Exil und Einsamkeit sind die Stoffe der Schriftstellerin Agota Kristof
Agota Kristof verreist nicht gerne. Nur für einen Tag bleibt sie in Paris. Der Gesprächsort, den sie wählt, gleicht eher einer Bahnhofshalle – zwischen Eingangstür und Rezeption des Hotels, in dem sie zu früh geweckt wurde. Blau gekleidete Arbeiter, die morgens den Baulärm gemacht haben müssen, essen laut im Hintergrund. Fragt man Agota Kristof, warum sie ungern auf Reisen geht, antwortet sie, sie wüsste es nicht. « Ich verlasse selten das Haus. Nur um Einkäufe zu machen oder um von Zeit zu Zeit Freunde zu treffen. » In ihrer Wohnung in Neuchâtel fühlt sich die gebürtige Ungarin zu Hause. Das habe nichts mit der Schweiz zu tun, es könne genauso gut in Paris oder Ungarn sein. Exil, Einsamkeit und Entwurzelung sind die Themenkreise der Schriftstellerin. Nachdem der ungarische Aufstand 1956 von den Russen niedergeschlagen worden war, verließen Agota Kristof und ihr damaliger Mann, so wie zweihunderttausend andere Landsleute, die Heimat. « Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit, aber nach dem Krieg war es furchtbar. Wir lebten in einer wirklich unglaublichen Armut. » Die Russen exportierten alles, was es in Ungarn zu essen und zu trinken gab. Im Alter von 21 Jahren floh Agota Kristof mit einem Wörterbuch, Windeln und Fläschchen über die ungarisch-österreichische Grenze – zu Fuß durch die Wälder. « Ich trug mein viermonatiges Baby im Arm », erinnert sie sich, « ich konnte nicht laufen, nur schnell gehen. » Die Frage, ob die Flucht so gewesen sei, wie Kristof sie in ihren Büchern beschreibt, bejaht sie zunächst, unterbricht sich dann und sagt « non, non ». Denn in ihren Romanen kommt nur der über den Todesstreifen, der einen Ahnungslosen vor sich hergehen und statt seiner selbst auf eine Mine treten lässt. Agota Kristof half jemand, der schon anderen zur Flucht verholfen hatte. Sie gaben ihm alles ungarische Geld, das sie noch besaßen. Dieser Mann habe sicher nicht schlecht verdient, sagt Agota Kristof. Nachts überquerten sie eine Brücke, Schüsse fielen. Sie legten sich auf den Boden, um von den Russen nicht gesehen zu werden. « Es war gefährlich », sagt sie. Agota Kristof schreibt es dem Zufall zu, in welches Land sie gekommen ist. Es hätte auch Deutschland, England oder Amerika sein können. Österreich war von Menschen schon überfüllt, die Botschaft händigte ihnen ein Schweizer Einreisevisum aus. Ein Sonderzug brachte die ungarischen Flüchtlinge in die französische Schweiz, wo Agota Kristof in einer Uhrenfabrik zu arbeiten begann. « Um fünf Uhr morgens aufstehen, aus dem Haus gehen, die Straße entlang laufen, um den Bus zu erwischen, vierzig Minuten Fahrt, die Ankunft im vierten Dorf, zwischen den Mauern der Fabrik. Schnell den grauen Kittel anziehen, im Gedränge die Karte in die Stechuhr schieben, zur Maschine eilen, sie in Gang setzen, so schnell wie möglich ein Loch stanzen, stanzen, stanzen, immer das gleiche Loch in das gleiche Stück, möglichst zehntausend Mal am Tag, denn von diesem Tempo hängt unser Lohn, unser Leben ab. » So schildert Agota Kristof im Roman « Gestern » den fünf Jahre lang erlebten Fabrikalltag. Wie andere Arbeiter nahm sie ein weißes Pulver, das die Nerven beruhigte und den Apotheker des Ortes bereicherte. Der Direktion war es bekannt, sie ließ in der Fabrikhalle Musik einspielen. « Damit wir nach dem Rhythmus besser arbeiteten. » Über jeden Arbeiter gab es Aufzeichnungen. Als Eric Bergkraut seinen Dokumentarfilm, « Der Kontinent K. » über die Schriftstellerin drehte, suchte sie die Uhrenfabrik nach Jahren wieder auf. Sie