vorhersehbar. Er hatte seine Laufbahn als Orchesterleiter aufgegeben, um mit meiner Mutter das Schloss und den angrenzenden Komplex aufzubauen. Ursprünglich war er Violinist gewesen. Als er versuchte, uns ein bisschen Musik beizubringen, hat sie sich dem widersetzt.

Warum?

Sie wollte verhindern, dass ihre Kinder möglicherweise später einen künstlerischen Beruf ergreifen. Kunst sei zu sehr vom Zufall abhängig und mit zu vielen Risiken verbunden. Sie sagte immer: « Ich hatte viel Erfolg und einfach Glück. Mich haben gute Beine unterstützt. Aber ich habe zu viele talentierte oder sogar geniale Künstler herumkrebsen sehen. » Sie war davon überzeugt, dass ihre Kinder einen vollkommen sicheren Beruf, den eines Gentlemans, ausüben sollten. Zum Beispiel wollte sie, dass mein Bruder Akio Diplomat in Japan wird. Am Anfang hatte sie sich sogar in den Kopf gesetzt, dass wir später alle für das Schloss arbeiten würden: Moïse sollte Anwalt, Jean-Claude Notar und ich Buchhalter des Anwesens werden. « Brian, du kannst gut kopfrechnen, ich habe deine Mathenoten gesehen », sagte sie einmal zu mir, « außerdem muss unser Verwalter eines Tages sowieso ersetzt werden. »

Welche Lebenswege haben Ihre Geschwister eingeschlagen?

Jeannot und Luis wohnen heute beide in Monaco: Der eine ist Gärtner, der andere Versicherungskaufmann. Jari ist nach New York gegangen und arbeitet im Restaurant « Josephine ». Moïse starb nach langer Krankheit. Koffi betreibt in Buenos Aires einen Teesalon. Mara ist Steuerbeamte im Osten Frankreichs, Stelina eine ehemalige Stewardess, Hausfrau und Mutter in Treviso. Wir anderen fünf leben in Paris und Umgebung: Noël, der seit der Pubertät wegen Schizophrenie behandelt wird, hat als Tischler in einer Behindertenwerkstatt eine Beschäftigung gefunden. Marianne ist medizinisch-technische Assistentin, Akio wurde Bankkaufmann, Jean-Claude leitet eine Produktion von Dokumentarfilmen, und ich habe mich als einziger für einen künstlerischen Werdegang entschieden. In den 80er-Jahren war ich Schauspieler, heute bin ich Autor und freier Journalist.

Welche Beziehung haben Sie heute zu Ihren Geschwistern?

Wir halten immer noch zusammen, trotz der Entfernungen und Lebenswege, die sich nur mehr oder weniger kreuzen. Wir sehen, sprechen und mögen uns. Geburtstage, Depressionen, Hochzeiten, Sonntage, Weihnachten – wir verpassen keine Gelegenheit, in Kontakt zu bleiben.

Wie ist die Idee Ihrer Mutter, Kinder unterschiedlichster Herkunft und Hautfarbe zu adoptieren und die sogenannte « Regenbogenfamilie » zu gründen, entstanden?

Sie war in Kinder vernarrt. Sobald sie auf der Straße ein Kind sah, blieb sie stehen. Während des Krieges, 1941/42, hatte sie sich als Folge einer Fehlgeburt eine Bauchfellentzündung zugezogen. Fast ein Jahr lang lag sie in Marokko im Krankenhaus. Dort erfuhr sie, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnte. Angeblich war sie das Showbusiness leid und wünschte, sich, nur noch von Kindern und Tieren umgeben zu leben. Sie wollte ihr Ideal der Brüderlichkeit der Rassen, eine Art private Mini-Unesco verwirklichen, wo sie zeigen konnte, dass unterschiedliche Kulturen friedlich miteinander leben können. Sie fing erst an, uns zu adoptieren, nachdem das eigens dafür erworbene Schloss restauriert und die Struktur drum herum aufgebaut war. Zunächst ist sie nach einem wohlüberlegten Plan vorgegangen. In der Pariser Umgebung hat sie mit Jean-Claude und Moïse begonnen. Ein paar Monate später adoptierte sie bei einer reichen Freundin, die in Tokio ein Waisenheim gegründet hatte, Akio, den Koreaner, und Teruya, den Japaner, den sie in Jeannot umbenannte.

Wie stand Ihr Vater der Adoptionsidee Ihrer Mutter gegenüber?

