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Das Gesicht der Stradivari – Porträt – Berliner Zeitung

Im Pariser achten Arrondissement fanden Isaac Stern, Yehudi Menuhin und David Oistrach einen diskreten Geigenbauer, der ihnen den Ton ihrer Träume erfüllte: Etienne Vatelot

Als Holzwürmer sich durch ein Stradivari-Cello der Berliner Philharmoniker gefressen hatten, brachte man es zu Etienne Vatelot nach Paris. Das Instrument blieb zweieinhalb Jahre lang in seiner Werkstatt. Monsieur Vatelot erinnert sich genau an den Arbeitsvorgang vor zwei, drei Jahrzehnten. « Das Cello musste vollkommen auseinander genommen werden. Und je mehr wir es auseinander nahmen, desto mehr scheußliche Dinge mussten wir entdecken. » Ganze Galerien an Würmern und Spuren vorangegangener schlechter Restaurierungen kamen zu Tage. Millimeter um Millimeter ist das Instrument dann in Vatelots Werkstatt wieder zusammengebaut worden. « Natürlich kann man die Arbeitsstunden nicht zählen », sagt Vatelot. « Den Preis, den wir zu Beginn festgesetzt hatten, überschritten wir um mindestens das Doppelte. Aber wir wollten zeigen, dass man ein eigentlich schon abgeschriebenes Instrument retten konnte. » Die renommierte Werkstatt von Etienne Vatelot hat im achten Arrondissement ihren Sitz, in einer jener Straßen von Paris, wo die meisten Geigenbauer der Stadt angesiedelt sind. Das von seinem Vater Marcel 1909 begründete Geschäft erstreckt sich über zwei Etagen. Mit hellgrauen Holzvertäfelungen, dunkelroten Teppichen und für die französische Hauptstadt charakteristischen bis zur Decke reichenden Spiegeln über Kaminaufsätzen gleicht es eher einer bürgerlichen Wohnung. In jeder Ecke stehen Streichinstrumente: Geigen, die Kunden zum Verkauf deponiert haben. Sie hängen mit kleinen, weißen Schildern versehen zweireihig an Eisenstangen. Geigen, die für eine Auktion geschätzt werden sollen, liegen nummeriert aneinander gelehnt auf dem Boden. Und unzählige Celli stehen in ihren sperrigen, teilweise möbelartigen Instrumentenkästen herum. Sie halbieren auch die Breite eines ohnehin schon schmalen Flures, der zur eigentlichen Werkstatt mit weiteren Geigen und Celli führt. Im Vorzimmer bleibt Monsieur Vatelot vor einem der vielen Porträts stehen. Geiger und Geigenvirtuosen bedanken sich mit Widmungen für seine Arbeit und nicht selten auch für seine Freundschaft – unter ihnen Isaac Stern, Yehudi Menuhin und David Oistrach. Vatelot beugt sich zu einer statuenhaften Aufnahme von Menuhin. « Ist er nicht schön? Das war 1961. » Der berühmte Geiger bekundet seinen Dank – ohne den teuren Freund sei der Ton seiner Träume unerfüllt geblieben. Menuhin wies mit der ihm eigenen Höflichkeit häufig darauf hin, er spiele zwar Geige, aber er würde nie behaupten, er verstünde sie so, wie Etienne sie verstünde. Oistrach verglich die Arbeit Vatelots an seiner Geige einmal mit einer Herzoperation. Er bescheinigte dem Freund, er sei mehr als ein Arzt, er sei ein Musiker. Monsieur Vatelot sagt, er habe sich natürlich immer gefreut, wenn ihm der Bau, die Stimmung oder die Restaurierung einer Geige gut gelungen seien. Aber eigentlich sei das zweitrangig. Ihm hätten die Beziehungen zu den Musikern mehr bedeutet. Es habe ihm stets große Freude bereitet, wenn Musiker zwischendurch vorbeigekommen seien, um ihm guten Tag zu sagen. « Im Grunde war das Atelier eine Art Beichtstuhl », sagt der 75-Jährige. Denn hatte ein Geiger Schwierigkeiten beim Spielen, musste das nicht zwangsläufig an seinem Instrument liegen. Manchmal durchlebte er eine depressive Phase, hatte Probleme mit der Gesundheit oder in seinen Gefühlsbeziehungen. Monsieur Vatelot will die Geheimnisse nicht preisgeben, die er im Laufe der Jahre erfahren hat. Dann erinnert er sich aber, dass einst ein berühmter Geiger die Aufnahmen für eine Platte abgebrochen habe, weil sein Instrument, wie er sagte, so merkwürdig vibriere. Der Produzent des Künstlers sei besorgt zu ihm in die Werkstatt gekommen und habe ihn gebeten, sich die Geige anzuschauen. Die registrierte Musik klänge gar nicht gut. Vatelot überprüfte die Geige und antwortete, das sei alles keineswegs verwunderlich. Er bat darum, das Instrument über Nacht in der Werkstatt behalten zu dürfen. Am nächsten Morgen gab er dem Musiker die Geige zurück und fragte: « Was hältst du jetzt davon? » Der Musiker war begeistert. Ihm gelangen nun großartige Aufnahmen, die Musikgeschichte schrieben. Vatelot sagt: « Ich hatte die Geige nicht angerührt. Sie war in einem außergewöhnlich guten Zustand. » Was er tat, nennt Vatelot keine Lüge. Den Namen des Künstlers verrät er nicht, er bleibt diskret. « Mein Vater und ich konnten uns sehr gut anlügen », sagt Etienne Vatelot. Kurz vor dessen Tod habe er ihn, wie jeden Abend, vom Atelier ein Stück begleitet. Marcel Vatelot sei mehrfach stehen geblieben und habe gesagt: « Merkwürdig, in der Straße weht viel mehr Wind als sonst. » Der Sohn verstand, dass der Vater Schwierigkeiten mit der Atmung haben müsste. Am folgenden Tag brachte er ihn bis zur Haustür. Als sein Vater wissen wollte, warum er nun den ganzen Weg mitgegangen wäre, antwortete er, ihm würde zu zweit die Zeit schneller vergehen. « So hatte jeder den anderen aus einer Art Scheu angelogen. » Mit vergleichbarer Zurückhaltung hatte sich der Vater bei der Berufsentscheidung des Sohnes verhalten. Ursprünglich wollte Etienne Schauspieler oder Flugzeugpilot werden. « Da ich nicht wusste, wie die Arbeit meines Vaters aussieht, schlug er mir vor, zwei, drei Wochen ,mal vorbeizukommen . » Etienne war sechzehn Jahre alt. Damals setzte er zum ersten Mal seinen Fuß ins Atelier – bis auf die Lehrzeit in den