Der Schriftsteller und Filmemacher Atiq Rahimi über eine Rückkehr nach Afghanistan, den ewigen Kreislauf der Tragödien seines Volkes und ein Leben mit verschiedenen Kulturen

Atiq Rahimi verabredete sich mit mir im Café Select, einem schicken, dennoch nicht snobistischen Pariser Intellektuellen-Treffpunkt. Als wir während des Interviews gerade über den letzten Krieg sprachen, verirrte sich eine Taube in das Café und flog knapp über unsere Köpfe mehrmals gegen die Fensterscheiben. Atiq Rahimi lachte und lachte zu meiner Verwunderung. Immer wieder war der dumpfe Aufprall des Tieres gegen das Glas zu hören. Schließlich verließ die Taube das Café. Mit kleinen Schritten ging sie durch den Haupteingang. Später las ich im in Frankreich veröffentlichten Tagebuch Rahimis: « Vielleicht lache ich deshalb immer in allen Situationen. Im Inneren bin ich gebrochen und krank, meine Nerven liegen blank. Doch sobald ich mit jemandem spreche, zeichnet sich dieses, sicherlich lächerliche, Lächeln auf meinen Lippen ab. »

Atiq Rahimi, Sie leben seit fast 20 Jahren im französischen Exil. Wie ist es Ihnen ergangen, als Sie letztes Jahr zum ersten Mal in Ihr Heimatland Afghanistan reisten?

Im Flugzeug hatte ich mich ganz hinten hingesetzt. Ich wollte nicht, dass mich jemand weinen sieht. Aber ich habe nicht einen Moment geweint. Ich fühlte mich leicht wie ein Strohhalm. Nach achtzehn Jahren setzte ich wieder den Fuß auf den Boden meiner Heimat. Die Rückkehr hatte nichts Belastendes, obwohl ich aus dem Flugzeug all die Ruinen gesehen hatte. Ich wusste von der Zerstörung und hatte sie vor der Reise akzeptiert. Im tiefsten Inneren fühlte ich nichts. Beim Betreten des Minibusses aber, der mich zum Flughafengebäude führte, brach alles in mir auf. Als ich die Musik hörte, die mir aus den Straßen und Basaren Kabuls vertraut war, fingen meine Beine zu zittern an. Damit hatte ich nicht gerechnet. Meine Kehle schnürte sich zu. In der Flughafenhalle erwartete mich niemand. Ein junger Mann kam auf mich zu: « Do you need a translator? » Jeder hielt mich für einen Fremden und rief: « Mister, Mister! » Ich sagte: « Ich bin Afghane. » Und als ich ins Taxi stieg, fragte mich der Fahrer: Also, wenn Sie Afghane sind, wo ist Ihr Haus? Ich habe kein Haus mehr, antwortete ich. Ich bin in ein Hotel gegangen. Wieder war ich ein Fremder. Das brachte mich zum Lachen, Afghanistan war für mich ein fremdes Land. Ich suchte das Haus auf, wo wir früher lebten. Die Leute, die es heute bewohnen, habe ich getroffen, mit ihnen gesprochen und Tee getrunken. Sie waren ein bisschen besorgt. Ich beruhigte sie, dass ich nur gekommen sei, um meine Vergangenheit ein wenig zu beleben. Lampions brannten in den Ecken. Es gab keinen Strom mehr. Der Maulbeerbaum war gefällt. Die von meinem Vater gepflanzten Blumen waren längst vertrocknet. Alles erschien mir absurd, surreal, wie in einem Traum, in dem einem etwas sehr Schlimmes passiert. Lachend versuchte ich eine Art Distanz einzunehmen.

Deckte sich Ihr realer Eindruck mit Ihrer bisherigen Vorstellung von Kabul aus Jugenderinnerungen und Medienbildern?

