Meine Mutter verletzte sich täglich. Die Ecken und Kanten der neuen Wohnung waren ihr noch nicht vertraut, oft stieß sie sich an scharfen Schreib- und Küchentischkanten, an spitzen Schuh- und Badezimmerschrankecken, manchmal lief sie gegen offene Türen und Schränke. Auf ihrem Körper zeichneten sich Kratzer, Flecken, Schrammen und Blutergüsse ab, die sie unter ihrer Kleidung versteckte. Aufgeplatzte Wunden im Gesicht, über ihren Schläfen und unter ihren Brauen, blieben für jeden sichtbar. Wenn sie ein blaues Auge hatte, wollte sie nicht aus dem Haus gehen. Sie meinte, sie sähe verprügelt aus. Bis es zu einem unauffälligen Fleck wurde, fragte sie mich oft mehrmals am Tag nach dessen Farbe. Manchmal sagte ich, es habe sich in ein schwaches Hellgelb verwandelt, wenn es noch ein kräftiges Gelbgrün war. Ich log nicht sehr gerne, aber es erleichterte meine Mutter. Sie gewöhnte sich daran, sich Arme und Beine aufzuschlagen, auf ihren Oberschenkeln hatte sie immer ein oder zwei blaue Flecken in Tischhöhe. Meine Mutter behauptete, sie habe fast kein Schmerzempfinden mehr. Ein Mal bemerkte sie ihre Verletzung erst an der Wärme des fließenden Blutes, ein anderes Mal entdeckte ich, dass ihre Haarsträhnen rotbraun verkrustet waren. Sie versuchte sich zu erinnern, wo und wann sie sich besonders wehgetan haben konnte. Die weißen Alpenveilchen hatte sie unter dem Wohnzimmerfenster gegossen und auf den Boden gefallene, vertrocknete Blütenblätter aufgesammelt. Aus der Hocke sich aufrichtend schlug sie mit ihrem Kopf gegen die gekachelte Fensterbank, dort musste sie sich eine blutende Wunde geschlagen haben, die beim Trocknen ihre Haare verklebt hatte.

Ich führte meine Mutter durch unsere Wohnung wie durch eine fremde Stadt. In jedem Zimmer sah ich mich um, griff nach ihrer rechten Hand und ließ sie mit ihren Fingerspitzen alle Ecken und Kanten langsam abtasten. Ich beschrieb ihr den Abstand jeder möglichen Gefahr zu den Wänden, Türen und Schwellen, nach denen sie sich richtete. Sie musste sich jedes Hindernis einprägen, um sich im Raum, den ihr die abgestellten Möbel gelassen hatten, bewegen zu können. Meine Mutter und ich gingen alle Gänge der Wohnung ab: gerade Wege, enge Umwege, einfache Sackgassen und verschachtelte Abkürzungen zwischen Tischen, Stühlen, Betten und Schränken. Sie zählte die Schritte von der Türschwelle bis zum Schaukelstuhl, vom Schaukelstuhl bis zum Schreibtischstuhl und vom Schreibtisch bis zur Fensterbank. Oft wurde sie ungeduldig, ich blieb ruhig, denn fast alles war für meine Mutter gefährlich: das robuste Waschbecken im Bad, die klobigen Türklinken und selbst die schweren Hängelampen. In den neuen Zimmern versuchte ich zu ihrem vorangehenden Schatten zu werden, ich wollte sie beschützen. Oft sagte sie streng: „Lass mich das bitte alleine machen!“ oder „Ich kann es selbst!“ Damit sie sich nicht unselbständig fühlte, blieb ich nur hinter ihr stehen und beobachtete sie unauffällig. Wenn ich fast sicher war, dass sie sich bald verletzen würde, griff ich im letzten Moment ein. Manchmal war es zu spät.

Der Großvater besuchte uns nach einer „Herzkranzgefäßverengung“ und vor einer „Magenverstimmung“. Er schob uns zwischen seinen Patienten ein, um auch bei uns „nach dem Rechten“ zu sehen. Als er meine Mutter zur Begrüßung auf die Wangen küsste, entdeckte er eine Verletzung. Er nahm ihren Kopf behutsam in die Hände, führte sie zur nächsten Lichtquelle, schob einige ihrer Haarsträhnen zur Seite und betrachtete sie unter der Flurlampe. Der Großvater untersuchte eine Wunde auf der Kopfhaut, die ich übersehen, und die meine Mutter mir verschwiegen hatte.