holzreichen Vogesen und ein Praktikum in Amerika hat er es seitdem nicht mehr verlassen. In Mirecourt, dem traditionellen Ort des Geigenbaus in Frankreich, ging er durch eine harte Schule. Einmal zerbrach sein Meister mit dem Knie eine schlechte Arbeit von ihm und warf sie vor seinen Augen ins Feuer. « Es war grauenhaft », erzählt Vatelot, « aber ich habe nie bereut, auf diese Weise zu lernen, was gute Arbeit ist. » Als der Sohn das väterliche Geschäft längst übernommen hatte, kam Marcel Vatelot auch weiterhin vorbei. « Ohne Geigen zu sehen, konnte er nicht leben », sagt Etienne Vatelot. Der Vater habe sich bei seinen Besuchen still auf einen Stuhl im Büro gesetzt. Kam bei diesen Gelegenheiten gerade ein « schwieriger » Kunde ins Geschäft, bot er an, sich um ihn zu kümmern. « Nie hatte ich Streit mit ihm », beschreibt Etienne Vatelot das Verhältnis zu seinem Vater. Die gegenseitige Achtung habe auch ihre 28-jährige Zusammenarbeit geprägt. Viele Geigen und Bratschen haben sie gemeinsam gebaut. Der Vater gab dem Sohn weiter, was er konnte und wusste. Die Formel seines Geigenlacks jedoch wollte er ihm nicht nennen. Etienne Vatelot fragte den Vater immer wieder, welche Ingredienzen er in welchem Verhältnis verwenden würde. Doch dieser antwortete nicht. Stets zog sich der Vater für etwa eine Woche aufs Land zurück, wenn er den Lack zubereitete. Mit dem fertigen Ergebnis kehrte er in die Werkstatt zurück. Nicht zufällig ist der geheimnisvolle Lack von Stradivari von Mythen umgeben, hängt doch der Klang einer Geige – neben der Qualität des Holzes – vom Lack ab. Etienne Vatelot sagt, er habe wohl zu spät bemerkt, dass sein wiederholtes Fragen nach dem Geheimnis des Lackes den Vater traurig stimmte. Eines Tages dann sagte der Vater zu ihm: « Du musst wissen, dass in einer Schublade meines Büros ein Heft liegt, auf dem dein Name geschrieben steht. Und in diesem Heft wirst du, wenn ich nicht mehr da bin, all meine Formeln für den Lack finden. » Heute baut Monsieur Etienne Vatelot zwar keine Geigen mehr – seit einigen Jahren ist Jean-Jacques Rampal sein Nachfolger -, aber die Lackierung der Instrumente liegt noch immer in seinen Händen. Noch immer zeichnet er für alles verantwortlich, was den Klang der Geige bestimmt. Wie bisher wählt er das Holz für die Geigen aus – je länger Ahorn- und Fichtenholz trocknen, desto besser ist es für das Instrument. Da sich der vor fast hundert Jahren gekaufte Holzvorrat seines Vaters inzwischen dem Ende zuneigt, hat nun Etienne für die nächste Generation vorgesorgt. Und um das Kunsthandwerk seiner Zunft zu sichern, hat er schon vor dreißig Jahren in Mirecourt ein Geigenbaustudium ins Leben gerufen. Jeden Tag fertigt Etienne Vatelot zudem mehrere Expertisen von Geigen. Zu ihm kommen Violinisten, die sich vor dem Kauf eines Instruments beraten wollen, aber auch Kunden, die um ein Gutachten für ihre vermeintliche Stradivari bitten. Die meisten muss er enttäuschen, denn es sind nur etwa 450 Geigen von Stradivari erhalten geblieben. Für die Beurteilung der Instrumente gelten ausschließlich visuelle und nicht akustische Kriterien. « Wenn eine Geige schön ist, bestätigt das meistens auch der Klang. » Obwohl seit über einem halben Jahrhundert Geigen durch die Hände von Monsieur Vatelot gehen, kann er manchmal nur Alter oder Ursprungsland nennen. Jedes Mal, so sagt er, sei es geradezu ein Vergnügen, dem « Gesicht der Geige » einen Namen geben zu können. Vatelot öffnet den hinter ihm stehenden Safe und zeigt auf eine im dunklen Innenraum kaum erkennbare Geige. « Eine Stradivari. Sehen Sie, was für eine Farbe! » Er betont, die Wahl der Geige müsse man immer auf den Musiker abstimmen. Er erinnert sich ungern daran, dass er – es war zu Beginn seiner Tätigkeit – einen jungen Geiger nicht daran gehindert hat, eine Stradivari für sich auszuwählen. Der junge Mann, so Vatelot, war sichtbar vom Namen Stradivari geblendet, seine Karriere gab er schon zwei Jahre später auf. Noch heute fühlt sich Monsieur Vatelot mitverantwortlich. « Wenn ich damals älter gewesen wäre, hätte ich darauf bestanden, dass er eine andere Geige wählt. » Später habe er dann von Instrumenten auch entschieden abgeraten. Um sein Gehör zu schulen, ging Mon-sieur Vatelot früher täglich ins Konzert, bis vor kurzem dann drei bis viermal wöchentlich. Es sei eine Art Berufskrankheit, in den ersten fünf Minuten nicht die Musik, sondern nur das Instrument zu hören, sagt er. Er erinnert sich, wie Menuhin nach einem Konzert eine Zugabe spielte und er beim Zuhören dachte, der Geige müsse etwas passiert sein. Die Klangfärbung war plötzlich eine andere als im Konzert. Vatelot schlich sich, früher als verabredet, zu Menuhin in die Kulissen. Als dieser hörte, was Vatelot beunruhigte, brach er in schallendes Gelächter aus. Er hatte in der Eile seine Stradivari, die er auf dem Sofa der Loge abgelegt hatte, mit der Ersatz-Stradivari im Instrumentenkasten verwechselt. Menuhin bezweifelte, dass das Publikum diese Nuance bemerkt haben könnte. Etienne Vatelot selbst war kein Meister auf der Geige. « Ich spielte nur so herum », sagt er. Schon als Geigenschüler galt er als eher unbegabt, und beim jährlichen Abschlussvorspiel erwies er sich als einer der Schlechtesten. « Das war traurig », erinnert er sich, « denn mein Vater gab mir immer eine sehr schöne Geige. Ich war keine gute Werbung für ihn. » Der von ihm wenig geliebte Geigenunterricht vermittelte ihm jedoch die Klangqualitäten des Instrumentes. « Um Geigen zu stimmen, muss man sie spielen können, wenn auch schlecht. » Er macht eine Pause und lächelt. « Ich hatte nicht das Talent, auch nur eine Sonate zu spielen. »