Er hatte an drei, vier, höchstens an sechs Kinder gedacht, aber nicht gleich an zwölf! Nach dem vierten Kind sagte er zu meiner Mutter: « Wir hören jetzt mal auf zu adoptieren, oder? » Sie sagte: « Ja, ja! », und sechs Monate später kam sie wieder mit einem Kind auf dem Arm von einer Tournee zurück. Sie setzte ihn vor die vollendete Tatsache. « Voilà, sieh dir mal den Kleinen an! Koffi kommt von der Elfenbeinküste, sein Stamm wollte ihn mitten in der Savanne zurücklassen, du glaubst doch nicht, dass ich das zugelassen hätte! » Als sie in Venezuela auf indianische Familien stieß, die ihre Kinder dem Meistbietenden verkaufen wollten, nahm sie Mara mit. Danach kamen Luis aus Kolumbien und Jari aus Finnland hinzu. Als meine Mutter an einem Heiligabend in der Olympia Music Hall sang, erfuhr sie von Journalisten, dass ein Kind neben einem Mülleimer am Stadtrand von Paris gefunden worden war. Noch am gleichen Abend ist sie zum Sozialamt gegangen, hat nach dem Jungen gefragt und ihn zu sich genommen. Sie gab ihm den Vornamen Noël, was auf Französisch zugleich Weihnachten bedeutet. Stelina stammte eigentlich aus Marokko. Sie wurde als uneheliches Kind von Freunden meiner Mutter geboren, die mit dem marokkanischen Königshaus verbunden waren. So bekam sie diesen italienischen Namen, damit die Geschichte unter den Teppich gekehrt werden konnte. In Algier wollte meine Mutter im Waisenheim ein Kind für ihre Schwester Margaret adoptieren. Als sie Marianne, uneheliche Tochter einer in Algerien arbeitenden Französin, sah, holte sie sie gleich in ihre Regenbogenfamilie. Im selben Zimmer war ich: Brahim. Der Aussprache wegen hat sie mich Brian genannt. Das macht zwölf!

Hat die Adoption Ihre Identitätsfindung beeinflusst?

Für mich war das nie problematisch. Als Berber muss das in meinen Genen liegen: Ich bin Fatalist. Meine Eltern sind im Algerienkrieg gestorben, und mich hat Josephine Baker adoptiert. Im Heim gab es viele andere Waisen, dennoch hat sie mich ausgesucht, angeblich habe ich sie angesehen und angelächelt. Ich hatte einfach Glück, vielleicht ist das Schicksal? Die meisten meiner Geschwister sehen das ähnlich: Wir haben alle ein besonderes Schicksal, ein außergewöhnliches Leben, aber so sehr auch wieder nicht.

Was halten Sie von den Polemiken, die Adoptionen von Hollywood-Stars auslösen?

Meine Mutter hat sicherlich teilweise auch ihren Status als Star und die fehlenden Reglementierungen der jeweiligen Länder nutzen können, um manche von uns zu adoptieren. Aber bei Madonna war es wirklich: Ich komme und ich nehme. Man kann nur hoffen, dass es nicht nur eine Laune von ihr war. Aber, wenn sie sich gut um das Kind kümmert, warum nicht? Wobei der besagte Junge aus Malawi kein Baby mehr war. Wenn man adoptiert, sollte man eher Säuglinge zu sich nehmen. Ältere Kinder reißt man aus ihrem bisherigen Lebensraum heraus, was dann später zu Hinterfragungen führen kann. Als unsere Mutter uns adoptierte, waren wir alle jünger als ein Jahr. Manche der Frauen, wie Angelina Jolie oder Mia Farrow, die sich für Adoptionen entscheiden, haben auf Josephine Baker verwiesen. Zum Glück sind es nicht nur Prominente, die dem Beispiel folgen.

Es wurde verbreitet, Josephine Baker habe die jeweilige Herkunft ihrer Kinder bei der Erziehung berücksichtigt. Stimmt das?

Moïse hat sie immer als den Israeli vorgestellt, dabei war er Franzose jüdischen Ursprungs. Auf Reisen sagte sie stets zu Journalisten: « Das ist der Jude, Moïse, setz deine Kippa auf! » Als er älter wurde, hat sie nicht mehr darauf bestanden, dass er sie trägt, schließlich war er nie in eine Synagoge gegangen! Sie hatte es sich als Gläubige zum Ziel gesetzt, dass wir Kinder religiöse Grundlagen vermittelt bekommen. Aber als der eigens für mich eingestellte ägyptische Hauslehrer mit mir gen Mekka beten wollte, habe ich ihm in die Hand gebissen. Mit dem Koran sind wir auch nicht sehr weit gekommen, denn schon bald wurde der Lehrer wieder entlassen. Ursprünglich sollte er mir die arabische Sprache und Kultur beibringen. Meine Mutter hat mich immer als den kleinen Araber präsentiert.