In den ersten Tagen dachte ich immer, ich sehe nur einen Film. Tagsüber ging ich durch die Straßen, und abends im Hotelzimmer hatte ich das Gefühl, nur Bilder gesehen zu haben, als sei Kabul ein Bildschirm. Diese zerstörte Stadt und dieses Elend sind erschütternd, ob man nun Afghane ist oder nicht. Bevor ich hinfuhr, hatte ich, um mich vorzubereiten, viele Filme über das Land gesehen. Als ich aber ankam und die Ruinen sah, konnte ich es nicht fassen. Die Dreharbeiten für einen Dokumentarfilm waren der Anlass meines Aufenthalts. Aber ich konnte die Kamera in den ersten Tagen nicht einmal einschalten. Erst mit dem Geruchssinn ist langsam der Eindruck einer imaginären Stadt verschwunden. Der Rauch in der Nacht, der Duft von Brot und Kebab, der Geruch von Staub und Schlamm, der Gestank können einen nicht täuschen. Nach drei, vier Tagen fing ich an, die Wirklichkeit meiner Reise, meine Identität, meine Heimat wahrzunehmen. Ich begriff, dass Afghanistan jetzt so ist. Das wiederum setzte mein bisheriges Leben in Klammern. Alles, selbst meine Kinder, erschienen mir so, als hätte ich sie in einem Traum gehabt. Plötzlich glaubte ich nicht mehr an mein Leben in Frankreich.

Gibt es ein ganz besonderes Erlebnis?

Unzählige. Nach dem Erdbeben, das es während meines Aufenthalts gab, lernte ich einen kleinen Jungen kennen, der mit seiner noch kleineren Schwester in den Trümmern ihres Hauses lebte und Linsen verkaufte. Er hatte die gleichen Augen wie der Sohn meines Bruders. Beim Drehen traf ich ein sich streitendes Ehepaar, dessen Haus im Bürgerkrieg vollkommen zerstört worden war. Sie waren nach Kabul zurückgekommen und hatten es einen Monat lang wieder aufgebaut, als die Erde zu beben begann. Der Mann meinte lächelnd, es sei gut, dass es eingestürzt sei, denn die Mauern seien sowieso schief gewesen. Den Wiederaufbau werde er an einem Tag bewältigen. Die Frau schimpfte und weigerte sich, mit ihren Kindern jemals wieder darin zu leben, das Haus werde sonst beim nächsten Beben zu ihrem Grab. Nicht nur die Mauern seien schief, sondern das ganze Fundament, was ich sehr sinnbildlich für Afghanistan befand: ob Gebäude, der Staat oder die Kultur, alles wird auf einem brüchigen Grund wieder aufgebaut, statt den Mut aufzubringen, wirklich bei null neu anzufangen.

Hat diese Reise Sie verändert?

Meine Identität, Vergangenheit, Familie, Kultur, sogar der Mensch und Gott wurden für mich vollkommen infrage gestellt. Es war großartig, ich wusste auf einmal, dass ich etwas gegen dieses Elend unternehmen kann. Plötzlich glaubte ich mehr an mich selbst, an meine Fähigkeiten und Handlungen. In Kabul gründe ich nun ein Verlagshaus mit, das afghanische Literatur publizieren wird. In Afghanistan gibt es keinen Verlag, aber viele junge Autoren. Für die Veröffentlichung ihrer Texte sind sie bisher gezwungen, die Parteien um finanzielle Hilfe zu bitten und so politische Kompromisse einzugehen. Ich möchte den Schriftstellern ihre Freiheit zurückgeben. Darüber hinaus plane ich, ein Literaturhaus an den Verlag anzugliedern, das im Exil lebende Autoren, die zurückkommen möchten und mittellos sind, übergangsweise beherbergt und unterstützt. Ich halte es für wichtig, Projekte zu initiieren, die Finanzierung zu gewährleisten, den Afghanen dann aber vor Ort die Verantwortung zu überlassen. Ich lebe weiter in Paris. Meinen Blick auf Frankreich hat diese Reise nicht verändert.

