Brian Baker, eines der zwölf Adoptivkinder der legendären Tänzerin und Sängerin Josephine Baker, über das Leben im Schloss, im Hotel und die Träume seiner Mutter
Das Hôtel Scribe in Paris ist ein geschichtsträchtiger Ort: Die Lumière-Brüder veranstalteten hier 1895 die erste öffentliche Filmvorführung. Ein Jahr später stellte Wilhelm Conrad Röntgen seine Entdeckung der X-Strahlen vor, die später nach ihm umbenannt werden. 1929 bewarb sich Georg Orwell hier als Tellerwäscher. 1944 hielt General Eisenhower Pressekonferenzen ab, und statt Touristen gingen damals noch namhafte Kriegskorrespondenten ein und aus: Ernest Hemingway, Robert Capa und Lee Miller.
Brian Baker kommt zu spät, er hat sein Portemonnaie im Auto eines Freundes verloren, sagt er. Lang bespricht er mit der Bedienung, was er trinken könnte. Er wägt den Geschmack mancher Mineralwasser-Marken gegeneinander ab, bis er schließlich das passende Getränk gefunden hat: Einen Apfelsaft, s’il vous plaît.
Sie haben mit Ihrer Mutter Josephine Baker und Ihren Geschwistern einmal in diesem Hotel gelebt. Welche Erinnerungen ruft dieser Ort bei Ihnen hervor?
Wir wohnten drei Monate lang hier. Während der Woche gingen wir auf ein Jesuiten-Internat, an den Wochenenden kamen wir hierher. Meine neun Brüder, zwei Schwestern, meine Mutter und ich waren im ganzen Hotel verstreut. Wir Kinder hatten zu dritt, zu zweit oder allein ein Zimmer. Für meine Mutter muss das eine sonderbare Zeit gewesen sein: Ihr Schloss « Les Milandes », in dem wir vorher lebten, war zwangsversteigert worden und ein neues Haus noch nicht in Aussicht. Meine Mutter hatte sich hoch verschuldet.
Dennoch zog sie mit ihrer Großfamilie in ein Grandhotel?
Ich vermute, die damalige Hoteldirektion wird auf sie zugekommen sein und ihr vorgeschlagen haben, mit uns Kindern hierher kommen zu können. Entweder bekamen wir Zimmer, die sowieso leer standen und nicht verrechnet wurden, oder sie zahlte einen speziellen Gruppenpreis für uns alle. Die Leute wussten, dass meine Mutter ruiniert war. Das Fernsehen hatte nach ihrer Galaveranstaltung einen Spendenaufruf von Brigitte Bardot gesendet. Die großzügigen Spenden konnten die dramatische Zwangsversteigerung und anschließende Räumung des Schlosses auch nicht mehr verhindern.
Wie konnte sich die Situation derartig zuspitzen?
Meine Mutter hat nie glauben wollen, dass sie das Schloss verlieren könnte und sich eingeredet, Gott oder de Gaulle würden es nicht zulassen. Wir Kinder waren in Paris. Sie blieb alleine im Schloss, um es zu verteidigen. Der neue Besitzer wusste nicht, was er machen sollte. Er bestellte fünf Rausschmeißer, jeder bekam 500 Francs. Als meine Mutter sich weiterhin weigerte, das Schloss zu verlassen, haben die Jungs sie mit Gewalt aus der Schlossküche gezerrt. Draußen warteten Fotografen. Das Bild ging dann um die Welt, wie sie in Kopftuch und Bademantel vor die Tür gesetzt wurde.
Haben Sie diesen Umzug nach Paris als eine Art Bruch in Ihrem Leben empfunden?
Ich war 1969 zwölf Jahre alt. Als Kind habe ich mir nicht so viele Fragen gestellt. Immer lebte ich inmitten einer großen Gruppe. Wenn man allein und nicht ständig von anderen umgeben ist, hinterfragt man vielleicht mehr. Ich dachte nur, gut, wir werden jetzt ein paar Monate lang im Hotel wohnen. Meine Mutter hatte uns auch erklärt, dass das eine Übergangslösung sei.