Hat sie ihre unterschiedlichen Ursprünge für eine mediale Inszenierung instrumentalisiert?

Für sie verkörperten wir vor allem ihr Ideal der universellen Brüderlichkeit. Auch wenn es eine impulsive Entscheidung von ihr war, mich zu adoptieren, hat es ihr sicherlich besonders gut gefallen, dass von nun an ein Araber neben einem Juden in Frieden aufwachsen würde.

Inwiefern hatten Sie eine vertrauliche, persönliche Beziehung zu Ihrer Mutter?

Sie konnte nicht die Mutter von jedem von uns sein. Oft ging sie auf Tournee, um Geld zu verdienen. Ihre Schwester Margaret und deren Mann oder andere Erwachsene waren für uns da. Wenn man zu zwölft ist, hat man eine Mutter, die sich um eine Gruppe, aber nicht um einen persönlich kümmert. Wie in jeder kinderreichen Familie ist das ein wenig frustrierend. Manchmal hätte ich mir gewünscht, sie nur für mich alleine zu haben, sie nicht mit den anderen teilen zu müssen.

Gab es nie Situationen, in denen Sie mit Ihrer Mutter alleine waren?

Selten, aber doch! Einmal kam ich zu spät zur Schule und wurde nicht mehr in die Klasse gelassen. Da lebten wir inzwischen dank Grace Kelly in einer Villa in einem Dorf an der Côte d’Azur, das unmittelbar an Monaco grenzte. Jedenfalls konnte ich nicht gleich den Schulbus nach Hause nehmen, denn meine Mutter war zufälligerweise da. So trat ich den Heimweg zu Fuß an. Als ein Regenguss losbrach, habe ich mich extra nicht untergestellt, um völlig durchnässt eine gute Ausrede zu haben: Mir sei furchtbar kalt, ich hätte vergeblich auf den Bus gewartet. Meine Mutter hat mich dann abgetrocknet, ins Bett gesteckt, mir Medikamente geholt und Tee gemacht. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, gelogen zu haben, aber ich genoss es einfach, dass sie mich alleine umsorgte. Manchmal nahm sie einen von uns auf Reisen mit, auch in unsere Herkunftsländer. Das waren besondere Momente.

Suchte Ihre Mutter auch eine stärkere Nähe zu jedem einzelnen von ihnen?

In unsere Ursprungsländer reiste sie mit uns vor allem, weil es dem Projekt der universellen Brüderlichkeit nutzen sollte. Sie wusste, dass Fernsehen und Presse über unsere Reise berichten und Politiker es mitbekommen würden. Sie machte das weniger, um ganz allein mit einem von uns zu sein. Sie wünschte sich, dass ihre Idee der Regenbogenfamilie weltweit um sich greift. Deshalb hat sie ihre Utopie so deutlich nach außen getragen. Das war alles ein bisschen merkwürdig, aber auch nicht traumatisierend.

Berliner Zeitung

Der Peter-Pan- Komplex, Gespräch mit Michel Onfray über den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy

Der französische Philosoph Michel Onfray hält Präsident Sarkozy für ein schlecht erzogenes Kind, das nie erwachsen geworden ist. Ein Gespräch über den Spielzeugladen der Republik: Der Peter-Pan-Komplex

Monsieur Onfray, Frankreich scheint in einem auffallenden Spannungsverhältnis zu stehen: Es wird gestreikt und demonstriert, während im Elysée-Palast ein Präsident versucht, die « Grande Nation » glorreich zu verkörpern. Leidet Frankreich am Sonnenkönig-Komplex?

Wissen Sie, Frankreich hat sich nie wirklich davon erholt, Ludwig XVI. enthauptet zu haben! Seitdem schwankt es zwischen dem Wunsch nach einem König und dem Wunsch nach seiner Enthauptung. Anders gesagt: Das Volk wählt seinen Staatspräsidenten direkt, macht aber zugleich die Straße zum Austragungsort der Politik. General de Gaulle hielt die richtige Distanz, indem er sich, das war im April 1969, der Enthauptung durch ein Referendum aussetzte. Bei ihm war das eine klare Sache: Ich habe keinen Rückhalt mehr im Volk, dann trete ich zurück! Andere Zeiten, andere Sitten: Heutige Berufspolitiker tun alles, um an die Macht zu gelangen. Wenn sie dort angekommen sind, tun sie weiter alles, um dort zu bleiben. Währenddessen träumt das Volk davon, den König abzusetzen.