In Paris gilt es als « in » – insbesondere seit die Taliban Buddha-Statuen zerstörten – einen Pakol, jene aufgerollte afghanische Wollmütze, zu tragen. Was denken Sie, wenn Sie das Symbol des Widerstands der Mudjaheddin, zunächst gegen die Kommunisten, später gegen die Taliban, nun in eine trendige Kopfbedeckung verwandelt sehen?

Das bringt mich zum Lachen. Wenn die Leute nicht in ihrer eigenen Kultur verhaftet sind, übernehmen sie gerne Attribute eines Volkes, das in Elend und Krieg lebt. Dann gibt mein Land ihrem Leben wenigstens etwas Farbe. Kein Volk besitzt eine Kultur allein. Letztes Jahr stieß ich im Norden Griechenlands in einem Museum auf die kleine Statue eines griechischen Soldaten, die in Ägypten gefunden worden war. Er trug wie ein Afghane Pakol und Schal. So muss die Uniform der Soldaten Alexanders des Großen ausgesehen haben. Afghanistan übernahm sie, als dieser Persien eroberte und hat sie bis heute beibehalten. Alle Kulturen gehören der Menschheit. Hat das Exil Ihre Identität geprägt? Als ich noch in Afghanistan lebte, nannte mich jeder « Monsieur », weil ich mich wie einer aus dem Westen kleidete. Und als ich jetzt in meine Heimat zurückkam, sagten die Leute: « Atiq, du hast dich verändert, jetzt kommst du mit einem afghanischen Schal hier an. » In Frankreich hatte ich mich jahrelang von der afghanischen Kultur distanziert. Ich traf nur sehr wenige Landsleute und las keine persische Literatur mehr. Den Bruch zur persischen Kultur habe ich ganz bewusst vollzogen. Fünfzehn Jahre lang war ich sehr weit weg.

Ein Versuch, sich in die neue, fremde Kultur einzugliedern?

Nein, darin lag nicht der Grund. Ich war von der afghanischen Widerstandsbewegung, ebenso wie von den afghanischen Kommunisten, sehr enttäuscht. Damals wie heute sehe ich darin viel eher ein tief verankertes kulturelles, als ein vordergründig ideologisch-politisches Problem: Die Afghanen sind noch immer nicht erwachsen und definieren sich nicht als Nation, sondern in ihrer jeweiligen Stammeszugehörigkeit.

Warum haben Sie Afghanistan verlassen?

Mein Vater war Royalist, mein Bruder Kommunist und ich Anarchist. Ich konnte weder die väterliche Nostalgie noch die brüderliche Utopie teilen. Für diese dritte Meinung gab es in Afghanistan keinen Platz. Einige Male war ich auf Demonstrationen gegen die sowjetische Invasion. Jedes Mal musste mich mein Bruder protegieren. Er hoffte immer, dass ich eines Tages wieder auf seine Seite wechseln würde. Bereits als sehr junger Mensch hatte ich Freunde im maoistischen Milieu und war tendenziell links eingestellt gewesen. Doch durch den Einmarsch der Sowjets 1979 bekamen mein Bruder und ich eine enorme Distanz zueinander. Zu Hause gab es ständig nicht enden wollende politische Streitigkeiten. Irgendwann sah mein Bruder ein, dass wir keine Lösung finden würden und ließ mich in Ruhe. Er wusste, wie sehr ich das Kino liebe und setzte alles in Bewegung, damit ich ein sehr gutes Stipendium für eine Filmschule bekomme. Nachdem ich eine Zusage für die Sowjetunion hatte, sagte ich am Vorabend meiner Abreise ab. Wenn ich mein Studium dort gemacht hätte, hätte ich wahrscheinlich den siebenjährigen Militärdienst, der mir bevorstand, umgehen können. Inzwischen herrschte jedoch ein Klima, in dem ich keine Freiheit mehr hatte. Die von mir hier und da veröffentlichten Artikel, Erzählungen und Kinokritiken wurden aufmerksam verfolgt und « umgeschrieben ». Von diesen ideologischen Fragen abgesehen wollte ich sowieso in Europa leben und studieren.

Welchen Fluchtweg haben Sie gewählt?