Was bedeutete es für Sie, das mittelalterliche Schloss gegen die Großstadt einzutauschen?
Für uns Landkinder war das eine große Abwechslung. Wir fanden es besonders lustig, auf einmal in Paris zu leben. Meine Mutter ging zu der Zeit wenig auf Tournee. So bestanden unsere Wochenendausflüge aus Restaurant- und Kinobesuchen mit ihr. Das « Café de la Paix » wurde schnell zu unserem Stammlokal. Manchmal sagten wir zu ihr: « Komm, lass uns lieber da drüben ins Selbstbedienungsrestaurant gehen! » So etwas kannten wir nicht vom Land. Nachher haben wir nur noch dort gegessen, denn wir wussten, dass es nicht so teuer war.
Was für ein Verhältnis hatte Josephine Baker zum Geld?
Sie gab es einfach aus, sie konnte überhaupt nicht wirtschaften. Meine Mutter hat sehr viel verdient, aber auch sehr, sehr viel ausgegeben. Sowohl in den Jahren vor der Versteigerung des Schlosses als auch unmittelbar danach bestand sie auf unserem jährlichen Einkaufsritual. Einen Monat vor Weihnachten machte sie fünf Tage lang mit uns zwölf Kindern Einkäufe in den Galeries Lafayette. Die Direktion des Nobelkaufhauses stellte uns immer zwei, drei Verantwortliche zur Verfügung, die sich nur um uns kümmerten. Tagelang probierten wir Kleidung an, forsteten Regale durch und suchten Spielzeug aus. Wir waren glücklich, wobei wir schon vorher wussten, was wir zu Weihnachten bekommen würden. Dieser Shopping-Marathon hat uns immer vollkommen erschöpft. Ich frage mich noch heute, wie das Personal, das uns Kinder betreute, das durchgestanden hat.
War diese Einkaufstour für Ihre 60-jährige Mutter nicht auch ermüdend?
Manchmal ging sie zwischendurch weg und überließ uns den Verkäufern. In der Olympia Music Hall, die ganz in der Nähe lag, konnte sie dann Verabredungen erledigen. Aber sie wollte auf jeden Fall sehen, was wir für Klamotten kauften. Es war die Zeit der Mao-Kragen, des Hippie-Looks. Wir fragten uns immer, wird sie ja oder nein sagen. Manchmal hatten wir Glück, aber manchmal war es ihr zu hippiemäßig.
Wie stand sie zur Hippiekultur?
Die Ideale der Hippies « Peace & Love » befürwortete sie. Sie lehnte nur alles ab, was mit Drogen und Sex zusammenhing. Ihr Kommentar dazu lautete immer: « Ich möchte nicht, dass meine Kinder drogenabhängig werden! » Und zu Sex kein Kommentar.
Das steht im Widerspruch zum freizügigen Leben der Josephine Baker der Goldenen Zwanziger, in denen ihr ein verruchter Ruf vorauseilte. Durch ihre zahlreichen Liebhaber – wie Ernest Hemingway, Georges Simenon und Jean Gabin – wurde sie zum Inbegriff des « Flapper Girls », der emanzipierten Frau.
Die Mutter, die wir kannten, und die junge Künstlerin, das waren nicht ein und dieselbe Person. Wenn wir Kinder sie im Fernsehen – nur mit ihrem berühmten Bananenröckchen bekleidet – in den Zwanzigern tanzen sahen, dann versuchte sie verzweifelt, den Fernseher auszumachen und sagte: « Nein, das ist eine junge Tänzerin, das hat nichts mit mir zu tun! » « Das bist du », riefen wir dann, « Josephine Baker!!! » « Nein, das ist eine Tänzerin aus der Vergangenheit, ich bin eure Mutter! »
Hat sie ihre frivole Vergangenheit geleugnet?