Sie haben Sarkozy zweimal für eine Recherche getroffen. Wie würden Sie ihn beschreiben?

Wie ein Mensch, der unter einer Art Peter-Pan-Komplex leidet: Dieser Mann hatte keine Kindheit, er mag die Kindheit nicht, er mag seine Kindheit nicht, er hasst die Vergangenheit, seine Vergangenheit, er hat keine Ahnung von Geschichte, und es fällt ihm sogar schwer, in der Gegenwart zu leben. Er ist von der Zukunft besessen, dem nächsten Tag und unfähig, heiter und gelassen zu sein. Bei diesem Gespräch meinte Sarkozy, Pädophilie und Homosexualität seien genetisch bedingt. Seine Äußerungen wurden weltweit kommentiert. Er hat mir auch erklärt, er habe seine Persönlichkeit darüber aufgebaut, dass er ständig Grenzen überschritten und Gebote übertreten habe. Ich erinnere daran, dass dieser Mann zu der Zeit, als er dieses Loblied auf die Überschreitung hielt, Innenminister war und das höchste Amt der französischen Republik anstrebte! Inzwischen ist er Staatsoberhaupt und lebt noch immer nach diesem Prinzip: ungeduldig, ungestüm, unruhig, sprunghaft und transgressiv wie ein Kind, das sich über die Gesetze, den Vater, die Vorschriften des Vaters hinwegsetzt. Hinter seiner angeblichen Modernisierung des Amtes verbirgt sich eigentlich eine permanente transgressive Handlungsweise. Von seinem Liebesleben, seinen Medienauftritten, bis zu seinem Verhältnis zur Politik, die er nur aus machtpolitischer Perspektive betrachten kann. Der Fluch, der auf ihm – und damit auch auf uns – lastet, besteht darin, dass er keinen Sinn für Geschichte, keinen Sinn für die Vergangenheit hat.

Wie deuten Sie Sarkozys Äußerung, nichts schiene ihm absurder, als das Sokratische « Erkenne dich selbst »?

Diese Aufforderung ist für ihn das Gefährlichste schlechthin. Er weiß, wenn er sich auf die Suche nach seinem Selbst, auf die Suche nach seinem tiefsten Wesen begeben würde, dass er dann Ungeheuer entdecken müsste. Instinktiv weiß er, dass er nicht in diese Richtung gehen darf, wenn er keine Geister wecken will.

Wenn Sarkozy erklärt, er sei « ein Mann wie jeder andere, der morgens aufsteht und abends schlafen geht », gibt er, indem er es so betont, damit nicht preis, genau das Gegenteil davon zu denken?

Absolut.

Vor den Verhandlungen um die Sonderrenten der Eisenbahner ließ Sarkozy sein Gehalt um 170 Prozent erhöhen.

Wie haben Sie diese Geste aufgefasst?

Als Beleg seiner Vorliebe, sich an keine Normen zu halten. Diese Unverfrorenheit ist eines Erwachsenen unwürdig, aber sie sagt viel über das Verhalten eines Kindes aus, das sich ohne Hemmungen im Spielzeugladen der Republik bedient.

Wie deuten Sie seine besondere Vorliebe für Luxus, für Milliardärsfreunde und seine Lust diese – unter dem Vorwand der Transparenz – zur Schau zu stellen?

Wie eben: Dieselbe Schamlosigkeit eines schlecht erzogenen Kindes, die auf seinem Verlangen beruht, unbedingt etwas haben zu wollen, da ihn das eigene Dasein nicht erfüllt. Er ist nur das, was er hat, so wie alle, die ihre Existenz auf Geld, Macht, Ansehen und den Blick der Anderen aufgebaut haben.

Wie deuten Sie Sarkozys Redeweise: häufiges Duzen, simple Sätze und ein Sprachniveau, das sich deutlich von seinen Vorgängern absetzt?

Ich sehe darin die Rüpelhaftigkeit eines Emporkömmlings, der über Bräuche, Konventionen, Symbole und Höflichkeit hinweggeht. All diese Zeichen unserer Zivilisation zeigen, dass sich unser Dasein nicht auf unsere unmittelbare Gegenwart beschränken lässt, sondern in der Vergangenheit verankert ist. Das versteht dieser Staatspräsident aber nicht. Die Kumpelhaftigkeit, die er Ihrer Kanzlerin gegenüber gezeigt hat, offenbart das infantile Verhalten desjenigen, der es immer noch nicht glauben kann, am Tisch der Großen sitzen zu dürfen. Er umarmt Madame Merkel und klopft Benedikt XVI. auf die Schulter, als seien das seine Kumpels aus der Grundschule.