Ich ließ mir einen Bart wachsen, schwärzte mir das Gesicht und verkleidete mich als afghanischer Bauer. Unter dem Vorwand, ich müsste zu einer Hochzeit in mein Dorf, verließ ich Kabul. Um von dort nach Pakistan zu kommen, brauchte man neun Tage und neun Nächte. Ich hatte mich mit meiner Lebensgefährtin einer bedeutenden Widerstandsgruppe anschließen können. Meistens schliefen wir tagsüber und wanderten nachts. Wir mussten uns nach fast jedem Schritt verstecken, um von den sowjetischen Flugzeugen nicht gesichtet zu werden. Die nach Pakistan führenden Wege und die Grenze standen unter Kontrolle der Roten Armee, da die Widerstandsbewegung über diesem Wege Kontakt zu Pakistan hielt und sich mit Waffen versorgte. Die Sowjets hatten überall Minen gelegt. Wir kamen in einem Dorf an, in dem es fast einen Meter hoch geschneit hatte. Der Mann, der uns über die Grenze führen sollte, sagte, wir könnten nicht weitergehen, denn der ganze Weg sei vermint, und bei dem Schnee könne man nicht erkennen, wo die Minen lägen. Wir müssten warten, bis er geschmolzen sei. Es war Dezember. Das bedeutete, dass wir zwei, drei Monate in diesem Dorf hätten verbringen müssen. Wie sollten wir dort leben? Wir hatten weder Haus noch Geld. Am nächsten Tag entschieden wir uns, doch weiter zu gehen. Der Kommandant der Widerstandsbewegung sagte: « Hört, ich gehe voran, ihr folgt mir. Wenn ich in die Luft gesprengt werde, nehmt einen anderen Weg. » Zuerst schoss er vor sich auf den Boden, dann ging er einen Schritt voran. Er schoss und ging, er schoss und ging. Jeder musste seinen Fuß genau in den Fußabdruck des Vordermannes setzen. Vier Stunden lang gingen wir im Indianerpfad. Uns ist nichts passiert. Wir sahen Blutlachen und Pferdekadaver einer Karawane, die ein paar Stunden zuvor unseren Weg gewählt hatte.

Bestand schon damals auch Gefahr von Seiten der Fundamentalisten?

Ja, denn schon Mitte der 80er-Jahre war der talibanesische Aspekt in Pakistan gegenwärtig. Afghanische Wege standen bereits unter Kontrolle pakistanischer Islamisten. Sie übten insbesondere auf junge Leute Druck aus und beschuldigten sie, von den Russen beauftragte Spione zu sein, um den Widerstand des Djihad zu unterwandern. Die Mullahs in den Straßen stellten Fragen zur Religion. Man musste die Koranverse auswendig aufsagen können, mit den fünf Gebeten sowie allen anderen Ritualen des Islams und dessen ideologischem Fundament bestens vertraut sein. Vor meiner Flucht war ich alles nochmals « durchgegangen », auch wenn ich es von meiner Erziehung her kannte. Man hatte mich vor religiösen Verhören gewarnt. Einer meiner Freunde ist fast getötet worden, weil er im Stehen « wie ein Esel » pinkelte. Islamisten brachten die allerjüngsten Flüchtlinge, die allein in Pakistan ankamen, in Koran- und Militärschulen. Viele junge Leute sind so verschwunden. Zum Glück flohen wir mit Untergrundkämpfern der Widerstandsbewegung. Als wir die Grenze erreichten, sagte der Fluchthelfer: « Vor euch liegt Pakistan, hinter euch euer Heimatland, seht es euch ein letztes Mal an. Ich drehte mich um und sah, soweit das Auge reichte, unsere Fußspuren im tiefen Bergschnee. Vor mir lag eine perfekte, weiße Landschaft. Das war für mich wie ein weißes Blatt, diese Freiheit.

Wie war das, als Sie in Europa ankamen?