Überhaupt nicht, nur vor uns. Von ihren Freunden habe ich später erfahren, wie ausgelassen sie im Alter von über 60 Jahren Partys feierte und sich über all die « Wer-gerade-mit-wem »-Bettgeschichten aus dem Showbusiness amüsierte.
Es gibt allein sechs verschiedene Versionen, wer Josephine Bakers Vater war. Wie erklären Sie sich, dass in nahezu jeder ihrer Biografien ihr Leben anders verläuft?
Meine Mutter hat versucht, die Spuren ihrer Vergangenheit zu verwischen. Ihren leiblichen Vater hat sie nie gekannt. Dass sie als Achtjährige als Dienstmagd zu Weißen gegeben wurde, weiß man noch. Aber sie wollte vertuschen, was sie zwischen 13 und 18 Jahren erlebt hat: zum Beispiel, als sie St. Louis verließ und nach New York ging. Angeblich hat sie die ersten zwei Nächte im Central Park schlafen müssen. Auch wenn das Spekulationen sind: Wir können nicht wissen, ob sie nicht vergewaltigt wurde. Oder ob Männer sie nicht ausnutzten, als sie ihre allerersten Jobs als Aushilfstänzerin hatte. Über ihre persönlichen Dramen hat sie nie etwas erzählt, auch nicht uns Kindern.
Dabei hat das Pogrom in St. Louis, bei dem 1917 bis zu hundert Schwarze ermordet worden sein sollen, sie als Elfjährige und ihren späteren Kampf gegen Rassenhass zutiefst geprägt.
So wenig sie uns über diese persönlich erlebten Lynchmorde erzählt hat, so viel hat sie mit uns über Rassismus gesprochen. Sie hat uns vermittelt, immer gegen Diskriminierung kämpfen zu müssen. Dabei hat sie uns auch geschildert, wie sie 1963 an der Seite von Martin Luther King am Marsch auf Washington teilgenommen hat. Insgesamt war ihr Blick aber weniger auf das Gewesene als auf die Zukunft gerichtet.
Was für ein Mensch war Josephine Baker?
Sie lehnte jede Form von Narzissmus ab. Sie wollte sich nicht im Fernsehen sehen, nicht Artikel über sich lesen und schon gar nicht ihre eigenen Platten zu Hause hören. Sie ging gerne wegen des Austauschs mit dem Publikum auf die Bühne, alles andere drum herum interessierte sie nicht. Ansonsten könnte man sie vor allem als großzügig und exzessiv bezeichnen. Ihre Entscheidungen waren manchmal völlig willkürlich.
Fällt Ihnen eine bestimmte Situation dazu ein?
Als meine Geschwister und ich das Gymnasium besuchten, hatten wir ein bisschen mehr Taschengeld als unsere Klassenkameraden. Einmal sagte der Schuldirektor zu meiner Mutter: « Madame Baker, Ihre Kinder haben viel mehr Taschengeld als die anderen zur Verfügung. Sie sollten ihnen ein bisschen weniger geben, so wären sie wie die anderen. » Meine Mutter antwortete: « Ja, Sie haben recht. Sie bekommen zu viel. Ich habe mich geirrt. » Von einem Tag auf den anderen gab es überhaupt kein Taschengeld mehr für uns! Null, gar nichts, bis mein Vater Jo Bouillon zurückkam. Meine Eltern lebten schon getrennt, und er besuchte uns nur von Zeit zu Zeit. Sobald er sein Kleingeld auf den Tischen herumliegen ließ, nahmen wir es ihm weg. Irgendwann merkte er das und fragte uns, warum. Wir erklärten ihm, dass wir überhaupt kein Taschengeld mehr bekämen. Beim Essen gab es eine große Diskussion, und mein Vater beschloss, dass wir von nun an auf vernünftige Weise Taschengeld bekommen sollten. Weder zu viel noch zu wenig. Meine Mutter war damit einverstanden. Als er wieder weg war, hat sie es zeitweilig wieder gestrichen. Sie ging auf Tournee und hatte Angst, dass meine älteren Brüder Dummheiten machen oder sich mit ihren Freunden Drogen besorgen.
