Auf einmal stand meine Mutter in ihrem orangeroten Cape vor der Kirche. Sie hatte mich noch nie von der Schule abgeholt, sie war mir noch nie auf dem Weg nach Hause entgegen gekommen. In der schiefen, grauen Kirche hatte mein Vater zu Weihnachten betrunken „Teufel, Teufel“ geschrien, und sie hatte leise und doch laut „pst, pst“ gezischt. Mein Vater war Katholik, meine Mutter Protestantin. Beide glaubten an nichts, sagten sie. Die Kirche quoll vor Menschen über, ich schämte mich nicht, als alle sich nach uns umdrehten. Ich sah auf den unebenen Steinboden und versuchte die Kacheln zu zählen, sie waren unzählbar. Wir kannten sowieso niemanden, außer den Ärzten meiner Mutter, außer meinen Lehrern.
Hüpfend rannte ich auf meine Mutter zu. Sie trug ihre schwarze Sonnenbrille, die Sonne schien nicht, die Feuchtigkeit der Luft hatte ihr rotes, schulterlanges Haar gewellt. Sie setzte die Brille ab, ihr linkes Auge war blutunterlaufen und fast geschlossen, ihre linke Wange angeschwollen, als sei sie gestürzt.
„Wir gehen nach Deutschland!“
„Wann?“
„Jetzt!“
Sie nahm meine Hand, ich merkte, dass die Hand zitterte, wusste aber nicht, ob es die meiner Mutter oder meine war. Die Wege der französischen Kleinstadt, in der wir lebten, verliefen uneben, der Regen der letzten Wochen hatte sich in Schlaglöchern gesammelt. Ich achtete darauf, dass meine Mutter nicht in schlammige Pfützen trat und führte sie nach Hause. Wir gingen immer Hand in Hand, wir waren zwei und doch eins. Sah ich eine Bordsteinkante nahen, verlangsamte ich meinen Schritt und sie ihren, ich blieb eine Fußlänge vor der Kante stehen und sie auch. Wir brauchten nicht miteinander zu sprechen, unser Zeichen reichte. Indem ich kurz ihre Hand drückte, wusste sie, dass eine Stufe kommen würde. Mit mir stolperte sie nie, sie konnte schon nicht mehr gut sehen und meine Augen sahen für sie.
Meine Mutter schloss zum letzten Mal die Haustür auf.
„Wir nehmen nur die allerwichtigsten Sachen mit!“
Hastig stopften wir einen alten Koffer und eine gelbe Reisetasche voll, hektisch versteckten wir Tafelsilber und Silberkannen in einer runden Waschpulverpackung im Keller. Mein Vater konnte jederzeit zurückkommen oder erst in drei Wochen. Schnell warf ich meine Spielsachen in einen himmelblauen Müllsack, alles, was wir in der Eile nicht mitnehmen konnten, sollte später abgeholt werden. Ich durfte nur das einpacken, was ich selbst tragen konnte. Das dicke Buch, in dem ich nachts immer mit einer Taschenlampe las, war zu schwer. Ich wollte meine Mutter nicht fragen, ob sie es in ihren Koffer geben könnte, so suchte ich die schönste Seite, riss sie vorsichtig heraus, faltete sie zweimal zusammen und steckte sie in meine Manteltasche. Mein Hund durfte nicht mit, der Großvater in Deutschland, zu dem wir reisen würden, war Arzt und hielt Tiere für unhygienisch. Jeden Abend schlief der Hund am Fußende meines Bettes auf der rotgrün karierten Decke. Wenn mein Vater nicht deprimiert war, trug er ihn wie ein Hirte sein Lamm auf den Schultern und sprach mit ihm in der Sprache der Schafe. Ich hatte keine Freunde, keine Geschwister, aber diesen schwarzweiß gefleckten Hund. Zum Weinen blieb keine Zeit.
Wir standen vor der Haustür. Aus dem Garten kam uns der Hund entgegen gelaufen, er sprang an mir hoch, ich kraulte ihm den Nacken. Meine Mutter steckte gerade den Schlüssel ins Schloss, als ich unter ihren Arm kroch und mich durch den Türspalt quetschte. Ich lief durch den Flur in die Küche, der Hund rannte mir hinterher, sie rief ihn zu sich und er gehorchte. Ich hörte ihre Stimme.
„Louise!“
Ich riss den Eisschrank auf, zog das unterste, braune Plastikfach heraus und schob alle Essensreste, die in den einzelnen Fächern standen, hinein.
