Der französische Philosoph Michel Onfray hält Präsident Sarkozy für ein schlecht erzogenes Kind, das nie erwachsen geworden ist. Ein Gespräch über den Spielzeugladen der Republik: Der Peter-Pan-Komplex

Monsieur Onfray, Frankreich scheint in einem auffallenden Spannungsverhältnis zu stehen: Es wird gestreikt und demonstriert, während im Elysée-Palast ein Präsident versucht, die « Grande Nation » glorreich zu verkörpern. Leidet Frankreich am Sonnenkönig-Komplex?

Wissen Sie, Frankreich hat sich nie wirklich davon erholt, Ludwig XVI. enthauptet zu haben! Seitdem schwankt es zwischen dem Wunsch nach einem König und dem Wunsch nach seiner Enthauptung. Anders gesagt: Das Volk wählt seinen Staatspräsidenten direkt, macht aber zugleich die Straße zum Austragungsort der Politik. General de Gaulle hielt die richtige Distanz, indem er sich, das war im April 1969, der Enthauptung durch ein Referendum aussetzte. Bei ihm war das eine klare Sache: Ich habe keinen Rückhalt mehr im Volk, dann trete ich zurück! Andere Zeiten, andere Sitten: Heutige Berufspolitiker tun alles, um an die Macht zu gelangen. Wenn sie dort angekommen sind, tun sie weiter alles, um dort zu bleiben. Währenddessen träumt das Volk davon, den König abzusetzen.

Sie haben Sarkozy zweimal für eine Recherche getroffen. Wie würden Sie ihn beschreiben?

Wie ein Mensch, der unter einer Art Peter-Pan-Komplex leidet: Dieser Mann hatte keine Kindheit, er mag die Kindheit nicht, er mag seine Kindheit nicht, er hasst die Vergangenheit, seine Vergangenheit, er hat keine Ahnung von Geschichte, und es fällt ihm sogar schwer, in der Gegenwart zu leben. Er ist von der Zukunft besessen, dem nächsten Tag und unfähig, heiter und gelassen zu sein. Bei diesem Gespräch meinte Sarkozy, Pädophilie und Homosexualität seien genetisch bedingt. Seine Äußerungen wurden weltweit kommentiert. Er hat mir auch erklärt, er habe seine Persönlichkeit darüber aufgebaut, dass er ständig Grenzen überschritten und Gebote übertreten habe. Ich erinnere daran, dass dieser Mann zu der Zeit, als er dieses Loblied auf die Überschreitung hielt, Innenminister war und das höchste Amt der französischen Republik anstrebte! Inzwischen ist er Staatsoberhaupt und lebt noch immer nach diesem Prinzip: ungeduldig, ungestüm, unruhig, sprunghaft und transgressiv wie ein Kind, das sich über die Gesetze, den Vater, die Vorschriften des Vaters hinwegsetzt. Hinter seiner angeblichen Modernisierung des Amtes verbirgt sich eigentlich eine permanente transgressive Handlungsweise. Von seinem Liebesleben, seinen Medienauftritten, bis zu seinem Verhältnis zur Politik, die er nur aus machtpolitischer Perspektive betrachten kann. Der Fluch, der auf ihm – und damit auch auf uns – lastet, besteht darin, dass er keinen Sinn für Geschichte, keinen Sinn für die Vergangenheit hat.

Wie deuten Sie Sarkozys Äußerung, nichts schiene ihm absurder, als das Sokratische « Erkenne dich selbst »?

Diese Aufforderung ist für ihn das Gefährlichste schlechthin. Er weiß, wenn er sich auf die Suche nach seinem Selbst, auf die Suche nach seinem tiefsten Wesen begeben würde, dass er dann Ungeheuer entdecken müsste. Instinktiv weiß er, dass er nicht in diese Richtung gehen darf, wenn er keine Geister wecken will.

Wenn Sarkozy erklärt, er sei « ein Mann wie jeder andere, der morgens aufsteht und abends schlafen geht », gibt er, indem er es so betont, damit nicht preis, genau das Gegenteil davon zu denken?