bekam Einsicht in ihre Akte. « Sie haben sie noch immer, nichts Besonderes stand drin. » Agota Kristof hat sich auch als Verkäuferin Geld verdient. Doch sie zog die Fabrikarbeit vor, bei der monotonen Tätigkeit konnte sie träumen und nachdenken. Inzwischen hat sie sich an die Schweiz und das Essen, dem es an Schärfe fehlt, gewöhnt. Manchmal stellt die 65-Jährige staunend fest, wie « dermaßen schweizerisch » ihre drei erwachsenen Kinder geworden sind. Da sie auch Freunde hat, fühlt sie sich nicht mehr wirklich als Ausländerin. Mit ihrem Schweizer Pass reist Agota Kristof seit 1968 mindestens einmal im Jahr nach Ungarn. Die Sprache des fremden Landes lernte sie sehr langsam. « In der Fabrik konnten wir nicht miteinander sprechen, so habe ich in den Jahren nichts gelernt. » Mit Flüchtlingen aus Ungarn unterhielt sie sich weiter in der Muttersprache. Im Nachhinein scheinen die jahrelangen Sprachschwierigkeiten geradezu unvorstellbar, denn Agota Kristof hat ihre mittlerweile mit Literaturpreisen ausgezeichneten Romane alle in Französisch geschrieben. Eigentlich habe sie durch die Schulaufgaben ihrer Kinder am meisten gelernt, sagt sie. Als sie schon zwölf Jahre im Exil lebte, begann sie « aus Spaß » eigene ungarische Gedichte zu übersetzen und kurze Texte in Französisch zu verfassen. « Da Kinder, Nachbarn und Eltern nur Französisch sprachen und ich den Tag französisch erlebte, wäre es merkwürdig gewesen, weiter Ungarisch zu schreiben. » In den siebziger Jahren entstehen erste Theaterstücke: « Der Schlüssel zum Fahrstuhl » (1977), « Eine Ratte die vorbeikommt » (1972-1984), « Die graue Stunde oder der letzte Kunde » (1975-1984). « John und Joe » (1972) findet vor allem in Deutschland und Japan großen Anklang. Ihre Gedichte möchte sie heute nicht veröffentlicht wissen, denn sie « mag sie überhaupt nicht », auch wenn sie das Schreiben im Alter von vierzehn Jahren mit Versen begann. Der Vater – ein Volksschullehrer -, der jüngere Bruder Attila und sie saßen zu dritt in einem Zimmer, und jeder schrieb. Attila Kristof ist heute Schriftsteller in Ungarn. « Er beschreibt dieselben Menschen wie ich, aber ganz anders, sehr blumig und mit langen Sätzen », sagt Agota Kristof über den Bruder. In ihrem ersten Roman (1986) fand sie zu ihrem minimalistischen Stil. « Das große Heft » schildert in nüchterner Sprache die Kindheit eines Zwillingspaares, das in einem vom Krieg zerstörten Land überleben lernt: es bettelt, stiehlt, schlachtet und tötet. « Auch wenn mein Buch nicht autobiografisch ist, bin ich darin vollkommen enthalten. » In den unzertrennlichen Zwillingen spiegelt sich Agota Kristofs Beziehung zu ihrem zwei Jahre älteren Bruder Jeno wieder. Von klein auf war sie in ihn verliebt und hat die durch ihre Flucht bedingte Trennung von ihm nie verwunden. « Es war sehr schmerzhaft, das zu schreiben », erinnert sie sich. Vergeblich habe sie versucht, wirklich Erlebtes niederzuschreiben, sie fing mit « wahren Sätzen » an und setzte doch mit « Lügen » fort. Aus dem Bemühen heraus, sich der Wahrheit zu stellen, folgten auf « Das große Heft » in einer ebenso abgründigen Poetik zwei weitere Romane. « Der Beweis » (1988) beschreibt den Lebenskampf eines der fünfzehnjährigen Zwillinge, den sein geflohener Zwillingsbruder in einem totalitären Staat allein zurückgelassen hat. In « Die dritte Lüge » (1991) kehrt jener Zwilling, der das Land verlassen hatte, nach Jahrzehnten in die Heimat zurück, um seinen Bruder und seine Identität zu finden. Diese drei Romane bilden eine parabelartige Trilogie über Krieg, Tod, Verbrechen und sexuelle Perversion. Thomas