Wie lebten Sie in dem Schloss?
Das war ein ungewöhnliches, aber alles andere als trauriges Leben. Es ähnelte am ehesten einer ständigen Ferienkolonie: Viele Erwachsene, viele Kinder und viele Tiere. Wir hatten eine Art kleinen Zoo: Papageien, Tukane, Pfauen, Katzen, Hunde und Affen. Tagsüber liefen die Affen im Park herum, nachts mussten sie in große Käfige. Es passierte auch schon mal, dass ein Pavian zu einem kam, um nach Flöhen zu suchen, unter dem Hosenbein oder auf dem Kopf. Am besten setzte man sich dann neben ihn und blieb ganz ruhig. Manchmal machten wir Kinder uns einen Spaß und liefen Grimassen schneidend mit den Affen zum Schlossgitter, hinter dem auch hie und da Paparazzi oder Touristen standen. Die waren dann schnell weg.
Kamen Touristen, um sich Josephine Baker « in echt » anzusehen?
Meine Mutter hat den Tourismus überhaupt erst in diese verlassene Gegend in den Südwesten Frankreichs, den Périgord, gebracht. Damals kannte kein Mensch die hügeligen Landschaften mit ihren Foie- Gras-Produktionen. Meine Eltern haben 1948 das Anwesen mit dem Schloss gekauft und in eine Art Josephineland verwandelt. Das hat Jahre gedauert. Es gab ein Dorf, das sie erweitern ließen, damit die Angestellten dort schlafen konnten. Hinzu kamen ein Hotel, ein Restaurant, ein Theater, ein Golf- und Tennisplatz und ein Wachsfigurenmuseum, das « Jorama », das Szenen aus dem Leben meiner Mutter nachstellte. Wir lebten im höher gelegenen Schloss, an das auch das Dorf angrenzte. Der Park erstreckte sich Hügel abwärts bis zu einem Fluss, wobei der untere Teil für Touristen zugänglich war, ebenso unser Schwimmbecken in J-Form, J wie Josephine. Wie bei einem König waren am Gitter des Schlosses und am Eingang des Theaters die Initialen JO oder JB eingearbeitet.
Sie sagten zuvor, Ihre Mutter habe jede Form von Narzissmus abgelehnt.
Sie war immerhin Amerikanerin! Das ist eher hollywoodmäßig. Und die Namen meiner Eltern hatten dieselben Anfangsbuchstaben: Joseph Boullion und Josephine Baker.
Welche Rolle nahm Ihr Vater, der fünfte Ehemann von Josephine Baker, bei Ihrer Erziehung ein?
Wenn er da war, kümmerte er sich als Vater um uns und versuchte, uns zu erziehen. Wir Kinder waren noch ganz klein, als meine Eltern sich trennten. Das Schloss war das Universum meiner Mutter, ihr Zuhause. Sie hatte alles initiiert, er blieb immer im Hintergrund und half, ihre Ideen zu verwirklichen. Wenn einer gehen musste, dann er. Er eröffnete in Buenos Aires ein Lokal, so sahen wir ihn nicht so oft.
Wie war er im Vergleich zu Ihrer Mutter?
Viel ausgeglichener! Wir fanden ihn normaler. Sie war ein bisschen verrückt, eine gute Mutter, aber durchgeknallt. Mit wechselhaften Stimmungen. Man wusste nie, wie sie reagieren würde. Unser Vater war sehr französisch: logisch denkend und vorhersehbar. Er hatte seine Laufbahn als Orchesterleiter aufgegeben, um mit meiner Mutter das Schloss und den angrenzenden Komplex aufzubauen. Ursprünglich war er Violinist gewesen. Als er versuchte, uns ein bisschen Musik beizubringen, hat sie sich dem widersetzt.
Warum?