Ich hatte einzig das Gefühl von Freiheit. Auch wenn Kultur, Architektur und Mentalität nicht vergleichbar sind, fühlte ich mich nicht in die Fremde verpflanzt. Als ich Kabul verließ, war es eine moderne, lebendige, westlich orientierte, von kriegerischen Auseinandersetzungen verschonte Stadt. In der Uni flirteten wir mit Mädchen, besuchten Diskotheken und ausländische Restaurants. Ich ging täglich ins Quick Snack, um auf einer wunderbaren Terrasse Wein zu trinken. In Musikzentren hörte ich Musik aus der ganzen Welt. Viele Ausländer lebten damals in Kabul. Im Goethe-Institut sah ich Übertragungen von Fußballspielen und im Französischen Kulturzentrum entdeckte ich die Nouvelle Vague.

Die meisten nach Europa geflohenen Afghanen leben in Deutschland. Aus welchen Gründen entschieden Sie sich, nach Frankreich ins Exil zu gehen?

Meine Schwestern leben in Frankfurt und Prag, meine Eltern inzwischen in Amerika. Nach Frankreich zu gehen war einfacher für mich. In Kabul hatte ich das französische Gymnasium Estiqlal besucht. Ich kannte ein wenig die Sprache, die Literatur und Filme. Als ich hier ankam, waren die Franzosen überrascht, dass ich ihre Filme besser kenne als sie. Wenn ich gefragt wurde, ob ich ein politischer Flüchtling sei, antwortete ich jedes Mal: « Nein, ich bin ein kultureller Flüchtling. » Sowohl Ihr Debüt-Roman « Erde und Asche » als auch Ihr zweites Buch « Die tausend Häuser des Traums und des Schreckens », der unter dem deutschen Titel « Der Krieg und die Liebe » jüngst erschienen ist, sind in Ihren Motiven und Ihrer poetischen Bildsprache von der persischen Kultur zutiefst durchdrungen. Afghanen finden es sehr westlich, wie ich schreibe, was den Stil, die Form, die Brüche und insbesondere die Sprache mit ihren kurzen Sätzen anbelangt. Im Persischen sind die Sätze sehr lang.

In Ihrem Erstlingswerk überleben ein alter Mann und dessen Enkel als Einzige eine Vergeltungsaktion der sowjetischen Besatzungsarmee gegen ihr Dorf. Dem Großvater steht bevor, seinem in einem fernen Bergwerk arbeitenden Sohn den Tod der Seinigen verkünden zu müssen. Sind Schmerz und Trauer autobiografisch verankert?

Die Taliban hatten in meinem Land die Macht übernommen, und die Welt reagierte darauf mit Gleichgültigkeit. Zum einen wollte ich schreibend über die dort herrschende Gewalt nachdenken, zum anderen die Trauerarbeit zum Tod meines Bruders angehen. Er war gestorben, und meine Familie hatte mir fast zwei Jahre lang seinen Tod verschwiegen. Einmal rief ich in Kabul an und sagte, ich hätte gehört, mein Bruder sei tot. « Nein, nein », entgegneten sie, « das stimmt nicht. » Dieses so genannte Spiel beruhte vielleicht auf Respekt, um mich nicht zu verletzen, oder um Trauer zu vermeiden, damit ich nicht leide. Meine Familie fürchtete, ich würde verrückt werden. Später wollte ich die genauen Umstände seines Todes nicht erfahren. Ich hörte die unterschiedlichsten Versionen, eine lautete: Er saß in einem Flugzeug, das mit Nahrung von den Vereinten Nationen eine Luftbrücke nach Kabul bildete, als es von einer Rakete getroffen wurde. Für mich ist sein Tod noch immer abstrakt und irreal. In Ihrem von Le Monde als « karg, berauschend, erschütternd, tief traurig und unvergleichlich » hervorgehobenen Debüt-Roman fragt sich der Protagonist: Was habe ich verbrochen, dass ich am Leben geblieben bin. – Die Toten seien heute glücklicher als die Lebenden.

Hatten Sie angesichts des Todes Ihres Bruders Schuldgefühle?