Die dritte Lüge – Porträt – Berliner Zeitung

Exil und Einsamkeit sind die Stoffe der Schriftstellerin Agota Kristof

Agota Kristof verreist nicht gerne. Nur für einen Tag bleibt sie in Paris. Der Gesprächsort, den sie wählt, gleicht eher einer Bahnhofshalle – zwischen Eingangstür und Rezeption des Hotels, in dem sie zu früh geweckt wurde. Blau gekleidete Arbeiter, die morgens den Baulärm gemacht haben müssen, essen laut im Hintergrund. Fragt man Agota Kristof, warum sie ungern auf Reisen geht, antwortet sie, sie wüsste es nicht. « Ich verlasse selten das Haus. Nur um Einkäufe zu machen oder um von Zeit zu Zeit Freunde zu treffen. » In ihrer Wohnung in Neuchâtel fühlt sich die gebürtige Ungarin zu Hause. Das habe nichts mit der Schweiz zu tun, es könne genauso gut in Paris oder Ungarn sein. Exil, Einsamkeit und Entwurzelung sind die Themenkreise der Schriftstellerin. Nachdem der ungarische Aufstand 1956 von den Russen niedergeschlagen worden war, verließen Agota Kristof und ihr damaliger Mann, so wie zweihunderttausend andere Landsleute, die Heimat. « Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit, aber nach dem Krieg war es furchtbar. Wir lebten in einer wirklich unglaublichen Armut. » Die Russen exportierten alles, was es in Ungarn zu essen und zu trinken gab. Im Alter von 21 Jahren floh Agota Kristof mit einem Wörterbuch, Windeln und Fläschchen über die ungarisch-österreichische Grenze – zu Fuß durch die Wälder. « Ich trug mein viermonatiges Baby im Arm », erinnert sie sich, « ich konnte nicht laufen, nur schnell gehen. » Die Frage, ob die Flucht so gewesen sei, wie Kristof sie in ihren Büchern beschreibt, bejaht sie zunächst, unterbricht sich dann und sagt « non, non ». Denn in ihren Romanen kommt nur der über den Todesstreifen, der einen Ahnungslosen vor sich hergehen und statt seiner selbst auf eine Mine treten lässt. Agota Kristof half jemand, der schon anderen zur Flucht verholfen hatte. Sie gaben ihm alles ungarische Geld, das sie noch besaßen. Dieser Mann habe sicher nicht schlecht verdient, sagt Agota Kristof. Nachts überquerten sie eine Brücke, Schüsse fielen. Sie legten sich auf den Boden, um von den Russen nicht gesehen zu werden. « Es war gefährlich », sagt sie. Agota Kristof schreibt es dem Zufall zu, in welches Land sie gekommen ist. Es hätte auch Deutschland, England oder Amerika sein können. Österreich war von Menschen schon überfüllt, die Botschaft händigte ihnen ein Schweizer Einreisevisum aus. Ein Sonderzug brachte die ungarischen Flüchtlinge in die französische Schweiz, wo Agota Kristof in einer Uhrenfabrik zu arbeiten begann. « Um fünf Uhr morgens aufstehen, aus dem Haus gehen, die Straße entlang laufen, um den Bus zu erwischen, vierzig Minuten Fahrt, die Ankunft im vierten Dorf, zwischen den Mauern der Fabrik. Schnell den grauen Kittel anziehen, im Gedränge die Karte in die Stechuhr schieben, zur Maschine eilen, sie in Gang setzen, so schnell wie möglich ein Loch stanzen, stanzen, stanzen, immer das gleiche Loch in das gleiche Stück, möglichst zehntausend Mal am Tag, denn von diesem Tempo hängt unser Lohn, unser Leben ab. » So schildert Agota Kristof im Roman « Gestern » den fünf Jahre lang erlebten Fabrikalltag. Wie andere Arbeiter nahm sie ein weißes Pulver, das die Nerven beruhigte und den Apotheker des Ortes bereicherte. Der Direktion war es bekannt, sie ließ in der Fabrikhalle Musik einspielen. « Damit wir nach dem Rhythmus besser arbeiteten. » Über jeden Arbeiter gab es Aufzeichnungen. Als Eric Bergkraut seinen Dokumentarfilm, « Der Kontinent K. » über die Schriftstellerin drehte, suchte sie die Uhrenfabrik nach Jahren wieder auf. Sie bekam Einsicht in ihre Akte. « Sie haben sie noch immer, nichts Besonderes stand drin. » Agota Kristof hat sich auch als Verkäuferin Geld verdient. Doch sie zog die Fabrikarbeit vor, bei der monotonen Tätigkeit konnte sie träumen und nachdenken. Inzwischen hat sie sich an die Schweiz und das Essen, dem es an Schärfe fehlt, gewöhnt. Manchmal stellt die 65-Jährige staunend fest, wie « dermaßen schweizerisch » ihre drei erwachsenen Kinder geworden sind. Da sie auch Freunde hat, fühlt sie sich nicht mehr wirklich als Ausländerin. Mit ihrem Schweizer Pass reist Agota Kristof seit 1968 mindestens einmal im Jahr nach Ungarn. Die Sprache des fremden Landes lernte sie sehr langsam. « In der Fabrik konnten wir nicht miteinander sprechen, so habe ich in den Jahren nichts gelernt. » Mit Flüchtlingen aus Ungarn unterhielt sie sich weiter in der Muttersprache. Im Nachhinein scheinen die jahrelangen Sprachschwierigkeiten geradezu unvorstellbar, denn Agota Kristof hat ihre mittlerweile mit Literaturpreisen ausgezeichneten Romane alle in Französisch geschrieben. Eigentlich habe sie durch die Schulaufgaben ihrer Kinder am meisten gelernt, sagt sie. Als sie schon zwölf Jahre im Exil lebte, begann sie « aus Spaß » eigene ungarische Gedichte zu übersetzen und kurze Texte in Französisch zu verfassen. « Da Kinder, Nachbarn und Eltern nur Französisch sprachen und ich den Tag französisch erlebte, wäre es merkwürdig gewesen, weiter Ungarisch zu schreiben. » In den siebziger Jahren entstehen erste Theaterstücke: « Der Schlüssel zum Fahrstuhl » (1977), « Eine Ratte die vorbeikommt » (1972-1984), « Die graue Stunde oder der letzte Kunde » (1975-1984). « John und Joe » (1972) findet vor allem in Deutschland und Japan großen Anklang. Ihre Gedichte möchte sie heute nicht veröffentlicht wissen, denn sie « mag sie überhaupt nicht », auch wenn sie das Schreiben im Alter von vierzehn Jahren mit Versen begann. Der Vater – ein Volksschullehrer -, der jüngere Bruder Attila und sie saßen zu dritt in einem Zimmer, und jeder schrieb. Attila Kristof ist heute Schriftsteller in Ungarn. « Er beschreibt dieselben Menschen wie ich, aber ganz anders, sehr blumig und mit langen Sätzen », sagt Agota Kristof über den Bruder. In ihrem ersten Roman (1986) fand sie zu ihrem minimalistischen Stil. « Das große Heft » schildert in nüchterner Sprache die Kindheit eines Zwillingspaares, das in einem vom Krieg zerstörten Land überleben lernt: es bettelt, stiehlt, schlachtet und tötet. « Auch wenn mein Buch nicht autobiografisch ist, bin ich darin vollkommen enthalten. » In den unzertrennlichen Zwillingen spiegelt sich Agota Kristofs Beziehung zu ihrem zwei Jahre älteren Bruder Jeno wieder. Von klein auf war sie in ihn verliebt und hat die durch ihre Flucht bedingte Trennung von ihm nie verwunden. « Es war sehr schmerzhaft, das zu schreiben », erinnert sie sich. Vergeblich habe sie versucht, wirklich Erlebtes niederzuschreiben, sie fing mit « wahren Sätzen » an und setzte doch mit « Lügen » fort. Aus dem Bemühen heraus, sich der Wahrheit zu stellen, folgten auf « Das große Heft » in einer ebenso abgründigen Poetik zwei weitere Romane. « Der Beweis » (1988) beschreibt den Lebenskampf eines der fünfzehnjährigen Zwillinge, den sein geflohener Zwillingsbruder in einem totalitären Staat allein zurückgelassen hat. In « Die dritte Lüge » (1991) kehrt jener Zwilling, der das Land verlassen hatte, nach Jahrzehnten in die Heimat zurück, um seinen Bruder und seine Identität zu finden. Diese drei Romane bilden eine parabelartige Trilogie über Krieg, Tod, Verbrechen und sexuelle Perversion. Thomas Vinterberg, dänischer Regisseur, der mit seinem Dogmafilm « Festen » 1998 Aufsehen erregte, wird Kristofs Trilogie verfilmen. Derzeit arbeiten sein Koautor Mogens Rukov und er an einer Drehbuchfassung. Viele Produzenten und Regisseure, auch Deutsche, hatten vergeblich versucht die Filmrechte zu erwerben. Kristofs Landsmann Istvan Szabó bekundete Interesse am Stoff, wusste aber nicht, wie er ihn für sich umsetzen sollte. Als weiteres Filmprojekt ist Silvio Soldinis Verfilmung von Agota Kristofs viertem und jüngstem Roman « Gestern » geplant. Seit fünf Jahren hat sie nichts mehr veröffentlicht. Theaterstücke und Gedichte will sie nicht mehr schreiben, nur noch Romane. In letzter Zeit schreibe sie viel weniger. Sie versuche es, aber es komme nichts Besonderes heraus. Mit einem Computer möchte sie nicht arbeiten, denn da könne es passieren, dass man versehentlich seine Worte löscht. « Bevor ich einschlafe, schreibe ich ein bisschen in meinem Kopf. Manchmal notiere ich die Gedanken und am nächsten Morgen werfe ich dann das Blatt weg. » Agota Kristof meint, die Ideen kämen, wenn man sie am wenigsten erwartet, beim Gehen, Arbeiten oder Haushaltmachen. « Jetzt habe ich eine Putzhilfe, jetzt schreibe ich nicht mehr », sagt sie. Auch wenn sie sich als Ungarin fühle, erklärt sie, wäre es für sie undenkbar, wieder in der Muttersprache zu schreiben. Als sie vor wenigen Jahren eine Lesung in Ungarn hatte, habe sie Angst gehabt, Sätze falsch auszusprechen. Die französische Sprache beherrsche sie bis heute nicht vollkommen, und doch fühle sie sich in ihr beheimatet. Agota Kristof spricht nicht viel. Doch das Thema Sprache hat sie fast gesprächig gemacht. Sie erzählt, zu Hause habe sie ein Regal mit allen Übersetzungen ihrer Bücher: in 33 Sprachen, unter anderem Vietnamesisch. Manchmal ist sie verwundert, welche merkwürdigen Sprachen es überhaupt gibt, wie Katalanisch, Kastilisch, Galicisch. Ihre eigenen Texte möchte sie nicht selbst ins Ungarische übertragen müssen. Zwei Mal die gleichen Sätze, das sei zu viel. « Das ist auch eine Frage der Faulheit », fügt sie hinzu. Sie zählt wahrlich nicht zu jenen Schriftstellern, die sich in den Vordergrund drängen. Mit französischen Intellektuellen, kann sie meistens nichts anfangen. Noch lebende Denkmäler des französischen Literaturbetriebs, die sich selbst inszenieren, nennt sie einfach « furchtbar ». Diese Menschen ließen sie kalt und interessierten sie nicht, sie sähe sie höchstens im Fernsehen. Agota Kristof liest keine zeitgenössischen Schriftsteller, nur Krimis. Sie habe viel gelesen, früher die Russen auf Ungarisch – im Alter von zwölf Jahren Dostojewski -, später im Sprachkurs auch französische Klassiker. Als sie aber sagt, sie sei keine philosophische Intellektuelle, muss man an eine ihrer Romanfiguren, Sandor Lester, denken: « Ich bin nur ein Arbeiter. Selbst wenn ich ein Schriftsteller würde, wäre ich zu nichts gut, ohne Kultur, ohne Bildung, ein Hurensohn. » Die Frage, ob diese Beschreibung ihrem Selbstbild nahe komme, bejaht Agota Kristof. Sowohl im Gespräch als auch auf der Konferenz über ein pluralistisches Europa, der eigentliche Anlass ihrer Reise nach Paris, bemerkt sie: « Ich habe nichts Besonderes zu sagen. » Die Antworten der Schriftstellerin sind kurz und eindringlich wie ihre geschriebenen Sätze. In Erinnerung bleiben ihre vorsichtige Stimme und ein Körper, der beinahe abwesend wirkt, als sei der Mensch sehr weit weg. Fragt man Agota Kristof nach ihren Plänen, sagt sie: « Nichts ».