„Louise!“
„Ich beeile mich.“
Ich öffnete die Tür zur Terrasse, schraubte drei Gläser auf, schüttete Oliven, Sardellen und Essiggürkchen auf den Betonboden, leerte den Inhalt einer offenen Maisbüchse, warf eine Wurst, ein paar Scheiben rosigen Schinken und einen verwelkten Salatkopf daneben. Meine Mutter schrie erneut. Aus zwei Töpfen schaufelte ich mit den Fingern hellrote und grüngelbe Marmelade, ich schlug die Glastür der Terrasse zu und wusch mir die Hände. Der Eisschrank stand noch offen, im Weglaufen knallte ich ihn zu. Außer Atem kam ich zu meiner Mutter zurück, sie schimpfte, der Hund bellte. Sie schüttelte den Kopf, zog die Haustür zu und griff nach dem Koffer. Wir liefen zum weißen Gartenzaun und schlossen das Lattentor hinter uns. Der Hund steckte seinen Kopf durch das Loch für den Ölschlauch. Er wedelte mit dem Schwanz und sah uns nach, plötzlich hörte er auf zu bellen.
Wir trugen das schwere Gepäck zum Zahnarzt des Ortes. Meine Mutter hatte sich mit ihm und seiner jugoslawischen Frau angefreundet. Mein Vater sagte immer wieder, er sei ein Schlachter, von ihm ließe er sich nicht einmal einen Zahn ziehen. Er trank lieber Pastis gegen den Schmerz bis er verschwand. Der Zahnarzt nahm meine Mutter in die Arme und ging mit ihr ins Behandlungszimmer. Die Praxis war leer, ich wartete sehr lange im Wartezimmer. Ich betrachtete die Lampen, die wie Tropfen von der Decke hingen. Mein Vater hatte dem Zahnarzt diese Lampenschirme aus gräulichem Kunststoff verkauft, bevor seine Firma in Konkurs ging, und er arbeitslos wurde. An Kunststoff glaubte er nie, sagte er, sobald man eine Glühbirne einschraubte, die stärker als 40 Watt war, schmolz er. In seiner gesamten Kunstoffkarriere konnte mein Vater nur zwei Verkaufserfolge verbuchen. Immer wieder erinnerte er sich – und insbesondere meine Mutter – daran, dass seine Lampen noch heute tschechische Speisewagons und polnische Hotelzimmer beleuchten würden. An manchen Tagen entgegnete meine Mutter ihm nur, „Du und deine Plastikfunzeln!“ Um besser sehen zu können, hatte sie überall im Haus die stärksten Glühbirnen eingeschraubt, die es zu kaufen gab. Der Kunststoff tropfte auf den Boden. Irgendwann kam meine Mutter aus dem Behandlungszimmer wieder heraus und erklärte: „Ich habe ein letztes Mal meine Zähne zeigen wollen.“ Wir übernachteten in der Wohnung des Zahnarztes. Seine Frau, die eine Perserkatze und Fettpflanzen liebte, bezog unsere Betten im Gästezimmer. Die Bettwäsche roch nach ihrem pudrigen Parfum, und ich fiel in einen tiefen Schlaf.
Die „Lieblingspatientin“ des Großvaters holte uns mit dem Auto ab, der Wagen und ihre Haut glänzten. Sie sprach mit zittriger Stimme zu meiner Mutter in deutscher Sprache. Wenn ein Windstoß kam, blieb ihr hellblondes Haar unverändert auf dem Kopf liegen. Zweimal wies sie darauf hin, ich müsse mich mit dem „Sicherheitsgurt“ anschnallen. So lange sie das Einrasten der metallenen Schnalle nicht hörte, blickte sie immer wieder in den Rückspiegel. Auf der Fahrt bestand die Lieblingspatientin darauf, mir ein Spiel beizubringen, sie lachte.
„Das Kind wird abgelenkt, und wir tun etwas für unsere grauen Zellen!“
Meine Mutter stimmte sofort zu.
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe hinein.“
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe und einen Rock hinein.“
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe, einen Rock und ein Buch hinein.“
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe und einen Rock und ein Buch und ein Reisebügeleisen hinein.“
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe und einen Rock und ein Buch und ein Reisebügeleisen und eine Zahnbürste hinein.“
Ich war wieder an der Reihe.