Ich dachte an den Bruder, den ich nicht mehr gesprochen und der nicht verstanden hatte, warum ich weggegangen war. Zehn Jahre nach meiner Flucht, kurz vor seinem Tod, erhielt ich einen Brief von ihm, in dem er mir Recht gab. Bis dahin hatte er mir nicht verziehen. Wir hatten keine Beziehung mehr zueinander. Die Trauer konnte mich entlasten und mir die Schuldgefühle nehmen. Es ist dieser rasende, nicht verarbeitete Kummer, der die Menschen in Afghanistan verdorben hat. Wenn der Schmerz nicht langsam verschwindet, indem er zu Tränen wird und aus den Augen rinnt, verwandelt er sich in ein Schwert oder im Inneren des Einzelnen in eine Bombe, die eines Tages hochgeht. Wenn man keine Trauerarbeit leistet, unterliegt man dem Gesetz der Rache und gerät in den ewigen Kreislauf von Tragödien, wo man entweder Blut an der Kehle oder an den Händen trägt.

Trauerarbeit als die Lösung?

Das Rachegefühl ist zutiefst menschlich und im Sinne von C. G. Jung archetypisch in unserem kollektiven Unterbewusstsein eingeschrieben. Wichtig sind jedoch die Mittel, die herangezogen werden, um es auszuleben. Wenn es uns gelänge, die Realität, also die konkrete Tötung, in die Vorstellungswelt zu verlagern, könnten wir endlich aus der Logik der Vergeltung aussteigen. Unser persisches Nationalepos Shahnama, das « Buch der Könige », das der Dichter Firdousi im 11. Jahrhundert verfasste, enthält eine Schlüsselszene, in der Rostam im Kampf zweier verfeindeter Clans unwissentlich seinen Sohn Sohrab tötet. Wenn die junge Generation unsere Mythen liest und sich mit ihnen auseinander setzt, wird ihr der imaginäre Akt der Rache eröffnet. In meiner Kindheit erlebte ich noch die alten Geschichtenerzähler, als ich mit meinem Vater durch die Dörfer der Provinz fuhr, in der er Gouverneur war. Sie konnten weder lesen noch schreiben, trugen aber Tausende, Abertausende von Versen der Shahnama auswendig vor. Afghanistan weist eine Analphabetenquote von 95 Prozent auf. Im Rahmen des Literaturhauses werde ich gezielt versuchen, diese alte Tradition zu fördern. Der im römischen Exil lebende König Zahir, der von 1933 bis 1973 in Afghanistan herrschte, meint, es sei schon seinerzeit heikel gewesen, die Blutrache abzuschaffen, da sie in der Scharia, dem religiösen Gesetz des Islams, verwurzelt sei. Als der Islam mit der arabischen Eroberung 642 ins heutige Afghanistan kam, stieß er im Gegensatz zu anderen muslimischen Ländern auf bereits vorhandene Religionen: den Zoroastrismus, die persische Nationalreligion, sowie den Buddhismus. Die von den muslimischen Mystikern übernommenen Religionen verschmolzen mit dem Islam zu einer Einheit. Statt eines erobernden, kämpferischen Islams wünschte ich mir eine Rückbesinnung auf unsere Tradition des Sufismus, jenen Mystizismus, der die Religion als innere Angelegenheit des Menschen auf der individuellen Suche nach Gott versteht. Dieser auf das Verzeihen ausgerichtete Glaube beruht auf der Liebe zu Gott und nicht auf Angst vor ihm und seinen Strafen.

In Ihrem zweiten Roman schildern Sie die Lebensgeschichte einer junge Witwe, die von ihrer Familie bedrängt wird, den Bruder ihres verstorbenen Mannes zu heiraten. Wie sehen Sie die heutige Situation der afghanischen Frau?

