Im Pariser achten Arrondissement fanden Isaac Stern, Yehudi Menuhin und David Oistrach einen diskreten Geigenbauer, der ihnen den Ton ihrer Träume erfüllte: Etienne Vatelot
Als Holzwürmer sich durch ein Stradivari-Cello der Berliner Philharmoniker gefressen hatten, brachte man es zu Etienne Vatelot nach Paris. Das Instrument blieb zweieinhalb Jahre lang in seiner Werkstatt. Monsieur Vatelot erinnert sich genau an den Arbeitsvorgang vor zwei, drei Jahrzehnten. « Das Cello musste vollkommen auseinander genommen werden. Und je mehr wir es auseinander nahmen, desto mehr scheußliche Dinge mussten wir entdecken. » Ganze Galerien an Würmern und Spuren vorangegangener schlechter Restaurierungen kamen zu Tage. Millimeter um Millimeter ist das Instrument dann in Vatelots Werkstatt wieder zusammengebaut worden. « Natürlich kann man die Arbeitsstunden nicht zählen », sagt Vatelot. « Den Preis, den wir zu Beginn festgesetzt hatten, überschritten wir um mindestens das Doppelte. Aber wir wollten zeigen, dass man ein eigentlich schon abgeschriebenes Instrument retten konnte. » Die renommierte Werkstatt von Etienne Vatelot hat im achten Arrondissement ihren Sitz, in einer jener Straßen von Paris, wo die meisten Geigenbauer der Stadt angesiedelt sind. Das von seinem Vater Marcel 1909 begründete Geschäft erstreckt sich über zwei Etagen. Mit hellgrauen Holzvertäfelungen, dunkelroten Teppichen und für die französische Hauptstadt charakteristischen bis zur Decke reichenden Spiegeln über Kaminaufsätzen gleicht es eher einer bürgerlichen Wohnung. In jeder Ecke stehen Streichinstrumente: Geigen, die Kunden zum Verkauf deponiert haben. Sie hängen mit kleinen, weißen Schildern versehen zweireihig an Eisenstangen. Geigen, die für eine Auktion geschätzt werden sollen, liegen nummeriert aneinander gelehnt auf dem Boden. Und unzählige Celli stehen in ihren sperrigen, teilweise möbelartigen Instrumentenkästen herum. Sie halbieren auch die Breite eines ohnehin schon schmalen Flures, der zur eigentlichen Werkstatt mit weiteren Geigen und Celli führt. Im Vorzimmer bleibt Monsieur Vatelot vor einem der vielen Porträts stehen. Geiger und Geigenvirtuosen bedanken sich mit Widmungen für seine Arbeit und nicht selten auch für seine Freundschaft – unter ihnen Isaac Stern, Yehudi Menuhin und David Oistrach. Vatelot beugt sich zu einer statuenhaften Aufnahme von Menuhin. « Ist er nicht schön? Das war 1961. » Der berühmte Geiger bekundet seinen Dank – ohne den teuren Freund sei der Ton seiner Träume unerfüllt geblieben. Menuhin wies mit der ihm eigenen Höflichkeit häufig darauf hin, er spiele zwar Geige, aber er würde nie behaupten, er verstünde sie so, wie Etienne sie verstünde. Oistrach verglich die Arbeit Vatelots an seiner Geige einmal mit einer Herzoperation. Er bescheinigte dem Freund, er sei mehr als ein Arzt, er sei ein Musiker. Monsieur Vatelot sagt, er habe sich natürlich immer gefreut, wenn ihm der Bau, die Stimmung oder die Restaurierung einer Geige gut gelungen seien. Aber eigentlich sei das zweitrangig. Ihm hätten die Beziehungen zu den Musikern mehr bedeutet. Es habe ihm stets große Freude bereitet, wenn Musiker zwischendurch vorbeigekommen seien, um ihm guten Tag zu sagen. « Im Grunde war das Atelier eine Art Beichtstuhl », sagt der 75-Jährige. Denn hatte ein Geiger Schwierigkeiten beim Spielen, musste das nicht zwangsläufig an seinem Instrument liegen. Manchmal durchlebte er eine depressive Phase, hatte Probleme mit der Gesundheit oder in seinen Gefühlsbeziehungen. Monsieur Vatelot will die Geheimnisse nicht preisgeben, die er im Laufe der Jahre erfahren hat. Dann erinnert er sich aber, dass einst ein berühmter Geiger die Aufnahmen für eine Platte abgebrochen habe, weil