Agota Kristof erhält an diesem Sonnabend in Zürich den renommierten Gottfried-Keller-Preis.

Kunst und Kühe – Porträt – Berliner Zeitung

Der Jerusalemer Maler Jacob Pins über seine Kindheit in Deutschland und seine obsessive Liebe zum japanischen Pfostenbild

Asiatische, kegelförmige Lampen aus hellem Reispapier hängen von der Decke. Türen sind flaschengrün gestrichen, Sessel altrosa bezogen, Teppiche reich an Ornamenten. In allen Nischen des weitläufigen Wohnzimmers stehen goldglänzende Buddhastatuen und schwere, steinerne Buddhaköpfe. Eine philippinische Haushälterin geht auf leisen Sohlen, und eine grau melierte Katze schleicht durch die Räumlichkeiten. Der in Westfalen aufgewachsene deutsche Jude Jacob Pins lebt inmitten von Jerusalem in seiner eigenen Sammlung ostasiatischer Kunst, die als die bedeutendste Israels gilt. Manchmal wundere er sich selbst, wie es ihm gelingen konnte, sie zusammenzutragen. « Denn hier Ostasiatika zu sammeln, ist wie Judaika in Nordghana zu sammeln », witzelt Jacob Pins. Seiner Aussprache des Deutschen ist noch heute die gedehnte, westfälische Sprechweise anzuhören.

Den Ort seiner Kindheit, Höxter, suchte er zum ersten Mal 1959 kurz wieder auf. Er fühlte damals, dass seine Jugend abrupt abgebrochen worden war und er sie dort gelassen hatte. Noch aus der Eisenbahn sah er hinaus. « Alles schien so klein. Ich war wahnsinnig enttäuscht und wusste, da nichts mehr zu suchen zu haben. Irgendwie erleichterte es mich, ich lachte innerlich, alles war so unsinnig. » Die kleine Stadt habe gar keinen Eindruck auf ihn gemacht.

Schon als Kind sammelte er, noch in Deutschland, Briefmarken, Münzen und Bücher. Der 83-Jährige denkt, « von Natur aus » Sammler zu sein. Nach dem frühen Beschluss später Maler zu werden, fing er an, auch Kunstreproduktionen zu sammeln. Als er 1936 von Deutschland nach Palästina floh, bestimmten andere Sorgen das Leben. « An Briefmarken konnte ich nicht mehr denken. » Im Kibbuz nahm er jede Arbeit an, die angeboten wurde, auch im Straßenbau. « Orangenhaine waren unsere Haupteinnahmequelle. Als Konkurrenten hatten wir die Araber, die viel billiger arbeiteten und zudem noch mehr getriezt wurden als wir. » Fünf Jahre lebte Jacob Pins im Kibbuz. 1939 bekam er dort Kinderlähmung, die er mit seiner ihn bezeichnenden Haltung « eine Invalidität kann ich mir nicht leisten » bekämpfte. « Ich bin schön wieder gelaufen. Es war schwer, aber es ging. » An allen Treppen musste ein Stock für ihn liegen, damit er sie hinauf und hinunter kam. Nach zwei Jahren konnte er sich soweit wieder bewegen, dass es ihm möglich war, leichte Arbeiten zu verrichten. Das Bein sei ihm sicher behilflich gewesen, um aus dem Kibbuz zu kommen. « Ich konnte sagen, jetzt möchte ich Kunst studieren. »