Sie wollte verhindern, dass ihre Kinder möglicherweise später einen künstlerischen Beruf ergreifen. Kunst sei zu sehr vom Zufall abhängig und mit zu vielen Risiken verbunden. Sie sagte immer: « Ich hatte viel Erfolg und einfach Glück. Mich haben gute Beine unterstützt. Aber ich habe zu viele talentierte oder sogar geniale Künstler herumkrebsen sehen. » Sie war davon überzeugt, dass ihre Kinder einen vollkommen sicheren Beruf, den eines Gentlemans, ausüben sollten. Zum Beispiel wollte sie, dass mein Bruder Akio Diplomat in Japan wird. Am Anfang hatte sie sich sogar in den Kopf gesetzt, dass wir später alle für das Schloss arbeiten würden: Moïse sollte Anwalt, Jean-Claude Notar und ich Buchhalter des Anwesens werden. « Brian, du kannst gut kopfrechnen, ich habe deine Mathenoten gesehen », sagte sie einmal zu mir, « außerdem muss unser Verwalter eines Tages sowieso ersetzt werden. »
Welche Lebenswege haben Ihre Geschwister eingeschlagen?
Jeannot und Luis wohnen heute beide in Monaco: Der eine ist Gärtner, der andere Versicherungskaufmann. Jari ist nach New York gegangen und arbeitet im Restaurant « Josephine ». Moïse starb nach langer Krankheit. Koffi betreibt in Buenos Aires einen Teesalon. Mara ist Steuerbeamte im Osten Frankreichs, Stelina eine ehemalige Stewardess, Hausfrau und Mutter in Treviso. Wir anderen fünf leben in Paris und Umgebung: Noël, der seit der Pubertät wegen Schizophrenie behandelt wird, hat als Tischler in einer Behindertenwerkstatt eine Beschäftigung gefunden. Marianne ist medizinisch-technische Assistentin, Akio wurde Bankkaufmann, Jean-Claude leitet eine Produktion von Dokumentarfilmen, und ich habe mich als einziger für einen künstlerischen Werdegang entschieden. In den 80er-Jahren war ich Schauspieler, heute bin ich Autor und freier Journalist.
Welche Beziehung haben Sie heute zu Ihren Geschwistern?
Wir halten immer noch zusammen, trotz der Entfernungen und Lebenswege, die sich nur mehr oder weniger kreuzen. Wir sehen, sprechen und mögen uns. Geburtstage, Depressionen, Hochzeiten, Sonntage, Weihnachten – wir verpassen keine Gelegenheit, in Kontakt zu bleiben.
Wie ist die Idee Ihrer Mutter, Kinder unterschiedlichster Herkunft und Hautfarbe zu adoptieren und die sogenannte « Regenbogenfamilie » zu gründen, entstanden?
Sie war in Kinder vernarrt. Sobald sie auf der Straße ein Kind sah, blieb sie stehen. Während des Krieges, 1941/42, hatte sie sich als Folge einer Fehlgeburt eine Bauchfellentzündung zugezogen. Fast ein Jahr lang lag sie in Marokko im Krankenhaus. Dort erfuhr sie, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnte. Angeblich war sie das Showbusiness leid und wünschte, sich, nur noch von Kindern und Tieren umgeben zu leben. Sie wollte ihr Ideal der Brüderlichkeit der Rassen, eine Art private Mini-Unesco verwirklichen, wo sie zeigen konnte, dass unterschiedliche Kulturen friedlich miteinander leben können. Sie fing erst an, uns zu adoptieren, nachdem das eigens dafür erworbene Schloss restauriert und die Struktur drum herum aufgebaut war. Zunächst ist sie nach einem wohlüberlegten Plan vorgegangen. In der Pariser Umgebung hat sie mit Jean-Claude und Moïse begonnen. Ein paar Monate später adoptierte sie bei einer reichen Freundin, die in Tokio ein Waisenheim gegründet hatte, Akio, den Koreaner, und Teruya, den Japaner, den sie in Jeannot umbenannte.