Sarkozy hat die ungeschriebenen präsidialen Kleidungsvorschriften reformiert. Er ist in Jeans, T-Shirt mit dem Logo der New Yorker Polizei sowie Fliegerbrille zu sehen und joggt in kurzen Hosen. Was halten Sie von diesem für Chirac oder De Gaulle undenkbarem Aufzug?

Diese Kleidung drückt aus, dass sich dieser Mann in einer Welt der kurzen Hosen bewegt, anders gesagt, in einer Welt von nicht mal Zehnjährigen, wie im Film « Krieg der Knöpfe ». Sich so zur Schau zu stellen, ist nicht nur infantil und lächerlich, es ist jämmerlich.

Sind die Franzosen mit einem Präsidenten, der sein Privatleben wie einen Fotoroman ausstellt, wieder am Hofe von Versailles?

Ja, darum geht es: Aufstehen des Königs, Frühstück des Königs, Mittagsmahl des Königs, Souper des Königs, Stuhlgang des Königs, Schleimauswurf des Königs (übrigens, einer der Ärzte Ludwigs XV. hieß Chirac), Garderobe des Königs, Zerstreuung des Königs, Spiele des Königs, Sport des Königs, Ferien des Königs, Gemahlin des Königs, Mätressen des Königs, Favoriten des Königs, Mutter des Königs, Reisen des König und so weiter.

Während der Eisenbahner-Streiks hat Sarkozy seine Scheidung bekannt gegeben. Und unmittelbar nach dem für ihn kompromittierenden Besuch von Gaddhafi hat er seine Beziehung zu Carla Bruni verkündet. Instrumentalisiert er gezielt sein Privatleben, um von seiner Politik abzulenken?

Er nimmt die ganze Zeit die Medien in Anspruch, rund um die Uhr, so dass es sich bei ihm weniger um eine Strategie oder Kommunikationstaktik als um eine Non-Stop-Bilderflut des Königs handelt, ein Bild jagt das andere.

Was bedeutet so ein « TV-Präsident » für die Demokratie des Landes?

Den Siegeszug der selbstständig funktionierenden Maschinen in der Politik, in erster Linie die europäische Bürokratie, die den Staat in eine Instanz zur bloßen Absegnung ihrer Entscheidungen verwandelt. So hat der Staatspräsident zwischen zwei Unterschriften nichts anderes mehr zu tun, als seinen Körper in Szene zu setzen, wodurch seine nicht mehr vorhandene politische Macht kaschiert wird.

Ist das Sarkozys Methode: Durch sein Handeln eine bestimmte Position zu beziehen und sogleich in seinen Reden die gegenteilige Position einzunehmen?

Nein, er lebt nur im Moment und sucht den darauf folgenden Moment. Er glaubt an das, was er im Augenblick sagt, während er es sagt. Das Gesagte erlischt noch in der Sekunde, in der es ausgesprochen wird. Von nun an ist alles möglich, besonders der Widerspruch. Kohärenz setzt eine klare Linie voraus, die dem Verlauf der Zeit gehorcht. Sarkozy ist unfähig, diese Zeitachse zu begreifen. Um bei dieser geometrischen Metapher zu bleiben: Als Opfer seiner Unfähigkeit in der realen Zeit zu leben, hüpft er ständig auf dem gleichen Punkt. Er ist dazu verurteilt, mit dem Zeitgefühl eines Kindes zu leben, in der ewigen Gegenwart.

Was halten Sie davon, dass sich Sarkozy immer wieder auf Leitfiguren der Linken wie Leon Blum, Guy Moquet und sogar François Mitterrand beruft?

Henri Guaino, sein Redenschreiber, der für ihn denkt, will Sarkozys Unfähigkeit, in der realen Zeit zu leben, durch Reden ausgleichen, die breit angelegte historische Fresken sind. Dieser Ghostwriter hat einen sehr ausgeprägten Sinn für Geschichte. Und Nicolas Sarkozy spielt die ihm zugewiesene Rolle wie ein Schauspieler, der jede Stunde das Stück wechselt. Damit ihm das De-Gaulle-Kostüm passt, legt ihm sein Berater romantische Versatzstücke in den Mund – Chateaubriand, Hugo oder Michelet. Mit diesen Phrasen kann er sich zwar nicht im politischen Geschäft behaupten, aber ohne großen Aufwand seinen Platz in der Geschichte finden. Eine sehr geschickte politische Vorgehensweise, die zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt, denn gleichzeitig wird der ohnehin schon blutarmen Linken das Blut ausgesaugt, indem man sich ihrer Symbole bemächtigt.