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe und einen Rock und ein Buch und ein Reisebügeleisen und eine Zahnbürste und ein Plüschtier hinein.“
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe und einen Rock und ein Buch und ein Reisebügeleisen und eine Zahnbürste und ein Plüschtier und eine Reservezahnbürste hinein.“
„Ich packe meinen Koffer und lege ein Paar Schuhe und einen Rock und ein Buch und ein Reisebügeleisen und eine Zahnbürste und ein Plüschtier und eine Reservezahnbürste und einen Schuhlöffel hinein.“
Ich war schon wieder an der Reihe.
„Ich packe meinen Koffer und lege meinen Hund hinein.“
„Sei kein Spielverderber!“ riefen die Lieblingspatientin und meine Mutter im Chor.
Ich wollte mir nichts mehr merken und sagte nichts mehr, meine Mutter und die Lieblingspatientin zählten sich bis zur Grenze gegenseitig Gegenstände auf: Schuhcreme, Handbürsten, Waschlappen, Reserveschuhcreme, Reservehandbürsten, Reservewaschlappen. Als wir uns der Grenze näherten, beendeten sie das Spiel. Meine Mutter betonte mehrmals, ein Grenzübertritt mit mir sei keine Kindesentführung, auch wenn sie noch nicht die richtigen Papiere zusammen hätte.
Vor Monaten waren meine Mutter und ich zum Rechtsanwalt in die nächste Stadt gefahren. Während der Busfahrt wiederholte sie ständig: „Das ist ein Geheimnis, das nur wir haben! Du darfst keinem verraten, zu wem wir gehen!“ In einer dunkelbraunen Kanzlei sprach ein Zigarre rauchender Mann über Sätze und Gesetze. Meine Mutter hielt ihm ihren blauen, aufgeschlagenen Pass hin, mit seiner freien Hand deutete er unter ihr Passfoto, ich klebte da. Danach schickten sie mich hinaus, schlossen die gepolsterte Tür und ich sah im holzgetäfelten Vorzimmer der Sekretärin beim Tippen zu. Auf der Rückfahrt schwieg meine Mutter.
Wir blieben in der ersten deutschen Stadt nach der Grenze. Ich hörte weitere Worte, die ich nicht kannte, meine Mutter musste „Behördengänge“ erledigen. Sie versuchte, mich in einem Kinderheim abzugeben. Die Erzieher wollten mich nicht dabehalten, meine Mutter schlug vor, ihren Pass als Pfand zu lassen. Dennoch befürchteten sie, meine Mutter wolle mich aussetzen, sie entschuldigten sich, sie könnten mich leider nicht aufnehmen. So verbrachte ich den Tag in der Großküche des Hotels, in dem wir übernachteten, und wartete, dass meine Mutter zurückkehrte. Auf blauen Flammen brodelten Metalltöpfe. Die Essensreste hatte mein Hund sicher längst gefressen. Wann würde mein Vater nach Hause kommen? Die Köche mit hohen, weißen Mützen gaben mir eine Orangenlimonade, die ‚Blume’ oder ‚Bluma’ hieß, zu trinken. Sie blieben häufig neben mir stehen, redeten mit mir und lächelten mich an, auch wenn ich ihre Sprache nicht gut verstand. Ich durfte von jedem Topf probieren. Wenn ich auf einen Topf zeigte, nahm ein rotgesichtiger Koch den Deckel hoch und füllte mir etwas Dampfendes in eine kleine Schüssel: Kartoffelklöße, Kartoffelpuffer, Kartoffelsuppe. Buchstabensuppe, die kannte ich, es war das gleiche Alphabet. Ich verbrannte mir die Zunge. Abends konnte ich nicht einschlafen, ich hatte zu viel gegessen, und meine Mutter war mit der Lieblingspatientin spät zurückgekommen.
Die Großmutter stand in der Einfahrt ihres Hauses, in der Luft lag der Geruch von Keksen, sie streckte mir die Arme entgegen.
„In Deutschland wirst du es besser haben!“
Sie spitzte den Mund, den eine Schicht rosigcremiger Lippenstift überzog, ich drehte den Kopf weg. Dicke Nähte eines Büstenhalters zeichneten sich durch eine Seidenbluse auf ihrem eckigen Busen ab. Sie rief in die offene Haustür hinein, in der der Großvater meine Mutter in den Armen hielt:
„Was hat denn dieses Kind?“
Der Großvater trug einen weißen Kittel. Als ich neben ihm stand, beugte er sich hinunter und strich mir mit seiner warmen Hand über den Rücken, er lächelte und nickte.
„Aller Anfang ist schwer.“
Dann verschwand er. Die Großmutter sah meine Mutter an.