Wie stand Ihr Vater der Adoptionsidee Ihrer Mutter gegenüber?
Er hatte an drei, vier, höchstens an sechs Kinder gedacht, aber nicht gleich an zwölf! Nach dem vierten Kind sagte er zu meiner Mutter: « Wir hören jetzt mal auf zu adoptieren, oder? » Sie sagte: « Ja, ja! », und sechs Monate später kam sie wieder mit einem Kind auf dem Arm von einer Tournee zurück. Sie setzte ihn vor die vollendete Tatsache. « Voilà, sieh dir mal den Kleinen an! Koffi kommt von der Elfenbeinküste, sein Stamm wollte ihn mitten in der Savanne zurücklassen, du glaubst doch nicht, dass ich das zugelassen hätte! » Als sie in Venezuela auf indianische Familien stieß, die ihre Kinder dem Meistbietenden verkaufen wollten, nahm sie Mara mit. Danach kamen Luis aus Kolumbien und Jari aus Finnland hinzu. Als meine Mutter an einem Heiligabend in der Olympia Music Hall sang, erfuhr sie von Journalisten, dass ein Kind neben einem Mülleimer am Stadtrand von Paris gefunden worden war. Noch am gleichen Abend ist sie zum Sozialamt gegangen, hat nach dem Jungen gefragt und ihn zu sich genommen. Sie gab ihm den Vornamen Noël, was auf Französisch zugleich Weihnachten bedeutet. Stelina stammte eigentlich aus Marokko. Sie wurde als uneheliches Kind von Freunden meiner Mutter geboren, die mit dem marokkanischen Königshaus verbunden waren. So bekam sie diesen italienischen Namen, damit die Geschichte unter den Teppich gekehrt werden konnte. In Algier wollte meine Mutter im Waisenheim ein Kind für ihre Schwester Margaret adoptieren. Als sie Marianne, uneheliche Tochter einer in Algerien arbeitenden Französin, sah, holte sie sie gleich in ihre Regenbogenfamilie. Im selben Zimmer war ich: Brahim. Der Aussprache wegen hat sie mich Brian genannt. Das macht zwölf!
Hat die Adoption Ihre Identitätsfindung beeinflusst?
Für mich war das nie problematisch. Als Berber muss das in meinen Genen liegen: Ich bin Fatalist. Meine Eltern sind im Algerienkrieg gestorben, und mich hat Josephine Baker adoptiert. Im Heim gab es viele andere Waisen, dennoch hat sie mich ausgesucht, angeblich habe ich sie angesehen und angelächelt. Ich hatte einfach Glück, vielleicht ist das Schicksal? Die meisten meiner Geschwister sehen das ähnlich: Wir haben alle ein besonderes Schicksal, ein außergewöhnliches Leben, aber so sehr auch wieder nicht.
Was halten Sie von den Polemiken, die Adoptionen von Hollywood-Stars auslösen?
Meine Mutter hat sicherlich teilweise auch ihren Status als Star und die fehlenden Reglementierungen der jeweiligen Länder nutzen können, um manche von uns zu adoptieren. Aber bei Madonna war es wirklich: Ich komme und ich nehme. Man kann nur hoffen, dass es nicht nur eine Laune von ihr war. Aber, wenn sie sich gut um das Kind kümmert, warum nicht? Wobei der besagte Junge aus Malawi kein Baby mehr war. Wenn man adoptiert, sollte man eher Säuglinge zu sich nehmen. Ältere Kinder reißt man aus ihrem bisherigen Lebensraum heraus, was dann später zu Hinterfragungen führen kann. Als unsere Mutter uns adoptierte, waren wir alle jünger als ein Jahr. Manche der Frauen, wie Angelina Jolie oder Mia Farrow, die sich für Adoptionen entscheiden, haben auf Josephine Baker verwiesen. Zum Glück sind es nicht nur Prominente, die dem Beispiel folgen.