Sarkozy hat linke Politiker als Minister und Staatssekretäre unter dem Motto der « Öffnung » in seine rechte Regierung geholt.

Diese Abwerbung ist eigentlich gar keine. Der Übertritt von liberalen Sozialisten zu den Liberalen von Sarkozy zeigt, dass sich die angebliche sozialistische Linke oft nur in Form, Personal und Stil von der echten Rechten unterscheidet. Mitterands liberale Wende in der Wirtschaftspolitik von 1983 zeigt, dass der Sozialismus, wie der « Sarkozyismus », den liberalen Kapitalismus bedient, obwohl sie beide ihre jeweiligen Ideologien hartnäckig beibehalten. Die Bipolarisierung der französischen Politik ist nur Fassade. Alles ist so angelegt, dass es die Liberalen sind, egal ob von rechts oder links, die bei den Wahlen gewinnen. Außer Opportunismus, Karrierismus, Geschmack an Privilegien, ist es die globalisierte Sicht, dass Geld alles bestimmt, die diese so genannten linken Politiker zu Sarkozy führt.

Herrscht nach den Vorstadtkrawallen im Winter 2005 und den Gewaltausbrüchen im November 2007 ausreichend politischer Wille, die Lebensbedingungen in den Stadtrandgebieten zu verbessern?

Nein, die liberale Politik erzeugt gesellschaftlichen Abfall, auf den sie mit Repression und Polizeigewalt reagiert. Als die liberale Linke damit konfrontiert war, hat sie kaum etwas anderes gemacht.

Ist es nicht ein gutes Zeichen, dass aktuelle Regierungsmitglieder aus der zweiten Einwanderergeneration stammen?

Das ist PR! Sarkozy entscheidet alles allein. Jeder Minister muss seinen Aufsatz gegenlesen lassen, bevor er in der Presse erscheint. Das sind nur Pixel-Effekte, Vorwände, für die ein paar Machthungrige sich hergeben.

Die Justizministerin Rachida Dati und die Staatssekretärin für Menschenrechte Rama Yade, beide aus der zweiten Einwanderergeneration, sind auffallend fotogen. Dati posiert in Dior für die Boulevardpresse, Yade erscheint auf der Titelseite einer Psychologiezeitschrift. Sind wir in einer neuen Ära der politischen Kommunikation?

Sie leben sich auf den Hochglanzseiten als Klon eines Mannes mit Kinderseele aus. Es ist wie in der Fabel von La Fontaine, in der der Frosch sich derart aufbläst, um die Größe des Ochsen zu erreichen, dass er zerplatzt. Sie sind Frösche, die genauso groß wie der Ochse sein wollen.

Monsieur Onfray, bevor Sie den Weg der Philosophie eingeschlagen haben, erlebten Sie den harten Arbeitsalltag in einer Molkerei. Was halten Sie von Sarkozys Slogan « Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen »?

Ich gehöre wirklich nicht zu jenen, die die Arbeit zu einer Religion erklären. Zumal die großen Reichtümer selten durch Arbeit, wenn überhaupt, dann nur durch die der Anderen, sondern vielmehr durch das Kapital entstehen. Die Lohnarbeit ist meistens eine Form der modernen Sklaverei. Denn wer würde weiter arbeiten, wenn man ihm weiter sein Gehalt überweisen würde, ohne dass er jeden Tag zu seinem Arbeitsplatz kommen müsste? Sehr wenige Leute: Künstler oder die, deren Arbeit durch symbolische Bezahlung oder in Form von Macht über andere vergütet wird, was wohl nur für eine Minderheit zutrifft. Man muss weniger Arbeit unter besseren Arbeitsbedingungen anstreben: Historisch gesehen hat die Linke immer in diese Richtung gearbeitet. Wenn sie dies nicht mehr tut, ist sie ihrer ideologischen Substanz beraubt.

In Ihrem auf Deutsch zuletzt erschienenen Buch « Wir brauchen keinen Gott » setzen Sie sich für einen offensiven Atheismus ein. Was halten Sie von Sarkozys Position, es seien « die Religionen, die uns als Erste die universellen Prinzipien der Moral, der Menschenwürde, der Freiheit, der Verantwortlichkeit und der Aufrichtigkeit beibrachten »?