Erst als er den Kibbuz wieder verlassen hatte, begann er erneut zu sammeln. Da er arm « wie eine Kirchenmaus » war, sparte er am Essen. Nach ein paar Jahren konnte er nichts mehr kauen. « Im Land der Zitrusfrüchte hatte ich einen echten Skorbut. » So habe er damals gelebt, als er in Jerusalem seinen ersten japanischen Holzschnitt in einer Galerie entdeckte, die kaum als solche bezeichnet werden konnte. Jacob Pins sah jenen in einem nicht mehr so guten Zustand befindlichen Farbholzschnitt an, der sich später als Fälschung erweisen sollte, und war begeistert. Ihn faszinierte, was die Japaner mit einem einzigen Stück Holz anzufangen wussten. Dieser Fund habe den Beginn seiner heutigen Sammlung initiiert. Jacob Pins lacht wieder: « Am Anfang hatte ich eine herrliche Sammlung an Fälschungen. » Auf seinen Tel Aviver Streifzügen kaufte er fast alles, was ihm ins Auge fiel. Für zwanzig Dollar erwarb er einen unter einer Dreckschicht verborgenen Buddha aus dem 9. Jahrhundert, den er nur mit seiner Spucke zu reinigen vermochte. Durch Reisen, Händler, Kataloge und Beziehungen fand er im Laufe der Jahre weitere schöne Stücke. Als obsessiver Sammler stieß er manchmal auf Unverständnis. Im Testament seines Onkels aus England wurde er sehr schlecht bedacht. « Er muss sich gesagt haben, der dumme Junge gibt doch nur alles für diese japanischen Tapeten aus. » Anlass zu jener Mutmaßung mag Jacob Pins Reise 1951 nach London gewesen sein. Nach 15 Jahren kam er erstmalig wieder nach Europa. Als sein Onkel mit ihm ins British Museum gehen wollte, entdeckte er auf dem Weg in einem Schaufenster einen japanischen Holzschnitt, der zwei Pfund kostete. Das entsprach ungefähr der Hälfte dessen, was Jacob Pins insgesamt besaß. Sein Onkel sei entsetzt gewesen, als er den Holzschnitt kaufte. Jacob Pins antwortete lediglich: « Ich sammle die! » Am folgenden Tag gab sein Onkel ihm Taschengeld, und er zog alleine los. Jeden Tag brachte er Neuerwerbungen mit, was seinen Onkel zunehmend verstimmte. Er habe ihm seine Sammelleidenschaft nie verziehen.

Inzwischen gilt Jacob Pins als der Experte japanischer Pfostenbildern. Er publizierte 1982 « The japanese pillerprint », ein maßgebliches Handbuch über jene Holzschnitte von 1740 bis 1840 mit besonderem Format: 70 cm Höhe und nur 12 cm Breite. « Durch meine Veröffentlichung sind die Preise leider so angestiegen », sagt er, « dass ich kaum mitkomme. » Noch heute, wenn er ein schönes Stück sehe, müsse er es haben. Das Telefon klingelt, Jacob Pins, der soeben einen deutschen Satz beendet hat, spricht fließend auf Englisch mit dem Anrufer weiter.

Der Sammler Jacob Pins, der schon als Zwölfjähriger beschlossen hatte, Maler zu werden, konnte nicht mehr in Deutschland Kunst studieren. Er lernte in Jerusalem an der « Bezalel Academy of Art » bei einem Schüler von Lovis Corinth, dem Expressionisten Jakob Steinhardt. Während seines Studiums sei es ihm wie dem « armen Poeten in Spitzwegs wunderbarem Bild » ergangen. Die Kibbuzbewegung hatte sich mit der Begründung, man bräuchte Kühe und keine Maler, geweigert, ihm ein Stipendium zuzugestehen. Jacob Pins lebte in einem winzigen Zimmer von 2,30 mal 2,40 Meter ohne elektrisches Licht. « Ich hätte auch einen Regenschirm aufspannen können. » Das Wasser lief die Wände hinunter, ins Bett hinein. Das Sonderbare war, dass er damals glücklich gewesen sei. Er stand morgens um sieben Uhr auf, und schon bald malte, zeichnete und holzschnitzte er. Mit Hilfe einer Petroleumlampe arbeitete er bis spät in die Nacht hinein. Als Arbeitsmaterial erhielt er von Tischlern für seine Holzschnitte Holzabfälle. Später kaufte er über Zeitungsanzeigen Möbel, die er zerlegte. Auf billige Weise kam er zu großen Planken, « denn in der Wüste wachsen nicht gerade viele Bäume ».

Die Lichtverhältnisse des Nahen Ostens erschwerten Jacob Pins anfänglich das Malen. « Das Licht fraß alles auf. Es war so grell, dass keine Farbe blieb. Die Landschaft setzte sich nur aus einem blauen Himmel über einer hellgrauen Ebene mit schweren Schlagschatten zusammen. Von der so genannten Farbigkeit des Orients war nichts zu sehen. » Jacob Pins sehnte sich nach einem saftigen Grün und dem Rot der Dächer.

Als er nach Jahren Europa wieder besuchte, sah er bei der Flugzeuglandung den Unterschied: « Dieses Grün! Und die Farben von London: Silbergrau auf Silbergrund, herrliche Rot- und Weißtöne! » Später sei er mit Israels Landschaft nur fertig geworden, indem er ihre Farben übersetzte. Ein Braun musste Rot, ein Grün stärker und reiner werden. Jacob Pins glaubt, dass es kein Zufall sei gerade mit seinen schwarz-weiß Holzschnitten Erfolg gehabt zu haben, die inzwischen in den wichtigsten Sammlungen vorzufinden sind (u.a. The Metropolitan Museum of Art, New York; The Museum of Modern Art, New York; Ludwig Museum, Köln; The British Museum, London; Puschkin Museum, Moskau).

Fragt man Jacob Pins, wie stark er sich von der jüdischen Kultur geprägt sieht, weist er darauf hin, dass sein erster Linolschnitt Goethes Porträt darstellte, dessen 100. Todestag man 1932 feierte. Auch auf derzeitige Spannungen in Israel angesprochen, zitiert Jacob Pins sogleich den Studenten Brander aus Goethes Faust « Politisch Lied, ein garstig Lied ». Er sei von der deutschen Kultur « durchtränkt ». « Wir Juden waren so assimiliert. Meinem Vater wurde im Ersten Weltkrieg als Offizier das Eiserne Kreuz verliehen. Ich habe mich als Deutscher gefühlt. Hitler hat mich eines Besseren belehrt. » Der Vater erkannte sofort, dass « Hitler nicht einfach vorübergeht ». Hätte er die Möglichkeit gehabt, wäre Jacob Pins schon 1934 nach Palästina ausgewandert. Seine Eltern ließen den 14-jähriger Bruder, auch wenn es ihnen schwer fiel, nach Amerika gehen, wo 400 Familien jüdische Kinder aus Deutschland zur Rettung aufnahmen.

Zeitgleich verließ Jacob Pins das Elternhaus, um zunächst eineinhalb Jahre lang in Stettin eine zionistische Ausbildungsstätte « Hachschara » zu besuchen, die ihn in einer Art Wohngemeinschaft auf das Leben in Palästina vorbereiten und in der er eine nützliche Arbeit als Gärtner oder Tischler erlernen sollte. Da es der Kunst am nächsten stand, ließ er sich zum Anstreicher ausbilden. Wieder fällt Jacob Pins eine seiner unzähligen Anekdoten ein: « Ein Malermeister stellte vier Jungs von uns insgeheim an, was natürlich gefährlich war. Wir wurden fast alle nicht bezahlt. Als der Meister einen Auftrag bei einem alten Nazi bekam, durften zwei, die etwas jüdisch aussahen nicht mit. Die anderen, die sehr christlich aussahen, deutsch, konnten hingeschickt werden. Der Meister machte sich einen Spaß daraus, indem er dem Hausherrn sagte: « Seien Sie vorsichtig, der eine ist bei der SS. » Herr Pins lacht laut. Daraufhin springt ihm seine Katze auf den Schoss, und er streichelt das schnurrende Tier.