„Mein Kind! Eigentlich hätte es genäht werden müssen. Du hast noch einmal einen Schutzengel gehabt. Wann ist es passiert?“
„Vor drei Tagen.“
„Sonst alles in Ordnung? Herz? Stuhl?“
„Ja, ja.“
„Eher fester? Eher breiig?“
„Normal.“

Der Großvater schob erst den rechten Ärmel ihrer Bluse und dann die linke Manschette seines Hemdes hoch. Er hielt mit Daumen und Zeigefinger ihr Handgelenk, sah auf seine goldene Armbanduhr und verfolgte deren Sekundenzeiger. Nach einigen Atemzügen brach er sein Schweigen.

„Puls völlig unbedenklich.“

Er strich meiner Mutter einmal über die linke Kopfhälfte, griff in seine Manteltasche und überreichte ihr ein Geschenk. Aus dem gestreiften Papier wickelte sie einen Bogen aus Messing und bat mich einen Hammer zu holen. Der Großvater schlug einen Nagel in die schiefe Flurwand.

„Glück, Glück! Wer will sagen, wer du bist und wo du bist! Fontane.“

Der Großvater machte eine Pause, er sah mich ruhig und eindringlich an, ich hörte nur noch seinen Atem und das Ticken seiner Uhr. Plötzlich rüttelte er am Nagel, um nachzuprüfen, ob dieser fest in der Wand steckte. Er nickte und hängte den Messingbogen als umgekehrtes U daran auf. „Das ist ein Glücksbringer“, sagte er und verabschiedete sich.

„Meine Patienten rufen.“

Meine Mutter stand in der Küche und zerkleinerte Lauch mit einem scharfen Messer. Sie brauchte einen besseren Schutzengel, ich musste seine Arbeit übernehmen. Wenn sie kochte, konnte ich die Gefahr nicht einschätzen. Würde sie in der nächsten Sekunde Lauch oder ihren Finger schneiden? Sie schnitt sich eine Fingerkuppe der linken Hand an, sofort schoss Blut aus der Wunde, es spritzte über das Weiß vom Gemüse auf das Holzbrett. Meine Mutter hielt ihren Finger unter fließend kaltes Wasser.

„Die Kälte verengt die Kapillargefäße. So kann man eine Wunde stillen.“
„Was für Gefäße?“
„Haargefäße.“

Ich verstand nichts und lief in ihr Schlafzimmer. Um das Apothekerschränkchen öffnen zu können, stieg ich auf einen Stuhl. Ich suchte nach einem Pflaster, im unteren Fach der Innenseite der Tür fand ich es. Als ich in die Küche zurückkam, hielt meine Mutter ihren Zeigefinger senkrecht in die Luft. Er war rot. Sie bat mich, einen Meter Toilettenpapier zu holen, damit umwickelte sie den Finger. Ich wischte mit Spülmittel das blutbefleckte Gemüse und Holzbrett ab. Das rosa Toilettenpapier verfärbte sich rot. Nach einiger Zeit floss kein Blut mehr aus dem Finger, meine Mutter streckte ihn mir entgegen und ich umklebte die Schnittstelle mit dem Pflaster. Sie lachte: „Jetzt habe ich mir auch noch ins eigene Fleisch geschnitten.“ Ich wusste nicht, was daran so komisch sein sollte. Sie fragte: „Ist Blut auf das Gemüse gekommen?“ Ich sagte: „Nein.“ Mit den gespreizten Fingern ihrer linken Hand hielt sie die Lauchstange, die sie mit der rechten Hand weiter schnitt. Der Porreeauflauf schmeckte wie immer, meine Mutter kochte ihn nie wieder. Wenn sie sich beim Zubereiten eines Essens stark verletzte, hatte sie keine Lust, es nochmals zu kochen, als hätte gerade dieses Gericht ihr Unglück gebracht. Immer häufiger aßen wir wässrige Tütensuppen und aufgetaute Tiefkühlpizzen.