Absolut.

Vor den Verhandlungen um die Sonderrenten der Eisenbahner ließ Sarkozy sein Gehalt um 170 Prozent erhöhen.

Wie haben Sie diese Geste aufgefasst?

Als Beleg seiner Vorliebe, sich an keine Normen zu halten. Diese Unverfrorenheit ist eines Erwachsenen unwürdig, aber sie sagt viel über das Verhalten eines Kindes aus, das sich ohne Hemmungen im Spielzeugladen der Republik bedient.

Wie deuten Sie seine besondere Vorliebe für Luxus, für Milliardärsfreunde und seine Lust diese – unter dem Vorwand der Transparenz – zur Schau zu stellen?

Wie eben: Dieselbe Schamlosigkeit eines schlecht erzogenen Kindes, die auf seinem Verlangen beruht, unbedingt etwas haben zu wollen, da ihn das eigene Dasein nicht erfüllt. Er ist nur das, was er hat, so wie alle, die ihre Existenz auf Geld, Macht, Ansehen und den Blick der Anderen aufgebaut haben.

Wie deuten Sie Sarkozys Redeweise: häufiges Duzen, simple Sätze und ein Sprachniveau, das sich deutlich von seinen Vorgängern absetzt?

Ich sehe darin die Rüpelhaftigkeit eines Emporkömmlings, der über Bräuche, Konventionen, Symbole und Höflichkeit hinweggeht. All diese Zeichen unserer Zivilisation zeigen, dass sich unser Dasein nicht auf unsere unmittelbare Gegenwart beschränken lässt, sondern in der Vergangenheit verankert ist. Das versteht dieser Staatspräsident aber nicht. Die Kumpelhaftigkeit, die er Ihrer Kanzlerin gegenüber gezeigt hat, offenbart das infantile Verhalten desjenigen, der es immer noch nicht glauben kann, am Tisch der Großen sitzen zu dürfen. Er umarmt Madame Merkel und klopft Benedikt XVI. auf die Schulter, als seien das seine Kumpels aus der Grundschule.

Sarkozy hat die ungeschriebenen präsidialen Kleidungsvorschriften reformiert. Er ist in Jeans, T-Shirt mit dem Logo der New Yorker Polizei sowie Fliegerbrille zu sehen und joggt in kurzen Hosen. Was halten Sie von diesem für Chirac oder De Gaulle undenkbarem Aufzug?

Diese Kleidung drückt aus, dass sich dieser Mann in einer Welt der kurzen Hosen bewegt, anders gesagt, in einer Welt von nicht mal Zehnjährigen, wie im Film « Krieg der Knöpfe ». Sich so zur Schau zu stellen, ist nicht nur infantil und lächerlich, es ist jämmerlich.

Sind die Franzosen mit einem Präsidenten, der sein Privatleben wie einen Fotoroman ausstellt, wieder am Hofe von Versailles?

Ja, darum geht es: Aufstehen des Königs, Frühstück des Königs, Mittagsmahl des Königs, Souper des Königs, Stuhlgang des Königs, Schleimauswurf des Königs (übrigens, einer der Ärzte Ludwigs XV. hieß Chirac), Garderobe des Königs, Zerstreuung des Königs, Spiele des Königs, Sport des Königs, Ferien des Königs, Gemahlin des Königs, Mätressen des Königs, Favoriten des Königs, Mutter des Königs, Reisen des König und so weiter.

Während der Eisenbahner-Streiks hat Sarkozy seine Scheidung bekannt gegeben. Und unmittelbar nach dem für ihn kompromittierenden Besuch von Gaddhafi hat er seine Beziehung zu Carla Bruni verkündet. Instrumentalisiert er gezielt sein Privatleben, um von seiner Politik abzulenken?

Er nimmt die ganze Zeit die Medien in Anspruch, rund um die Uhr, so dass es sich bei ihm weniger um eine Strategie oder Kommunikationstaktik als um eine Non-Stop-Bilderflut des Königs handelt, ein Bild jagt das andere.