sein Instrument, wie er sagte, so merkwürdig vibriere. Der Produzent des Künstlers sei besorgt zu ihm in die Werkstatt gekommen und habe ihn gebeten, sich die Geige anzuschauen. Die registrierte Musik klänge gar nicht gut. Vatelot überprüfte die Geige und antwortete, das sei alles keineswegs verwunderlich. Er bat darum, das Instrument über Nacht in der Werkstatt behalten zu dürfen. Am nächsten Morgen gab er dem Musiker die Geige zurück und fragte: « Was hältst du jetzt davon? » Der Musiker war begeistert. Ihm gelangen nun großartige Aufnahmen, die Musikgeschichte schrieben. Vatelot sagt: « Ich hatte die Geige nicht angerührt. Sie war in einem außergewöhnlich guten Zustand. » Was er tat, nennt Vatelot keine Lüge. Den Namen des Künstlers verrät er nicht, er bleibt diskret. « Mein Vater und ich konnten uns sehr gut anlügen », sagt Etienne Vatelot. Kurz vor dessen Tod habe er ihn, wie jeden Abend, vom Atelier ein Stück begleitet. Marcel Vatelot sei mehrfach stehen geblieben und habe gesagt: « Merkwürdig, in der Straße weht viel mehr Wind als sonst. » Der Sohn verstand, dass der Vater Schwierigkeiten mit der Atmung haben müsste. Am folgenden Tag brachte er ihn bis zur Haustür. Als sein Vater wissen wollte, warum er nun den ganzen Weg mitgegangen wäre, antwortete er, ihm würde zu zweit die Zeit schneller vergehen. « So hatte jeder den anderen aus einer Art Scheu angelogen. » Mit vergleichbarer Zurückhaltung hatte sich der Vater bei der Berufsentscheidung des Sohnes verhalten. Ursprünglich wollte Etienne Schauspieler oder Flugzeugpilot werden. « Da ich nicht wusste, wie die Arbeit meines Vaters aussieht, schlug er mir vor, zwei, drei Wochen ,mal vorbeizukommen . » Etienne war sechzehn Jahre alt. Damals setzte er zum ersten Mal seinen Fuß ins Atelier – bis auf die Lehrzeit in den holzreichen Vogesen und ein Praktikum in Amerika hat er es seitdem nicht mehr verlassen. In Mirecourt, dem traditionellen Ort des Geigenbaus in Frankreich, ging er durch eine harte Schule. Einmal zerbrach sein Meister mit dem Knie eine schlechte Arbeit von ihm und warf sie vor seinen Augen ins Feuer. « Es war grauenhaft », erzählt Vatelot, « aber ich habe nie bereut, auf diese Weise zu lernen, was gute Arbeit ist. » Als der Sohn das väterliche Geschäft längst übernommen hatte, kam Marcel Vatelot auch weiterhin vorbei. « Ohne Geigen zu sehen, konnte er nicht leben », sagt Etienne Vatelot. Der Vater habe sich bei seinen Besuchen still auf einen Stuhl im Büro gesetzt. Kam bei diesen Gelegenheiten gerade ein « schwieriger » Kunde ins Geschäft, bot er an, sich um ihn zu kümmern. « Nie hatte ich Streit mit ihm », beschreibt Etienne Vatelot das Verhältnis zu seinem Vater. Die gegenseitige Achtung habe auch ihre 28-jährige Zusammenarbeit geprägt. Viele Geigen und Bratschen haben sie gemeinsam gebaut. Der Vater gab dem Sohn weiter, was er konnte und wusste. Die Formel seines Geigenlacks jedoch wollte er ihm nicht nennen. Etienne Vatelot fragte den Vater immer wieder, welche Ingredienzen er in welchem Verhältnis verwenden würde. Doch dieser antwortete nicht. Stets zog sich der Vater für etwa eine Woche aufs Land zurück, wenn er den Lack zubereitete. Mit dem fertigen Ergebnis kehrte er in die Werkstatt zurück. Nicht zufällig ist der geheimnisvolle Lack von Stradivari von Mythen umgeben, hängt doch der Klang einer Geige – neben der Qualität des Holzes – vom Lack ab. Etienne Vatelot sagt, er habe wohl zu spät bemerkt, dass sein wiederholtes Fragen nach dem Geheimnis des Lackes den Vater traurig stimmte. Eines Tages dann sagte der Vater zu ihm: « Du musst wissen, dass in einer Schublade meines Büros ein Heft liegt, auf dem dein Name geschrieben steht. Und in diesem Heft wirst du, wenn ich nicht