Ich glaube, dass diese Tugenden, die nicht gerade zu denen gehören, die von unserem Staatspräsidenten befolgt werden, aus komplexeren Zusammenhängen als lediglich dem der Religionen hervorgehen. Nicolas Sarkozy zeichnet sich nicht durch eine übermäßige Vorliebe für Literatur, Kultur, Bücher und Philosophie aus. Die christlichen, ethischen Grundwerte basieren auf älteren, ethischen Grundwerten, den griechischen, aber auch den orientalischen, insbesondere den altindischen Religionsschriften. Die Idee einer « universellen Moral » leitet sich bei ihm eher aus dem katholischen Katechismus als aus einer persönlichen philosophischen Überlegung ab. Benedikt XVI. denkt genauso, aber um diese Sichtweise beibehalten zu können, muss man eine lokal beschränkte Position einnehmen: europäisch, weiß und christlich.

Werden Sarkozys sozialpolitische Reformen zu einer definitiven Orientierung Europas zum Liberalismus hin beitragen?

Sarkozy redet nur, deshalb wird er auch von den Medien verhätschelt. In kaum mehr als sechs Monaten hat er alles Mögliche und das Gegenteil davon gesagt. Vor allem hat er eine Politik verfolgt, die von Jacques Chiracs Politik nicht so weit entfernt ist – Afrika, Russland, arabische Welt, China. Er bringt gar nicht so viel durcheinander, und Europa braucht nicht ihn, um eine liberalistische Kriegsmaschine zu sein! Das ist es schon seit einem Vierteljahrhundert.

Glauben Sie, dass wir in Europa nach einigen Jahrzehnten besserer Arbeitsbedingungen wieder einen Raubtierkapitalismus erleben?

Der Kapitalismus ist eine blinde Produktionsweise von Reichtum. Der Liberalismus ist ein Modus, den vom Kapitalismus produzierten Reichtum aufzuteilen: Er gibt jenen, die schon haben und erzeugt Verarmung, das heißt, die Vermehrung des Reichtums der Reichen und die Vermehrung der Armut der Armen. Dementsprechend sind es immer weniger Reiche, die immer reicher werden, während immer mehr Arme immer ärmer werden.

Welches Bild vom Individuum haben die Rechten und Linken, und welche Rolle schreiben sie demnach der Gesellschaft zu?

Die Rechte glaubt an das Individuum nach dem Gesetz der Wildnis. Sie lässt alles so laufen, wie es ist, und behauptet, dass die Tauglichsten sich anpassen, überleben und sich durchsetzen werden. Die Linke behauptet, dass wir uns zwar de facto in der Wildnis befinden, dass nach Darwin, den wir nie ganz lesen, aber auch Solidarität und gegenseitige Hilfe genauso wie die Anpassungsfähigkeit der Stärksten oder Klügsten zu unseren natürlichen Veranlagungen zählen. Die Rechte will eine Gesellschaft, die die Kräfte der Wildnis freisetzt. Die Linke will eine Gesellschaft, die auf Humanität und Solidarität aufbaut und auf das Mitgefühl für die Opfer der Brutalität der Ersten.

Sie vertreten eine hedonistische Philosophie und eine dementsprechende Ethik. Wie würden Sie eine hedonistische Politik beschreiben?