Vinterberg, dänischer Regisseur, der mit seinem Dogmafilm « Festen » 1998 Aufsehen erregte, wird Kristofs Trilogie verfilmen. Derzeit arbeiten sein Koautor Mogens Rukov und er an einer Drehbuchfassung. Viele Produzenten und Regisseure, auch Deutsche, hatten vergeblich versucht die Filmrechte zu erwerben. Kristofs Landsmann Istvan Szabó bekundete Interesse am Stoff, wusste aber nicht, wie er ihn für sich umsetzen sollte. Als weiteres Filmprojekt ist Silvio Soldinis Verfilmung von Agota Kristofs viertem und jüngstem Roman « Gestern » geplant. Seit fünf Jahren hat sie nichts mehr veröffentlicht. Theaterstücke und Gedichte will sie nicht mehr schreiben, nur noch Romane. In letzter Zeit schreibe sie viel weniger. Sie versuche es, aber es komme nichts Besonderes heraus. Mit einem Computer möchte sie nicht arbeiten, denn da könne es passieren, dass man versehentlich seine Worte löscht. « Bevor ich einschlafe, schreibe ich ein bisschen in meinem Kopf. Manchmal notiere ich die Gedanken und am nächsten Morgen werfe ich dann das Blatt weg. » Agota Kristof meint, die Ideen kämen, wenn man sie am wenigsten erwartet, beim Gehen, Arbeiten oder Haushaltmachen. « Jetzt habe ich eine Putzhilfe, jetzt schreibe ich nicht mehr », sagt sie. Auch wenn sie sich als Ungarin fühle, erklärt sie, wäre es für sie undenkbar, wieder in der Muttersprache zu schreiben. Als sie vor wenigen Jahren eine Lesung in Ungarn hatte, habe sie Angst gehabt, Sätze falsch auszusprechen. Die französische Sprache beherrsche sie bis heute nicht vollkommen, und doch fühle sie sich in ihr beheimatet. Agota Kristof spricht nicht viel. Doch das Thema Sprache hat sie fast gesprächig gemacht. Sie erzählt, zu Hause habe sie ein Regal mit allen Übersetzungen ihrer Bücher: in 33 Sprachen, unter anderem Vietnamesisch. Manchmal ist sie verwundert, welche merkwürdigen Sprachen es überhaupt gibt, wie Katalanisch, Kastilisch, Galicisch. Ihre eigenen Texte möchte sie nicht selbst ins Ungarische übertragen müssen. Zwei Mal die gleichen Sätze, das sei zu viel. « Das ist auch eine Frage der Faulheit », fügt sie hinzu. Sie zählt wahrlich nicht zu jenen Schriftstellern, die sich in den Vordergrund drängen. Mit französischen Intellektuellen, kann sie meistens nichts anfangen. Noch lebende Denkmäler des französischen Literaturbetriebs, die sich selbst inszenieren, nennt sie einfach « furchtbar ». Diese Menschen ließen sie kalt und interessierten sie nicht, sie sähe sie höchstens im Fernsehen. Agota Kristof liest keine zeitgenössischen Schriftsteller, nur Krimis. Sie habe viel gelesen, früher die Russen auf Ungarisch – im Alter von zwölf Jahren Dostojewski -, später im Sprachkurs auch französische Klassiker. Als sie aber sagt, sie sei keine philosophische Intellektuelle, muss man an eine ihrer Romanfiguren, Sandor Lester, denken: « Ich bin nur ein Arbeiter. Selbst wenn ich ein Schriftsteller würde, wäre ich zu nichts gut, ohne Kultur, ohne Bildung, ein Hurensohn. » Die Frage, ob diese Beschreibung ihrem Selbstbild nahe komme, bejaht Agota Kristof. Sowohl im Gespräch als auch auf der Konferenz über ein pluralistisches Europa, der eigentliche Anlass ihrer Reise nach Paris, bemerkt sie: « Ich habe nichts Besonderes zu sagen. » Die Antworten der Schriftstellerin sind kurz und eindringlich wie ihre geschriebenen Sätze. In Erinnerung bleiben ihre vorsichtige Stimme und ein Körper, der beinahe abwesend wirkt, als sei der Mensch sehr weit weg. Fragt man Agota Kristof nach ihren Plänen, sagt sie: « Nichts ».
Agota Kristof erhält an diesem Sonnabend in Zürich den renommierten Gottfried-Keller-Preis.