Was bedeutet so ein « TV-Präsident » für die Demokratie des Landes?

Den Siegeszug der selbstständig funktionierenden Maschinen in der Politik, in erster Linie die europäische Bürokratie, die den Staat in eine Instanz zur bloßen Absegnung ihrer Entscheidungen verwandelt. So hat der Staatspräsident zwischen zwei Unterschriften nichts anderes mehr zu tun, als seinen Körper in Szene zu setzen, wodurch seine nicht mehr vorhandene politische Macht kaschiert wird.

Ist das Sarkozys Methode: Durch sein Handeln eine bestimmte Position zu beziehen und sogleich in seinen Reden die gegenteilige Position einzunehmen?

Nein, er lebt nur im Moment und sucht den darauf folgenden Moment. Er glaubt an das, was er im Augenblick sagt, während er es sagt. Das Gesagte erlischt noch in der Sekunde, in der es ausgesprochen wird. Von nun an ist alles möglich, besonders der Widerspruch. Kohärenz setzt eine klare Linie voraus, die dem Verlauf der Zeit gehorcht. Sarkozy ist unfähig, diese Zeitachse zu begreifen. Um bei dieser geometrischen Metapher zu bleiben: Als Opfer seiner Unfähigkeit in der realen Zeit zu leben, hüpft er ständig auf dem gleichen Punkt. Er ist dazu verurteilt, mit dem Zeitgefühl eines Kindes zu leben, in der ewigen Gegenwart.

Was halten Sie davon, dass sich Sarkozy immer wieder auf Leitfiguren der Linken wie Leon Blum, Guy Moquet und sogar François Mitterrand beruft?

Henri Guaino, sein Redenschreiber, der für ihn denkt, will Sarkozys Unfähigkeit, in der realen Zeit zu leben, durch Reden ausgleichen, die breit angelegte historische Fresken sind. Dieser Ghostwriter hat einen sehr ausgeprägten Sinn für Geschichte. Und Nicolas Sarkozy spielt die ihm zugewiesene Rolle wie ein Schauspieler, der jede Stunde das Stück wechselt. Damit ihm das De-Gaulle-Kostüm passt, legt ihm sein Berater romantische Versatzstücke in den Mund – Chateaubriand, Hugo oder Michelet. Mit diesen Phrasen kann er sich zwar nicht im politischen Geschäft behaupten, aber ohne großen Aufwand seinen Platz in der Geschichte finden. Eine sehr geschickte politische Vorgehensweise, die zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt, denn gleichzeitig wird der ohnehin schon blutarmen Linken das Blut ausgesaugt, indem man sich ihrer Symbole bemächtigt.

Sarkozy hat linke Politiker als Minister und Staatssekretäre unter dem Motto der « Öffnung » in seine rechte Regierung geholt.

Diese Abwerbung ist eigentlich gar keine. Der Übertritt von liberalen Sozialisten zu den Liberalen von Sarkozy zeigt, dass sich die angebliche sozialistische Linke oft nur in Form, Personal und Stil von der echten Rechten unterscheidet. Mitterands liberale Wende in der Wirtschaftspolitik von 1983 zeigt, dass der Sozialismus, wie der « Sarkozyismus », den liberalen Kapitalismus bedient, obwohl sie beide ihre jeweiligen Ideologien hartnäckig beibehalten. Die Bipolarisierung der französischen Politik ist nur Fassade. Alles ist so angelegt, dass es die Liberalen sind, egal ob von rechts oder links, die bei den Wahlen gewinnen. Außer Opportunismus, Karrierismus, Geschmack an Privilegien, ist es die globalisierte Sicht, dass Geld alles bestimmt, die diese so genannten linken Politiker zu Sarkozy führt.

Herrscht nach den Vorstadtkrawallen im Winter 2005 und den Gewaltausbrüchen im November 2007 ausreichend politischer Wille, die Lebensbedingungen in den Stadtrandgebieten zu verbessern?