In Berlin befand sich in der Meinekestraße jene Organisation, die von der britischen Regierung ausgestellte Zertifikate für Palästina verteilte. Da man von Zeit zu Zeit kleine Gruppen herüberschickte, konnte er rechtzeitig auswandern. « Meine Eltern hatten vor, nachzukommen. Leider haben sie es nicht mehr geschafft. Als der Krieg ausbrach, war die Falle zu. » In den Holzschnitten « Totentanz » und den (sich im British Museum befindlichen) fünf Blättern zur « Apokalypse » verarbeitete er 1945 und 1946 die Ermordung seiner Eltern. Wie die meisten jüdischen Familien aus Westfalen hatte man sie 1941 nach Riga geschickt, wo sie im Ghetto leben mussten. Als die Russen sich näherten, wurden sie erschossen oder vergast. Jacob Pins stellte Nazis in seinen Arbeiten nie personifiziert dar, sondern wählte Skelette als Metapher. Kunst müsse abstrahieren, eine allgemein gültige Form finden und nicht dokumentieren. « Hätte ich Hakenkreuze gezeigt, wäre es billiger Journalismus, einfach banal! » In seinem Werk hat er die Shoa als Thema nicht wieder aufgreifen wollen. « Man kann nicht nur in der Vergangenheit leben. » Er gesteht es anderen zu, die nicht anders können. Doch er sei immer bemüht gewesen, sich zu erheben und darüber zu stehen.

Bittet man Jacob Pins sein heutiges Verhältnis zu Deutschland zu beschreiben, antwortet er, mit seiner Landschaft habe er kein Problem. Sie habe ihm nichts getan, ebenso wenig die Sprache. Auch mit jungen Leuten habe er keine Schwierigkeiten. « Die ich traf, waren alle offen, neugierig und stellten intelligente Fragen. Eine wunderbare Jugend. » Es gebe keine Schuld, die man auf seine Kinder übertragen könne. Jedoch bei Menschen seines Alters, frage er sich immer: « Wo wart ihr während des Krieges? Habt ihr meine Eltern umgebracht? » Denn natürlich sei es keiner gewesen, das sei sein Problem. Gleichzeitig räumt er ein, von der deutschen Kindheit zutiefst beeinflusst zu sein. Die Umgebung und sein Vater vermittelten ihm Selbstdisziplin, Genauigkeit und einen gewissen Ordnungssinn. Er hasse nichts mehr, als ein wildes Durcheinander.

Erneut klingelt das Telefon. Jacob Pins spricht diesesmal auf hebräisch weiter. Als er das Gespräch beendet hat, bittet er die Haushaltshilfe, das Essen zu servieren. Mitten in Jerusalem sitzt man an einem deutschen Mittagstisch. Grünkohl mit Rauchentchen könne er in Israel leider nicht bekommen. Jacob Pins isst Bohnen, Weißkohl und Kartoffelpuffer. Er erinnert sich: « Meine Mutter kochte oft graue Erbsen mit sauersüßer Sahnesoße, auch Stielmus. Wunderbar schmeckte das. Das habe ich nie wieder gegessen. »

Das Gesetz der Rache

Der Schriftsteller und Filmemacher Atiq Rahimi über eine Rückkehr nach Afghanistan, den ewigen Kreislauf der Tragödien seines Volkes und ein Leben mit verschiedenen Kulturen

Atiq Rahimi verabredete sich mit mir im Café Select, einem schicken, dennoch nicht snobistischen Pariser Intellektuellen-Treffpunkt. Als wir während des Interviews gerade über den letzten Krieg sprachen, verirrte sich eine Taube in das Café und flog knapp über unsere Köpfe mehrmals gegen die Fensterscheiben. Atiq Rahimi lachte und lachte zu meiner Verwunderung. Immer wieder war der dumpfe Aufprall des Tieres gegen das Glas zu hören. Schließlich verließ die Taube das Café. Mit kleinen Schritten ging sie durch den Haupteingang. Später las ich im in Frankreich veröffentlichten Tagebuch Rahimis: « Vielleicht lache ich deshalb immer in allen Situationen. Im Inneren bin ich gebrochen und krank, meine Nerven liegen blank. Doch sobald ich mit jemandem spreche, zeichnet sich dieses, sicherlich lächerliche, Lächeln auf meinen Lippen ab. »

Atiq Rahimi, Sie leben seit fast 20 Jahren im französischen Exil. Wie ist es Ihnen ergangen, als Sie letztes Jahr zum ersten Mal in Ihr Heimatland Afghanistan reisten?

Im Flugzeug hatte ich mich ganz hinten hingesetzt. Ich wollte nicht, dass mich jemand weinen sieht. Aber ich habe nicht einen Moment geweint. Ich fühlte mich leicht wie ein Strohhalm. Nach achtzehn Jahren setzte ich wieder den Fuß auf den Boden meiner Heimat. Die Rückkehr hatte nichts Belastendes, obwohl ich aus dem Flugzeug all die Ruinen gesehen hatte. Ich wusste von der Zerstörung und hatte sie vor der Reise akzeptiert. Im tiefsten Inneren fühlte ich nichts. Beim Betreten des Minibusses aber, der mich zum Flughafengebäude führte, brach alles in mir auf. Als ich die Musik hörte, die mir aus den Straßen und Basaren Kabuls vertraut war, fingen meine Beine zu zittern an. Damit hatte ich nicht gerechnet. Meine Kehle schnürte sich zu. In der Flughafenhalle erwartete mich niemand. Ein junger Mann kam auf mich zu: « Do you need a translator? » Jeder hielt mich für einen Fremden und rief: « Mister, Mister! » Ich sagte: « Ich bin Afghane. » Und als ich ins Taxi stieg, fragte mich der Fahrer: Also, wenn Sie Afghane sind, wo ist Ihr Haus? Ich habe kein Haus mehr, antwortete ich. Ich bin in ein Hotel gegangen. Wieder war ich ein Fremder. Das brachte mich zum Lachen, Afghanistan war für mich ein fremdes Land. Ich suchte das Haus auf, wo wir früher lebten. Die Leute, die es heute bewohnen, habe ich getroffen, mit ihnen gesprochen und Tee getrunken. Sie waren ein bisschen besorgt. Ich beruhigte sie, dass ich nur gekommen sei, um meine Vergangenheit ein wenig zu beleben. Lampions brannten in den Ecken. Es gab keinen Strom mehr. Der Maulbeerbaum war gefällt. Die von meinem Vater gepflanzten Blumen waren längst vertrocknet. Alles erschien mir absurd, surreal, wie in einem Traum, in dem einem etwas sehr Schlimmes passiert. Lachend versuchte ich eine Art Distanz einzunehmen.

Deckte sich Ihr realer Eindruck mit Ihrer bisherigen Vorstellung von Kabul aus Jugenderinnerungen und Medienbildern?