Helvétius, ein Philosoph der Aufklärung, definiert sie vor der Französischen Revolution so: « Das größte Glück der größten Zahl ». Ich glaube, dass diese Aussage weiter aktuell ist und ein immenses Potenzial für die Gegenwart und Zukunft in sich birgt. Der Liberalismus verwirklicht das Glück von einigen Wenigen auf Kosten der großen Menge. Er impliziert, hart gegenüber den Schwachen und schwach gegenüber den Starken zu sein. Aufgrund meines Antiliberalismus denke ich, dass man das Glück der größten Menge anstreben muss und dass man eine Politik machen muss, die unnachgiebig mit den Starken und milde mit den Schwachen umgeht. Wie Sie sehen, ist diese Politik eine Ethik. Der Hedonismus wird häufig missverstanden. Er hat einen schlechten Ruf und überall Feinde. Es reicht zu behaupten, Hedonismus ist gleich egoistischer, körperlicher, konsumorientierter Genuss, um sich nicht mit meinen Thesen auseinandersetzen zu müssen. Ich habe zwei Volkshochschulen gegründet, in denen ich ehrenamtlich unterrichte. Ich stecke Zeit und Energie hinein, vom Geld ganz zu schweigen. All meine beruflichen Kontakte stelle ich zwei Provinzstädten in der Normandie zur Verfügung. In einer der Städte, Argentan, wo ich herkomme, habe ich die « Volkshochschule des Geschmacks » ins Leben gerufen, um im Rahmen eines Garten-Projekts mit einem Verein zur Resozialisierung von Menschen in Schwierigkeiten zusammenzuarbeiten. Wie könnte mein Hedonismus mondän, pariserisch, konsumorientiert und egozentrisch sein? Hedonismus ist ein komplexes Spiel mit Freuden, das die Freude der anderen mit beinhaltet.Ein Ersatz für die Revolution zur Aneignung des Staatsapparates.Wissen Sie, der Staat ist nicht mehr der einzige Ort der Macht, daher erübrigt sich das Konzept einer Revolution zur Aneignung des Staatsapparates. Das ist übrigens eine der Lehren von Michel Foucault. Da derselbe Philosoph schreibt, dass « die Macht überall ist », bedarf es folglich überall der Gegenmächte. Die Revolution wird somit zur mikrologischen Angelegenheit, denn sie ist eine Antwort auf die dominierende Macht, die auch mikrologisch ist. Die Summe aller Mikro-Widerstände gegenüber den Mikro-Faschismen kann die herrschende Macht wirklich bremsen. Durch das, was ich das Gulliver-Prinzip nenne: Viele kleine miteinander verbundene Punkte können den Riesen Gulliver endgültig aufhalten. Es bedarf nur der Vernetzung dieser Mikro-Widerstände. Die Mikro-Widerstände sind effizient, auch wenn sie nicht unbedingt sehr sichtbar sind. Dort, wo der eine den anderen ausbeutet, unterdrückt, muss man sich durch Verweigerung entgegensetzen. Die Macht gibt es nur, weil diejenigen, auf die sie ausgeübt wird, sich ihr beugen. Das ist eine der bedeutenden Lehren von La Boétie, dem Freund von Montaigne, der in der Politik mein Lehrmeister ist, im Übrigen ein Lehrmeister für alle Libertären. Es reicht, dass man der Macht nicht mehr zustimmt, und sie bricht von alleine zusammen.

Können Sie ein Beispiel für einen Mikro-Widerstand nennen?

Nehmen wir den Feminismus. Man kann die Gesellschaft reformieren, ihre Gesetze ändern, neue vorschlagen wollen, man kann aber auch im konkreten Alltagsleben Widerstand gegen Mikro-Herrschaftsverhältnisse leisten: Die Aufteilung der Haushaltsarbeit, die hauptsächlich Mann und Kindern gewidmete Zeit, die einseitig gefassten Entscheidungen. All das stellt politische Wirkungsbereiche dar, in denen die Mikro-Widerstände greifen. Ich bin für eine permanente Mikro-Revolution, hier und jetzt, mit konkreten, unmittelbaren Auswirkungen, und nicht für eine Makro-Revolution in ferner Zukunft, die nie eintreten wird.

Haben Sie aus diesem Grund die « Université Populaire » gegründet?

Ja, sicher. Ich wollte nicht das französische Uni-System reformieren, Projekte vorschlagen und auf eine bessere Zukunft und die Politiker hoffen. Ich habe mich entschieden, hier und jetzt, politisch zu handeln. Zusammen mit ein paar Freunden haben wir dann 2002 die freie Volkshochschule in Caen aufgebaut. Sie steht jedem offen und ist kostenlos, man muss sich nicht einschreiben, wir verlangen keinerlei Zeugnis, kein bestimmtes Bildungsniveau und keine persönlichen Daten. Es gibt keine Prüfungen und auch kein Diplom. Das von uns angebotene Wissen soll dazu dienen, auf sich selbst und dann die Welt wirken zu können. Wir sind etwa fünfzehn Leute, die unentgeltlich Kurse über Feminismus, Politik, Psychoanalyse, zeitgenössische Kunst, Film, Literatur, Geschichte, Jazz sowie einen Philosophie-Workshop für Kinder geben. Ich selber biete 21 Kurse im Jahr an, die wöchentlich stattfinden. In der ersten Stunde stelle ich eine wissenschaftliche Arbeit vor, in der zweiten wird dann darüber diskutiert. Jede Woche kommen über 750 Menschen in den Hörsaal zu meiner Vorlesung über die Gegengeschichte der Philosophie.

Berliner Zeitung