Nein, die liberale Politik erzeugt gesellschaftlichen Abfall, auf den sie mit Repression und Polizeigewalt reagiert. Als die liberale Linke damit konfrontiert war, hat sie kaum etwas anderes gemacht.

Ist es nicht ein gutes Zeichen, dass aktuelle Regierungsmitglieder aus der zweiten Einwanderergeneration stammen?

Das ist PR! Sarkozy entscheidet alles allein. Jeder Minister muss seinen Aufsatz gegenlesen lassen, bevor er in der Presse erscheint. Das sind nur Pixel-Effekte, Vorwände, für die ein paar Machthungrige sich hergeben.

Die Justizministerin Rachida Dati und die Staatssekretärin für Menschenrechte Rama Yade, beide aus der zweiten Einwanderergeneration, sind auffallend fotogen. Dati posiert in Dior für die Boulevardpresse, Yade erscheint auf der Titelseite einer Psychologiezeitschrift. Sind wir in einer neuen Ära der politischen Kommunikation?

Sie leben sich auf den Hochglanzseiten als Klon eines Mannes mit Kinderseele aus. Es ist wie in der Fabel von La Fontaine, in der der Frosch sich derart aufbläst, um die Größe des Ochsen zu erreichen, dass er zerplatzt. Sie sind Frösche, die genauso groß wie der Ochse sein wollen.

Monsieur Onfray, bevor Sie den Weg der Philosophie eingeschlagen haben, erlebten Sie den harten Arbeitsalltag in einer Molkerei. Was halten Sie von Sarkozys Slogan « Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen »?

Ich gehöre wirklich nicht zu jenen, die die Arbeit zu einer Religion erklären. Zumal die großen Reichtümer selten durch Arbeit, wenn überhaupt, dann nur durch die der Anderen, sondern vielmehr durch das Kapital entstehen. Die Lohnarbeit ist meistens eine Form der modernen Sklaverei. Denn wer würde weiter arbeiten, wenn man ihm weiter sein Gehalt überweisen würde, ohne dass er jeden Tag zu seinem Arbeitsplatz kommen müsste? Sehr wenige Leute: Künstler oder die, deren Arbeit durch symbolische Bezahlung oder in Form von Macht über andere vergütet wird, was wohl nur für eine Minderheit zutrifft. Man muss weniger Arbeit unter besseren Arbeitsbedingungen anstreben: Historisch gesehen hat die Linke immer in diese Richtung gearbeitet. Wenn sie dies nicht mehr tut, ist sie ihrer ideologischen Substanz beraubt.

In Ihrem auf Deutsch zuletzt erschienenen Buch « Wir brauchen keinen Gott » setzen Sie sich für einen offensiven Atheismus ein. Was halten Sie von Sarkozys Position, es seien « die Religionen, die uns als Erste die universellen Prinzipien der Moral, der Menschenwürde, der Freiheit, der Verantwortlichkeit und der Aufrichtigkeit beibrachten »?

Ich glaube, dass diese Tugenden, die nicht gerade zu denen gehören, die von unserem Staatspräsidenten befolgt werden, aus komplexeren Zusammenhängen als lediglich dem der Religionen hervorgehen. Nicolas Sarkozy zeichnet sich nicht durch eine übermäßige Vorliebe für Literatur, Kultur, Bücher und Philosophie aus. Die christlichen, ethischen Grundwerte basieren auf älteren, ethischen Grundwerten, den griechischen, aber auch den orientalischen, insbesondere den altindischen Religionsschriften. Die Idee einer « universellen Moral » leitet sich bei ihm eher aus dem katholischen Katechismus als aus einer persönlichen philosophischen Überlegung ab. Benedikt XVI. denkt genauso, aber um diese Sichtweise beibehalten zu können, muss man eine lokal beschränkte Position einnehmen: europäisch, weiß und christlich.

Werden Sarkozys sozialpolitische Reformen zu einer definitiven Orientierung Europas zum Liberalismus hin beitragen?