Meine Mutter schob Bœuf Stroganow als Fertiggericht in den vorgeheizten Ofen. Die blauen Flammen gingen aus, sie kniete sich vor den Herd und versuchte ihn mehrmals wieder anzuzünden, es gelang ihr nicht. Ich bot meine Hilfe an, sie antwortetet nur: „Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht.“ Immer wieder hielt sie ein brennendes Streichholz in das Loch, aus dem das Gas treten sollte, nichts geschah. Plötzlich stach eine riesige Flamme aus dem Ofen. Es zischte. Schreiend wich meine Mutter mit ihrem Oberkörper nach hinten und schlug sich mit den Händen gegen die Stirn und auf die Augen. Sie richtete sich auf. Sie tastete nach einem Küchenstuhl, zog ihn zu sich heran und setzte sich. Ein eigenartiger Geruch breitete sich aus. Sie zitterte, als sei ihr sehr kalt. Wo lange Wimpern am Rande ihrer Augenlider und dichte Härchen im Bogen über ihren Augen angeordnet gewesen waren, hingen winzige, verkohlte Kügelchen. Meine Mutter glich einem Fisch, sie hatte keine Augenbrauen und Wimpern mehr. Ich strich über ihre Wange, sie lächelte ein wenig. An die kürzeren Stirnfransen konnte ich mich gewöhnen, an ihr nacktes Gesicht nicht. Wie lange würde es dauern, bis sie wieder wie ein Mensch aussah? Wuchsen Wimpern überhaupt nach? Ich griff nach ihrer Hand und streichelte ihre Finger, die Härchen auf ihren Händen und Unterarmen waren auch angesengt. Meine Mutter wiederholte ständig: „Was für ein Glück, dass ich heute Baumwolle trage. Sonst wäre ich verbrannt.“ Paulinchen war allein zu Haus, es brennt die Hand, es brennt das Haar, es brennt das ganze Kind sogar. „Sonst hätte die Synthetikkleidung mich in Plastik eingeschmolzen.“ Verbrannt ist alles ganz und gar, das arme Kind mit Haut und Haar, ein Häufchen Asche blieb allein. „Der geerbte Gasherd ist lebensgefährlich. Ich will eines Tages auf einen Elektroherd sparen. Ein solcher ist „blindenfreundlicher.“ Zum ersten Mal hörte ich sie dieses Wort benutzen.

Ich ging zum himmelblauen Müllsack, den meine Mutter aus Frankreich mitgebracht und in den Kleiderschrank gestellt hatte. Ich durchwühlte ihn und zog meine Puppe heraus, die Batterie war leer, sie konnte nicht weinen. Mit einer Nagelschere schnitt ich ihr die Wimpern ab, ich legte die Puppe in den Müllsack zurück und verknotete ihn fest.

Meine Mutter und ich standen in einem glänzenden Treppenhaus. Sie nahm das violette Seidenpapier vom Blumenstrauß, den sie in der Hand hielt und knüllte es zu einem Ball, den sie in ihre Schultertasche steckte. Sie nickte, ich drückte auf eine Klingel, unter deren Namensschild ein Streifen voller abtastbarer Punkte klebte. Die Tür öffnete sich, Magda betrat die Fußmatte, Kurt blieb hinter ihr im Flur. Beide hatten die Augen geschlossen. Sie waren die ersten blinden Bekannten meiner Mutter, Magda und Kurt würden nicht sehen können, dass meiner Mutter Augenbrauen und Wimpern fehlten. Magda strich sich über den Rock, der steife Taftstoff raschelte. Sie lachte aufgedreht und bat uns hineinzukommen. Meine Mutter überreichte die Blumen und sagte: „Das sind bunte Tulpen.“ Magda dankte überschwänglich und ging in die Küche. Sie öffnete einen Schrank, fand tastend eine Vase, steckte den Zeigefinger ins Innere des Gefäßes und ließ Wasser einlaufen. Als das Wasser ihren Finger berührte, drehte sie den Hahn ab und stellte die Blumen hinein. Sie fragte nach deren Farben, ich zählte die Farbtöne auf. Dieser Strauß war das falsche Geschenk, Magda konnte ihn weder sehen, noch riechen, Tulpen rochen nach nichts. Sie bat uns „in die gute Stube“ und sagte: „Kurt hat den Tisch gedeckt, während ich den Kuchen gebacken habe.“ Nichts fehlte auf der grobgewebten Tischdecke: Sahne, Kuchen, Kuchenheber, Kuchenteller, Kuchengabeln, Tassen, Untertassen, Kaffeelöffel, Kaffeesahne, Kaffeewärmer, Zuckerstückchen und zu Dreiecken gefaltete Servietten. Jeder einzelne Gegenstand war einem anderen genauestens zugeordnet, Kurt musste sich lange damit beschäftigt haben. Meine Mutter näherte sich dem Tisch und stieß gegen ein Tischbein, die Kaffeesahne schwappte aus dem Kännchen und machte einen Fleck auf der Decke. Ich sollte Magda und Kurt darauf aufmerksam machen, ich sagte nichts, ich wollte meine Mutter nicht verraten. Magda nahm mit ihrer einen Hand die Kaffeekanne, den Zeigefinger ihrer anderen Hand führte sie knapp unter den oberen Rand der Tasse. Bevor der dampfende Kaffee ihren Finger berührte, hörte sie auf, einzuschenken. Kurt stand auf, holte für mich ein Glas und eine Flasche Ananassaft aus der Küche und goss ein, auch er benutzte seinen Zeigefinger. Ich fragte: „Wie habt ihr den Kuchen in zwölf gleiche Stücke schneiden können?“ Magda lachte: „Ich habe eine Kuchenschneidehilfe.“ Als meine Mutter den Geschmack des Apfelkuchens lobte, erklärte Magda: „Das ist ein Fertigkuchen.“ Für den Teig musste man nur ein Ei, Milch und Butter ins Pulver geben, für die Apfelfüllung nur heißes Wasser auf die trockenen Fruchtstücke gießen. Magda lachte und sagte: „Dieser blindenfreundlichen Erfindung wegen verdient der Hersteller einen Preis.“