„Nimm endlich deine Sonnenbrille ab. Man muss sich doch gerade in die Augen sehen können.“
Meine Mutter setzte ihre Brille ab, die Großmutter hielt den Atem an.
„Oh Gott! Was hat er mit dir gemacht!“
Ein dunkelblauer Fleck umrandete inzwischen das linke Auge meiner Mutter, geplatzte Äderchen durchzogen das Weiß des Augapfels. Die Großmutter wandte schnell ihren Blick ab.
„Setz die Brille bitte wieder auf!“
Zwei Frauen in rosa Kitteln näherten sich der Großmutter, die gerade auf unser Gepäck zeigte.
„Das sind Inge und Frau Biermann! Unsere Haushaltshilfe und unsere Putzfrau!“
Inge griff nach der gelben Reisetasche, Frau Biermann nach dem alten Koffer. Die Großmutter öffnete eine Tür, schob mich in ein Zimmer und zeigte auf Menschen, die auf roten und schwarzen Stühlen um einen Tisch voller abgegriffener Zeitschriften saßen.
„Das sind unsere Patienten. Sag guten Tag.“
Ich sagte nichts und starrte auf den stachligen, stahlblauen Teppichboden.
„Das ist unser Enkelkind!“
Die Großmutter lächelte kurz, zog mich aus dem Zimmer und der abgestandenen Luft wieder heraus. Sie machte leise die Tür hinter sich zu und zog fest an meinem Arm.
„Du musst freundlich zu den Leuten sein. Schließlich sind das unsere Patienten!“
Sie schritt durch einen hohen, langen Flur mit kirschrotem Teppichboden und sonnengelber Blumentapete, so große Blüten gab es in keinem Garten. Meine Mutter und ich, Frau Biermann und Inge gingen der Großmutter hinterher. Mit einem Schlüsselbund, an dem viele Schlüssel hingen, schloss die Großmutter erst eine Tür mit Milchglasscheibe, dann eine weißlackierte Holztür auf. Wir standen zu fünft in einem hellen Raum, dem Wohnzimmer, an das ein dunkles, weiteres Zimmer grenzte. Im Wohnzimmer öffnete die Großmutter einen breiten, leeren Kleiderschrank und zählte die Bügel nach, Holz und Metall stießen aneinander.
Ich fragte sie:
„Wie alt bist du eigentlich?“
Die Großmutter drehte sich um.
„Nach dem Alter fragt man nicht!“
Sie gab Frau Biermann und Inge ein Zeichen, dass sie gehen konnten. Abwesend blickte meine Mutter auf eine rosa Couch und rosa Sessel. Die Großmutter ging ins andere Zimmer und zog ratternde Holzrollos hoch. Zwei gleich große Eichenbetten standen nebeneinander, die nur ein Nachttisch trennte. Schneeweiße, durchscheinende Gardinen verhingen große Glasflächen, unter ihnen spiegelten sich meterlange, schwarze Marmorfensterbänke, die leer standen. Auf der gegenüberliegenden Seite glänzte ein kleines Waschbecken, an metallenen Handtuchhaltern hingen frische Handtücher wie im Hotel.
Die Großmutter streckte ihren Zeigefinger in die Luft.
„Das ist dein neues Zuhause! Hörst du!“
Sie strich mit dem anderen über die Fensterbänke.
„Sicher wollt ihr euch erst einmal frisch machen! Nachher gibt es Kaffee und Kuchen.“
Die Großmutter verschwand, meine Mutter fing an, Koffer und Reisetasche auszupacken. Ich saß auf einem der Eichenbetten und blickte durch die Gardine in den Garten. Eine Teppichstange stand dort, es hing keine Schaukel an ihr, der Rasen war kurz geschnitten, der Himmel weder blau noch grau. Meine Mutter ließ mich aussuchen, in welchem Bett ich schlafen wollte. Das an der Wand sollte meines sein. Aus der Manteltasche holte ich meine herausgerissene Buchseite, die Reise hatte sie zerknittert. Ich strich sie glatt und legte sie zwischen Matratze und Bettkante.
„Wie lange bleiben wir hier?“
„Eine Zeit.“
„Was ist eine Zeit?“
„Ich weiß es nicht.“
Woher sollte ich wissen, was eine Zeit ist, wenn selbst meine Mutter es nicht wusste.
Der blinde Fleck, Braumüller Literaturverlag Wien, 2011, Seite 5-15
Romananfang Seite 5-15