In den ersten Tagen dachte ich immer, ich sehe nur einen Film. Tagsüber ging ich durch die Straßen, und abends im Hotelzimmer hatte ich das Gefühl, nur Bilder gesehen zu haben, als sei Kabul ein Bildschirm. Diese zerstörte Stadt und dieses Elend sind erschütternd, ob man nun Afghane ist oder nicht. Bevor ich hinfuhr, hatte ich, um mich vorzubereiten, viele Filme über das Land gesehen. Als ich aber ankam und die Ruinen sah, konnte ich es nicht fassen. Die Dreharbeiten für einen Dokumentarfilm waren der Anlass meines Aufenthalts. Aber ich konnte die Kamera in den ersten Tagen nicht einmal einschalten. Erst mit dem Geruchssinn ist langsam der Eindruck einer imaginären Stadt verschwunden. Der Rauch in der Nacht, der Duft von Brot und Kebab, der Geruch von Staub und Schlamm, der Gestank können einen nicht täuschen. Nach drei, vier Tagen fing ich an, die Wirklichkeit meiner Reise, meine Identität, meine Heimat wahrzunehmen. Ich begriff, dass Afghanistan jetzt so ist. Das wiederum setzte mein bisheriges Leben in Klammern. Alles, selbst meine Kinder, erschienen mir so, als hätte ich sie in einem Traum gehabt. Plötzlich glaubte ich nicht mehr an mein Leben in Frankreich.

Gibt es ein ganz besonderes Erlebnis?

Unzählige. Nach dem Erdbeben, das es während meines Aufenthalts gab, lernte ich einen kleinen Jungen kennen, der mit seiner noch kleineren Schwester in den Trümmern ihres Hauses lebte und Linsen verkaufte. Er hatte die gleichen Augen wie der Sohn meines Bruders. Beim Drehen traf ich ein sich streitendes Ehepaar, dessen Haus im Bürgerkrieg vollkommen zerstört worden war. Sie waren nach Kabul zurückgekommen und hatten es einen Monat lang wieder aufgebaut, als die Erde zu beben begann. Der Mann meinte lächelnd, es sei gut, dass es eingestürzt sei, denn die Mauern seien sowieso schief gewesen. Den Wiederaufbau werde er an einem Tag bewältigen. Die Frau schimpfte und weigerte sich, mit ihren Kindern jemals wieder darin zu leben, das Haus werde sonst beim nächsten Beben zu ihrem Grab. Nicht nur die Mauern seien schief, sondern das ganze Fundament, was ich sehr sinnbildlich für Afghanistan befand: ob Gebäude, der Staat oder die Kultur, alles wird auf einem brüchigen Grund wieder aufgebaut, statt den Mut aufzubringen, wirklich bei null neu anzufangen.

Hat diese Reise Sie verändert?

Meine Identität, Vergangenheit, Familie, Kultur, sogar der Mensch und Gott wurden für mich vollkommen infrage gestellt. Es war großartig, ich wusste auf einmal, dass ich etwas gegen dieses Elend unternehmen kann. Plötzlich glaubte ich mehr an mich selbst, an meine Fähigkeiten und Handlungen. In Kabul gründe ich nun ein Verlagshaus mit, das afghanische Literatur publizieren wird. In Afghanistan gibt es keinen Verlag, aber viele junge Autoren. Für die Veröffentlichung ihrer Texte sind sie bisher gezwungen, die Parteien um finanzielle Hilfe zu bitten und so politische Kompromisse einzugehen. Ich möchte den Schriftstellern ihre Freiheit zurückgeben. Darüber hinaus plane ich, ein Literaturhaus an den Verlag anzugliedern, das im Exil lebende Autoren, die zurückkommen möchten und mittellos sind, übergangsweise beherbergt und unterstützt. Ich halte es für wichtig, Projekte zu initiieren, die Finanzierung zu gewährleisten, den Afghanen dann aber vor Ort die Verantwortung zu überlassen. Ich lebe weiter in Paris. Meinen Blick auf Frankreich hat diese Reise nicht verändert.

In Paris gilt es als « in » – insbesondere seit die Taliban Buddha-Statuen zerstörten – einen Pakol, jene aufgerollte afghanische Wollmütze, zu tragen. Was denken Sie, wenn Sie das Symbol des Widerstands der Mudjaheddin, zunächst gegen die Kommunisten, später gegen die Taliban, nun in eine trendige Kopfbedeckung verwandelt sehen?

Das bringt mich zum Lachen. Wenn die Leute nicht in ihrer eigenen Kultur verhaftet sind, übernehmen sie gerne Attribute eines Volkes, das in Elend und Krieg lebt. Dann gibt mein Land ihrem Leben wenigstens etwas Farbe. Kein Volk besitzt eine Kultur allein. Letztes Jahr stieß ich im Norden Griechenlands in einem Museum auf die kleine Statue eines griechischen Soldaten, die in Ägypten gefunden worden war. Er trug wie ein Afghane Pakol und Schal. So muss die Uniform der Soldaten Alexanders des Großen ausgesehen haben. Afghanistan übernahm sie, als dieser Persien eroberte und hat sie bis heute beibehalten. Alle Kulturen gehören der Menschheit. Hat das Exil Ihre Identität geprägt? Als ich noch in Afghanistan lebte, nannte mich jeder « Monsieur », weil ich mich wie einer aus dem Westen kleidete. Und als ich jetzt in meine Heimat zurückkam, sagten die Leute: « Atiq, du hast dich verändert, jetzt kommst du mit einem afghanischen Schal hier an. » In Frankreich hatte ich mich jahrelang von der afghanischen Kultur distanziert. Ich traf nur sehr wenige Landsleute und las keine persische Literatur mehr. Den Bruch zur persischen Kultur habe ich ganz bewusst vollzogen. Fünfzehn Jahre lang war ich sehr weit weg.

Ein Versuch, sich in die neue, fremde Kultur einzugliedern?

Nein, darin lag nicht der Grund. Ich war von der afghanischen Widerstandsbewegung, ebenso wie von den afghanischen Kommunisten, sehr enttäuscht. Damals wie heute sehe ich darin viel eher ein tief verankertes kulturelles, als ein vordergründig ideologisch-politisches Problem: Die Afghanen sind noch immer nicht erwachsen und definieren sich nicht als Nation, sondern in ihrer jeweiligen Stammeszugehörigkeit.

Warum haben Sie Afghanistan verlassen?

Mein Vater war Royalist, mein Bruder Kommunist und ich Anarchist. Ich konnte weder die väterliche Nostalgie noch die brüderliche Utopie teilen. Für diese dritte Meinung gab es in Afghanistan keinen Platz. Einige Male war ich auf Demonstrationen gegen die sowjetische Invasion. Jedes Mal musste mich mein Bruder protegieren. Er hoffte immer, dass ich eines Tages wieder auf seine Seite wechseln würde. Bereits als sehr junger Mensch hatte ich Freunde im maoistischen Milieu und war tendenziell links eingestellt gewesen. Doch durch den Einmarsch der Sowjets 1979 bekamen mein Bruder und ich eine enorme Distanz zueinander. Zu Hause gab es ständig nicht enden wollende politische Streitigkeiten. Irgendwann sah mein Bruder ein, dass wir keine Lösung finden würden und ließ mich in Ruhe. Er wusste, wie sehr ich das Kino liebe und setzte alles in Bewegung, damit ich ein sehr gutes Stipendium für eine Filmschule bekomme. Nachdem ich eine Zusage für die Sowjetunion hatte, sagte ich am Vorabend meiner Abreise ab. Wenn ich mein Studium dort gemacht hätte, hätte ich wahrscheinlich den siebenjährigen Militärdienst, der mir bevorstand, umgehen können. Inzwischen herrschte jedoch ein Klima, in dem ich keine Freiheit mehr hatte. Die von mir hier und da veröffentlichten Artikel, Erzählungen und Kinokritiken wurden aufmerksam verfolgt und « umgeschrieben ». Von diesen ideologischen Fragen abgesehen wollte ich sowieso in Europa leben und studieren.