Sarkozy redet nur, deshalb wird er auch von den Medien verhätschelt. In kaum mehr als sechs Monaten hat er alles Mögliche und das Gegenteil davon gesagt. Vor allem hat er eine Politik verfolgt, die von Jacques Chiracs Politik nicht so weit entfernt ist – Afrika, Russland, arabische Welt, China. Er bringt gar nicht so viel durcheinander, und Europa braucht nicht ihn, um eine liberalistische Kriegsmaschine zu sein! Das ist es schon seit einem Vierteljahrhundert.

Glauben Sie, dass wir in Europa nach einigen Jahrzehnten besserer Arbeitsbedingungen wieder einen Raubtierkapitalismus erleben?

Der Kapitalismus ist eine blinde Produktionsweise von Reichtum. Der Liberalismus ist ein Modus, den vom Kapitalismus produzierten Reichtum aufzuteilen: Er gibt jenen, die schon haben und erzeugt Verarmung, das heißt, die Vermehrung des Reichtums der Reichen und die Vermehrung der Armut der Armen. Dementsprechend sind es immer weniger Reiche, die immer reicher werden, während immer mehr Arme immer ärmer werden.

Welches Bild vom Individuum haben die Rechten und Linken, und welche Rolle schreiben sie demnach der Gesellschaft zu?

Die Rechte glaubt an das Individuum nach dem Gesetz der Wildnis. Sie lässt alles so laufen, wie es ist, und behauptet, dass die Tauglichsten sich anpassen, überleben und sich durchsetzen werden. Die Linke behauptet, dass wir uns zwar de facto in der Wildnis befinden, dass nach Darwin, den wir nie ganz lesen, aber auch Solidarität und gegenseitige Hilfe genauso wie die Anpassungsfähigkeit der Stärksten oder Klügsten zu unseren natürlichen Veranlagungen zählen. Die Rechte will eine Gesellschaft, die die Kräfte der Wildnis freisetzt. Die Linke will eine Gesellschaft, die auf Humanität und Solidarität aufbaut und auf das Mitgefühl für die Opfer der Brutalität der Ersten.

Sie vertreten eine hedonistische Philosophie und eine dementsprechende Ethik. Wie würden Sie eine hedonistische Politik beschreiben?