In den kleinen Dörfern leben die Frauen noch immer wie zu Zeiten der Taliban. Im Tal von Pandschir, wo der legendäre Militärchef der Nord-Allianz, Massud, geboren wurde, sieht man bis heute keine Frauen. Man darf nicht scheinheilig sein und alles dem Regime der Taliban zuschreiben. Eine solche Argumentationsweise dient nur dazu, die Vergangenheit zu rechtfertigen. Vielmehr sollte unsere Kultur infrage gestellt werden. Schon bevor die Taliban an die Macht kamen, war die Situation der afghanischen Frau problematisch. Ich bin glücklich, dass sich jetzt zumindest in den Städten die Lebensbedingungen der Frauen verbessern. Innerhalb eines Jahres ist ein Wechsel im Bewusstsein der Frauen und Männer festzustellen. Zum Beispiel trugen zu Schulbeginn in diesem Jahr von zehn Schülerinnen acht kein Kopftuch mehr. Dieser Fortschritt ist ermutigend. Wobei er nur einen minimalen Aspekt der schwer wiegenden Probleme der Afghanin darstellt, was ihre politische Mündigkeit, Erziehung, Sexualität und ihr Eheleben anbelangt: Der Mann hat immer noch das Recht, vier Frauen zu haben, selbst wenn er sie nicht alle ernähren kann. Oft nehmen sich Mullahs junge Mädchen, die unter furchtbaren psychologischen Problemen leiden. Diese Themen werden selten angesprochen. Im öffentlichen Diskurs Frankreichs stürzt man sich auf das Kopftuch und fordert auf diktatorische Weise dessen Abschaffung. Wenn man die Bildungs- und Erziehungsarbeit fortsetzt, wird es von allein verschwinden. In Ihrem Roman « Der Krieg und die Liebe » findet ein von Fundamentalisten auf der Straße zusammengeschlagener Mann bei einer fremden Frau Unterschlupf. Unverhoffte Güte im Moment äußerster Verzweiflung. Ich lebe in einem tiefschwarzen Bild und darin leuchtet ein ganz kleiner Fleck, der mir den Weg aus der Dunkelheit weist. Das Schwarze wird mich nie anziehen. Wenn es im Krieg einen Moment des Lachens gibt, dann zählt nur noch dieser. Jedes Mal drängt uns eine unglaubliche Überlebenskraft, alles zu akzeptieren, sich an die schwierigsten Momente anzupassen. Der junge Mann verliebt sich in die Frau, als ihm in der Küche der Geruch von angebratenen Zwiebeln in die Nase steigt. Für mich zählen die einfachsten Dinge: ein Augenblick, ein Essen, ein Film, ein Gedicht, ein Satz, ein Lächeln, ein Blick. Das Leben selbst gibt mir Hoffnung. An den Rest, an Politik, glaube ich nicht so sehr.

Wo fühlen Sie sich heute beheimatet?

Ich weiß es nicht. Vielleicht werde ich später in einem kleinen Dorf in Indien leben. Die gleiche Distanz, die ich gerne zu Menschen wahre, behalte ich zu einer Kultur, zu einem Land bei. So wie ein einziger Mensch einem nicht alles geben kann, kann man auch in einem einzigen Land nicht alles finden. In Frankreich gefallen mir Lebensart und Gastronomie. Die französische Arroganz amüsiert mich. An Holland schätze ich die Malerei, an Deutschland die Philosophie des 19. Jahrhunderts, die klassische Musik und Frankfurter Würstchen. An Afghanistan liebe ich die Küche, Kleidung und dessen mystische Vergangenheit. Ich bin überhaupt kein Patriot und verabscheue jeglichen Nationalismus. Ich lebe nicht in einem Land, ich lebe auf der Welt. Allen Kulturen liegt der Mensch zu Grunde. Den geografischen und historischen Kontext erachte ich nicht als wesentlich, er verleiht den Dingen nur eine Farbe. So wie ich mich nicht als Produkt einer Sozialisierung, Ideologie oder Religion sehe, bin ich einfach ein menschliches Wesen wie Milliarden andere. Ich glaube eher an das Individuum mit seinen Schwächen. Nur weil ich in Afghanistan geboren bin, muss ich nicht Afghane bleiben.