Meine Mutter, Magda und Kurt unterhielten sich über Blindenberufe. Magda und Kurt hörten von morgens bis abends Stimmen, sie arbeiteten für die Stadtverwaltung als Telefonisten. Sie lächelten. „Es ist, als ob wir stundenlang Menschen sehen.“ Meine Mutter sagte: „Wenn ich ganz blind sein werde, würde ich lieber einen anderen Beruf ausüben.“ Kurt antwortete: „Wenn du nicht gerade Körbe flechten oder Bürsten herstellen willst, ist die Auswahl nicht übermäßig groß.“ Meine Mutter entgegnete: „Früher habe ich Sport unterrichtet, jetzt beginne ich als Gymnastiklehrerin und später werde ich vielleicht als Masseurin arbeiten.“ Ich wollte nicht, dass meine Mutter fremde Menschen anfasste. Magda lachte. „Dann hast du schon deine ersten Patienten. Kurt und ich haben Schultern aus Eisen. Vom Halten unserer Blindenstöcke sind wir vollkommen verspannt.“

Magda und Kurt begannen, den Tisch abzudecken, sie wollten meiner Mutter etwas zeigen. Ich bot meine Hilfe an, Kurt bat mich, ihnen nicht zu helfen. Wenn sie nicht genau wüssten, wo ich etwas abstellte, sei es für sie viel umständlicher alles wieder zusammenzusuchen. Nachdem der Tisch leergeräumt war, holte Kurt ein buntes Lego-Haus ohne Dach von einem Beistelltisch. Er reichte es meiner Mutter, die ihren Stuhl nach hinten rückte und sich das Haus auf die Oberschenkel legte.

Kurt sagte: „Weißt du denn, dass Magda und ich uns ein blindenfreundliches Eigenheim bauen? Wir haben mit Legosteinen vorgebaut.“ Magda und Kurt griffen ins Haus, betasteten und beschrieben einzelne Räume. Plötzlich presste Magda die Hand von Kurt weg und nahm drei Finger meiner Mutter. Erst führte sie ihren Mittelfinger im Wohnzimmer herum. Dann steckte sie den Zeigefinger durch die Tür zum Flur und drückte den kleinen Finger gegen die angelehnte Esszimmertür. Was war ein blindenfreundliches Zuhause? Ich fragte: „Gibt es in eurem Haus dann keine Lichtschalter?“ So stünden sie nicht vor dem Rätsel, ob das Licht brennt oder nicht, ob es aus- oder eingeschaltet werden muss. Magda lachte laut. „Nein, schließlich sollen sich auch Sehende darin zurechtfinden. Du sollst uns auch besuchen kommen. Wir haben uns vor allem gewünscht, in einem Flachbau ohne Treppen zu leben.“ Kurt erzählte, wie Magda vorletzten Winter drei vereiste Stufen vor der Haustür hinuntergerutscht war und sich die Beine aufgeschlagen hatte. Mit blutigen Knien und aufgerissenen Seidenstrümpfen hatte sie auf dem Glatteis liegend laut gelacht und gerufen: „Was bin ich für ein blindes Huhn!“ Meine Mutter, Magda und Kurt lachten, Kurt nahm meiner Mutter das Lego-Haus ab und stellte es auf den Beistelltisch. Ein Teil der Wohnzimmerwand war ausgebrochen. Ich kroch auf dem wolligen Fußboden herum, fand die Mauerreste neben dem Schuh meiner Mutter und steckte sie auf die abgebrochene Wand.