Es wurde verbreitet, Josephine Baker habe die jeweilige Herkunft ihrer Kinder bei der Erziehung berücksichtigt. Stimmt das?
Moïse hat sie immer als den Israeli vorgestellt, dabei war er Franzose jüdischen Ursprungs. Auf Reisen sagte sie stets zu Journalisten: « Das ist der Jude, Moïse, setz deine Kippa auf! » Als er älter wurde, hat sie nicht mehr darauf bestanden, dass er sie trägt, schließlich war er nie in eine Synagoge gegangen! Sie hatte es sich als Gläubige zum Ziel gesetzt, dass wir Kinder religiöse Grundlagen vermittelt bekommen. Aber als der eigens für mich eingestellte ägyptische Hauslehrer mit mir gen Mekka beten wollte, habe ich ihm in die Hand gebissen. Mit dem Koran sind wir auch nicht sehr weit gekommen, denn schon bald wurde der Lehrer wieder entlassen. Ursprünglich sollte er mir die arabische Sprache und Kultur beibringen. Meine Mutter hat mich immer als den kleinen Araber präsentiert.
Hat sie ihre unterschiedlichen Ursprünge für eine mediale Inszenierung instrumentalisiert?
Für sie verkörperten wir vor allem ihr Ideal der universellen Brüderlichkeit. Auch wenn es eine impulsive Entscheidung von ihr war, mich zu adoptieren, hat es ihr sicherlich besonders gut gefallen, dass von nun an ein Araber neben einem Juden in Frieden aufwachsen würde.
Inwiefern hatten Sie eine vertrauliche, persönliche Beziehung zu Ihrer Mutter?
Sie konnte nicht die Mutter von jedem von uns sein. Oft ging sie auf Tournee, um Geld zu verdienen. Ihre Schwester Margaret und deren Mann oder andere Erwachsene waren für uns da. Wenn man zu zwölft ist, hat man eine Mutter, die sich um eine Gruppe, aber nicht um einen persönlich kümmert. Wie in jeder kinderreichen Familie ist das ein wenig frustrierend. Manchmal hätte ich mir gewünscht, sie nur für mich alleine zu haben, sie nicht mit den anderen teilen zu müssen.
Gab es nie Situationen, in denen Sie mit Ihrer Mutter alleine waren?
Selten, aber doch! Einmal kam ich zu spät zur Schule und wurde nicht mehr in die Klasse gelassen. Da lebten wir inzwischen dank Grace Kelly in einer Villa in einem Dorf an der Côte d’Azur, das unmittelbar an Monaco grenzte. Jedenfalls konnte ich nicht gleich den Schulbus nach Hause nehmen, denn meine Mutter war zufälligerweise da. So trat ich den Heimweg zu Fuß an. Als ein Regenguss losbrach, habe ich mich extra nicht untergestellt, um völlig durchnässt eine gute Ausrede zu haben: Mir sei furchtbar kalt, ich hätte vergeblich auf den Bus gewartet. Meine Mutter hat mich dann abgetrocknet, ins Bett gesteckt, mir Medikamente geholt und Tee gemacht. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, gelogen zu haben, aber ich genoss es einfach, dass sie mich alleine umsorgte. Manchmal nahm sie einen von uns auf Reisen mit, auch in unsere Herkunftsländer. Das waren besondere Momente.
Suchte Ihre Mutter auch eine stärkere Nähe zu jedem einzelnen von ihnen?
In unsere Ursprungsländer reiste sie mit uns vor allem, weil es dem Projekt der universellen Brüderlichkeit nutzen sollte. Sie wusste, dass Fernsehen und Presse über unsere Reise berichten und Politiker es mitbekommen würden. Sie machte das weniger, um ganz allein mit einem von uns zu sein. Sie wünschte sich, dass ihre Idee der Regenbogenfamilie weltweit um sich greift. Deshalb hat sie ihre Utopie so deutlich nach außen getragen. Das war alles ein bisschen merkwürdig, aber auch nicht traumatisierend.