mehr da bin, all meine Formeln für den Lack finden. » Heute baut Monsieur Etienne Vatelot zwar keine Geigen mehr – seit einigen Jahren ist Jean-Jacques Rampal sein Nachfolger -, aber die Lackierung der Instrumente liegt noch immer in seinen Händen. Noch immer zeichnet er für alles verantwortlich, was den Klang der Geige bestimmt. Wie bisher wählt er das Holz für die Geigen aus – je länger Ahorn- und Fichtenholz trocknen, desto besser ist es für das Instrument. Da sich der vor fast hundert Jahren gekaufte Holzvorrat seines Vaters inzwischen dem Ende zuneigt, hat nun Etienne für die nächste Generation vorgesorgt. Und um das Kunsthandwerk seiner Zunft zu sichern, hat er schon vor dreißig Jahren in Mirecourt ein Geigenbaustudium ins Leben gerufen. Jeden Tag fertigt Etienne Vatelot zudem mehrere Expertisen von Geigen. Zu ihm kommen Violinisten, die sich vor dem Kauf eines Instruments beraten wollen, aber auch Kunden, die um ein Gutachten für ihre vermeintliche Stradivari bitten. Die meisten muss er enttäuschen, denn es sind nur etwa 450 Geigen von Stradivari erhalten geblieben. Für die Beurteilung der Instrumente gelten ausschließlich visuelle und nicht akustische Kriterien. « Wenn eine Geige schön ist, bestätigt das meistens auch der Klang. » Obwohl seit über einem halben Jahrhundert Geigen durch die Hände von Monsieur Vatelot gehen, kann er manchmal nur Alter oder Ursprungsland nennen. Jedes Mal, so sagt er, sei es geradezu ein Vergnügen, dem « Gesicht der Geige » einen Namen geben zu können. Vatelot öffnet den hinter ihm stehenden Safe und zeigt auf eine im dunklen Innenraum kaum erkennbare Geige. « Eine Stradivari. Sehen Sie, was für eine Farbe! » Er betont, die Wahl der Geige müsse man immer auf den Musiker abstimmen. Er erinnert sich ungern daran, dass er – es war zu Beginn seiner Tätigkeit – einen jungen Geiger nicht daran gehindert hat, eine Stradivari für sich auszuwählen. Der junge Mann, so Vatelot, war sichtbar vom Namen Stradivari geblendet, seine Karriere gab er schon zwei Jahre später auf. Noch heute fühlt sich Monsieur Vatelot mitverantwortlich. « Wenn ich damals älter gewesen wäre, hätte ich darauf bestanden, dass er eine andere Geige wählt. » Später habe er dann von Instrumenten auch entschieden abgeraten. Um sein Gehör zu schulen, ging Mon-sieur Vatelot früher täglich ins Konzert, bis vor kurzem dann drei bis viermal wöchentlich. Es sei eine Art Berufskrankheit, in den ersten fünf Minuten nicht die Musik, sondern nur das Instrument zu hören, sagt er. Er erinnert sich, wie Menuhin nach einem Konzert eine Zugabe spielte und er beim Zuhören dachte, der Geige müsse etwas passiert sein. Die Klangfärbung war plötzlich eine andere als im Konzert. Vatelot schlich sich, früher als verabredet, zu Menuhin in die Kulissen. Als dieser hörte, was Vatelot beunruhigte, brach er in schallendes Gelächter aus. Er hatte in der Eile seine Stradivari, die er auf dem Sofa der Loge abgelegt hatte, mit der Ersatz-Stradivari im Instrumentenkasten verwechselt. Menuhin bezweifelte, dass das Publikum diese Nuance bemerkt haben könnte. Etienne Vatelot selbst war kein Meister auf der Geige. « Ich spielte nur so herum », sagt er. Schon als Geigenschüler galt er als eher unbegabt, und beim jährlichen Abschlussvorspiel erwies er sich als einer der Schlechtesten. « Das war traurig », erinnert er sich, « denn mein Vater gab mir immer eine sehr schöne Geige. Ich war keine gute Werbung für ihn. » Der von ihm wenig geliebte Geigenunterricht vermittelte ihm jedoch die Klangqualitäten des Instrumentes. « Um Geigen zu stimmen, muss man sie spielen können, wenn auch schlecht. » Er macht eine Pause und lächelt. « Ich hatte nicht das Talent, auch nur eine Sonate zu spielen. »