Die Sonne ging unter, Kurt stand auf. Es fing langsam an, dämmerig zu werden. Er steuerte auf den Lichtschalter zu, betätigte ihn jedoch nicht und ging zum Plattenspieler. Meine Mutter hatte wegen des Lichts nichts gesagt, ich fragte nicht nach. Kurt setzte den Arm des Plattenspielers auf den Rand einer Schallplatte. Ein Vogel sang, unterschiedlichste Vogelstimmen ertönten, wir saßen im dunklen Wald. Meine Mutter schwieg, Magda und Kurt nannten, sobald das Gezwitscher sich veränderte, abwechselnd Vogelnamen: Fink, Spatz, Star, Zeisig, Meise, Schwalbe, Amsel, Drossel, Kuckuck und Nachtigall.

Kurt flüsterte:

„Wir hören gerade Magdas Lieblingsplatte.“ Meine Mutter lachte.
„Ich sehe den Wald vor lauter Vögeln nicht.“

Magda und Kurt sagten nichts, meine Mutter fing mit hoher Stimme zu singen an.

„Auf einem Baum ein Kuckuck, sim sa-la-dim bam-ba sa-la du sa-la-dim, auf einem Baum ein Kuckuck saß. Da kam ein junger Jägers-, sim sa-la-dim bam-ba sa-la du sa-la-dim, da kam ein junger Jägersmann.“

Ich sah mich im Wohnzimmer um, betrachtete die Wände und zählte, wie viele Segelboote in den zwei gerahmten Bildern schwammen.

„Der schoss den armen Kuckuck, sim sa-la-dim bam-ba sa-la du sa-la-dim, der schoss den armen Kuckuck tot.“

Magda wandte sich mir zu und öffnete kurz ihre Augen. Vielleicht hatte ich nicht richtig gesehen, Magdas Augen waren weiß. Hastig zählte ich, wie viele Häkeldeckchen über dem Sofa, den Sesseln und Fensterbänken lagen. Meine Mutter hatte aufgehört zu singen, Kurt sang weiter.

„Und als ein Jahr vergangen, sim sa-la-dim bam-ba sa-la du sa-la-dim, und als ein Jahr vergangen war, da war der Kuckuck wieder, sim sa-la-dim bam-ba sa-la du sa-la-dim, da war der Kuckuck wieder da.“

Ein erwachsener Mann stand plötzlich im Zimmer. Er machte das Licht an und begrüßte Magda und Kurt. Kurt sagte: „Ich habe dich nicht kommen hören.“ Magda lachte. „Du hast ohrenbetäubend laut gesungen.“ Der Mann mit kurzem Haaren und kleiner Nase lebte in dieser Wohnung. Roman war ihr Sohn, er würde den Fleck meiner Mutter auf der Tischdecke entdecken und vor allem ihre fehlenden Wimpern. Magda drückte einen Knopf ihrer Armbanduhr, der Glasdeckel sprang auf und sie betastete das Zifferblatt. Sie fragte meine Mutter: „Was für eine Blindenuhr hast du?“ Meine Mutter antwortete: „Ich komme noch sehr gut mit meiner normalen Armbanduhr zurecht. Das Zifferblatt ist fettgedruckter als das einer Bahnhofsuhr.“ Kurt sagte: „Wir wissen nicht wie Bahnhofsuhren aussehen. Wir …“ Magda unterbrach ihn und drehte sich in meine Richtung: „Willst du mal eine Blindenuhr anfassen?“ Ich fühlte kleine Erhebungen. Wie konnte ein Finger die Zeit ertasten? Die Pünktchen waren kleiner als Stecknadelköpfe, Blinde mussten feinfühlig sein. Magda lächelte. „Die böse Uhr raubt uns die liebsten Gäste.“ Sie fragte: „Soll Roman euch nach Hause fahren?“ Meine Mutter dankte und sagte: „Ich laufe gern ein paar Meter und Louise wird mich durch die Nacht führen.“

Der blinde Fleck, Braumüller Literaturverlag Wien, 2011, Seite 116-127