Helvétius, ein Philosoph der Aufklärung, definiert sie vor der Französischen Revolution so: « Das größte Glück der größten Zahl ». Ich glaube, dass diese Aussage weiter aktuell ist und ein immenses Potenzial für die Gegenwart und Zukunft in sich birgt. Der Liberalismus verwirklicht das Glück von einigen Wenigen auf Kosten der großen Menge. Er impliziert, hart gegenüber den Schwachen und schwach gegenüber den Starken zu sein. Aufgrund meines Antiliberalismus denke ich, dass man das Glück der größten Menge anstreben muss und dass man eine Politik machen muss, die unnachgiebig mit den Starken und milde mit den Schwachen umgeht. Wie Sie sehen, ist diese Politik eine Ethik. Der Hedonismus wird häufig missverstanden. Er hat einen schlechten Ruf und überall Feinde. Es reicht zu behaupten, Hedonismus ist gleich egoistischer, körperlicher, konsumorientierter Genuss, um sich nicht mit meinen Thesen auseinandersetzen zu müssen. Ich habe zwei Volkshochschulen gegründet, in denen ich ehrenamtlich unterrichte. Ich stecke Zeit und Energie hinein, vom Geld ganz zu schweigen. All meine beruflichen Kontakte stelle ich zwei Provinzstädten in der Normandie zur Verfügung. In einer der Städte, Argentan, wo ich herkomme, habe ich die « Volkshochschule des Geschmacks » ins Leben gerufen, um im Rahmen eines Garten-Projekts mit einem Verein zur Resozialisierung von Menschen in Schwierigkeiten zusammenzuarbeiten. Wie könnte mein Hedonismus mondän, pariserisch, konsumorientiert und egozentrisch sein? Hedonismus ist ein komplexes Spiel mit Freuden, das die Freude der anderen mit beinhaltet.Ein Ersatz für die Revolution zur Aneignung des Staatsapparates.Wissen Sie, der Staat ist nicht mehr der einzige Ort der Macht, daher erübrigt sich das Konzept einer Revolution zur Aneignung des Staatsapparates. Das ist übrigens eine der Lehren von Michel Foucault. Da derselbe Philosoph schreibt, dass « die Macht überall ist », bedarf es folglich überall der Gegenmächte. Die Revolution wird somit zur mikrologischen Angelegenheit, denn sie ist eine Antwort auf die dominierende Macht, die auch mikrologisch ist. Die Summe aller Mikro-Widerstände gegenüber den Mikro-Faschismen kann die herrschende Macht wirklich bremsen. Durch das, was ich das Gulliver-Prinzip nenne: Viele kleine miteinander verbundene Punkte können den Riesen Gulliver endgültig aufhalten. Es bedarf nur der Vernetzung dieser Mikro-Widerstände. Die Mikro-Widerstände sind effizient, auch wenn sie nicht unbedingt sehr sichtbar sind. Dort, wo der eine den anderen ausbeutet, unterdrückt, muss man sich durch Verweigerung entgegensetzen. Die Macht gibt es nur, weil diejenigen, auf die sie ausgeübt wird, sich ihr beugen. Das ist eine der bedeutenden Lehren von La Boétie, dem Freund von Montaigne, der in der Politik mein Lehrmeister ist, im Übrigen ein Lehrmeister für alle Libertären. Es reicht, dass man der Macht nicht mehr zustimmt, und sie bricht von alleine zusammen.

Können Sie ein Beispiel für einen Mikro-Widerstand nennen?

Nehmen wir den Feminismus. Man kann die Gesellschaft reformieren, ihre Gesetze ändern, neue vorschlagen wollen, man kann aber auch im konkreten Alltagsleben Widerstand gegen Mikro-Herrschaftsverhältnisse leisten: Die Aufteilung der Haushaltsarbeit, die hauptsächlich Mann und Kindern gewidmete Zeit, die einseitig gefassten Entscheidungen. All das stellt politische Wirkungsbereiche dar, in denen die Mikro-Widerstände greifen. Ich bin für eine permanente Mikro-Revolution, hier und jetzt, mit konkreten, unmittelbaren Auswirkungen, und nicht für eine Makro-Revolution in ferner Zukunft, die nie eintreten wird.

Haben Sie aus diesem Grund die « Université Populaire » gegründet?

Ja, sicher. Ich wollte nicht das französische Uni-System reformieren, Projekte vorschlagen und auf eine bessere Zukunft und die Politiker hoffen. Ich habe mich entschieden, hier und jetzt, politisch zu handeln. Zusammen mit ein paar Freunden haben wir dann 2002 die freie Volkshochschule in Caen aufgebaut. Sie steht jedem offen und ist kostenlos, man muss sich nicht einschreiben, wir verlangen keinerlei Zeugnis, kein bestimmtes Bildungsniveau und keine persönlichen Daten. Es gibt keine Prüfungen und auch kein Diplom. Das von uns angebotene Wissen soll dazu dienen, auf sich selbst und dann die Welt wirken zu können. Wir sind etwa fünfzehn Leute, die unentgeltlich Kurse über Feminismus, Politik, Psychoanalyse, zeitgenössische Kunst, Film, Literatur, Geschichte, Jazz sowie einen Philosophie-Workshop für Kinder geben. Ich selber biete 21 Kurse im Jahr an, die wöchentlich stattfinden. In der ersten Stunde stelle ich eine wissenschaftliche Arbeit vor, in der zweiten wird dann darüber diskutiert. Jede Woche kommen über 750 Menschen in den Hörsaal zu meiner Vorlesung über die Gegengeschichte der Philosophie.

Berliner Zeitung