Welchen Fluchtweg haben Sie gewählt?

Ich ließ mir einen Bart wachsen, schwärzte mir das Gesicht und verkleidete mich als afghanischer Bauer. Unter dem Vorwand, ich müsste zu einer Hochzeit in mein Dorf, verließ ich Kabul. Um von dort nach Pakistan zu kommen, brauchte man neun Tage und neun Nächte. Ich hatte mich mit meiner Lebensgefährtin einer bedeutenden Widerstandsgruppe anschließen können. Meistens schliefen wir tagsüber und wanderten nachts. Wir mussten uns nach fast jedem Schritt verstecken, um von den sowjetischen Flugzeugen nicht gesichtet zu werden. Die nach Pakistan führenden Wege und die Grenze standen unter Kontrolle der Roten Armee, da die Widerstandsbewegung über diesem Wege Kontakt zu Pakistan hielt und sich mit Waffen versorgte. Die Sowjets hatten überall Minen gelegt. Wir kamen in einem Dorf an, in dem es fast einen Meter hoch geschneit hatte. Der Mann, der uns über die Grenze führen sollte, sagte, wir könnten nicht weitergehen, denn der ganze Weg sei vermint, und bei dem Schnee könne man nicht erkennen, wo die Minen lägen. Wir müssten warten, bis er geschmolzen sei. Es war Dezember. Das bedeutete, dass wir zwei, drei Monate in diesem Dorf hätten verbringen müssen. Wie sollten wir dort leben? Wir hatten weder Haus noch Geld. Am nächsten Tag entschieden wir uns, doch weiter zu gehen. Der Kommandant der Widerstandsbewegung sagte: « Hört, ich gehe voran, ihr folgt mir. Wenn ich in die Luft gesprengt werde, nehmt einen anderen Weg. » Zuerst schoss er vor sich auf den Boden, dann ging er einen Schritt voran. Er schoss und ging, er schoss und ging. Jeder musste seinen Fuß genau in den Fußabdruck des Vordermannes setzen. Vier Stunden lang gingen wir im Indianerpfad. Uns ist nichts passiert. Wir sahen Blutlachen und Pferdekadaver einer Karawane, die ein paar Stunden zuvor unseren Weg gewählt hatte.

Bestand schon damals auch Gefahr von Seiten der Fundamentalisten?

Ja, denn schon Mitte der 80er-Jahre war der talibanesische Aspekt in Pakistan gegenwärtig. Afghanische Wege standen bereits unter Kontrolle pakistanischer Islamisten. Sie übten insbesondere auf junge Leute Druck aus und beschuldigten sie, von den Russen beauftragte Spione zu sein, um den Widerstand des Djihad zu unterwandern. Die Mullahs in den Straßen stellten Fragen zur Religion. Man musste die Koranverse auswendig aufsagen können, mit den fünf Gebeten sowie allen anderen Ritualen des Islams und dessen ideologischem Fundament bestens vertraut sein. Vor meiner Flucht war ich alles nochmals « durchgegangen », auch wenn ich es von meiner Erziehung her kannte. Man hatte mich vor religiösen Verhören gewarnt. Einer meiner Freunde ist fast getötet worden, weil er im Stehen « wie ein Esel » pinkelte. Islamisten brachten die allerjüngsten Flüchtlinge, die allein in Pakistan ankamen, in Koran- und Militärschulen. Viele junge Leute sind so verschwunden. Zum Glück flohen wir mit Untergrundkämpfern der Widerstandsbewegung. Als wir die Grenze erreichten, sagte der Fluchthelfer: « Vor euch liegt Pakistan, hinter euch euer Heimatland, seht es euch ein letztes Mal an. Ich drehte mich um und sah, soweit das Auge reichte, unsere Fußspuren im tiefen Bergschnee. Vor mir lag eine perfekte, weiße Landschaft. Das war für mich wie ein weißes Blatt, diese Freiheit.

Wie war das, als Sie in Europa ankamen?

Ich hatte einzig das Gefühl von Freiheit. Auch wenn Kultur, Architektur und Mentalität nicht vergleichbar sind, fühlte ich mich nicht in die Fremde verpflanzt. Als ich Kabul verließ, war es eine moderne, lebendige, westlich orientierte, von kriegerischen Auseinandersetzungen verschonte Stadt. In der Uni flirteten wir mit Mädchen, besuchten Diskotheken und ausländische Restaurants. Ich ging täglich ins Quick Snack, um auf einer wunderbaren Terrasse Wein zu trinken. In Musikzentren hörte ich Musik aus der ganzen Welt. Viele Ausländer lebten damals in Kabul. Im Goethe-Institut sah ich Übertragungen von Fußballspielen und im Französischen Kulturzentrum entdeckte ich die Nouvelle Vague.

Die meisten nach Europa geflohenen Afghanen leben in Deutschland. Aus welchen Gründen entschieden Sie sich, nach Frankreich ins Exil zu gehen?

Meine Schwestern leben in Frankfurt und Prag, meine Eltern inzwischen in Amerika. Nach Frankreich zu gehen war einfacher für mich. In Kabul hatte ich das französische Gymnasium Estiqlal besucht. Ich kannte ein wenig die Sprache, die Literatur und Filme. Als ich hier ankam, waren die Franzosen überrascht, dass ich ihre Filme besser kenne als sie. Wenn ich gefragt wurde, ob ich ein politischer Flüchtling sei, antwortete ich jedes Mal: « Nein, ich bin ein kultureller Flüchtling. » Sowohl Ihr Debüt-Roman « Erde und Asche » als auch Ihr zweites Buch « Die tausend Häuser des Traums und des Schreckens », der unter dem deutschen Titel « Der Krieg und die Liebe » jüngst erschienen ist, sind in Ihren Motiven und Ihrer poetischen Bildsprache von der persischen Kultur zutiefst durchdrungen. Afghanen finden es sehr westlich, wie ich schreibe, was den Stil, die Form, die Brüche und insbesondere die Sprache mit ihren kurzen Sätzen anbelangt. Im Persischen sind die Sätze sehr lang.

In Ihrem Erstlingswerk überleben ein alter Mann und dessen Enkel als Einzige eine Vergeltungsaktion der sowjetischen Besatzungsarmee gegen ihr Dorf. Dem Großvater steht bevor, seinem in einem fernen Bergwerk arbeitenden Sohn den Tod der Seinigen verkünden zu müssen. Sind Schmerz und Trauer autobiografisch verankert?

Die Taliban hatten in meinem Land die Macht übernommen, und die Welt reagierte darauf mit Gleichgültigkeit. Zum einen wollte ich schreibend über die dort herrschende Gewalt nachdenken, zum anderen die Trauerarbeit zum Tod meines Bruders angehen. Er war gestorben, und meine Familie hatte mir fast zwei Jahre lang seinen Tod verschwiegen. Einmal rief ich in Kabul an und sagte, ich hätte gehört, mein Bruder sei tot. « Nein, nein », entgegneten sie, « das stimmt nicht. » Dieses so genannte Spiel beruhte vielleicht auf Respekt, um mich nicht zu verletzen, oder um Trauer zu vermeiden, damit ich nicht leide. Meine Familie fürchtete, ich würde verrückt werden. Später wollte ich die genauen Umstände seines Todes nicht erfahren. Ich hörte die unterschiedlichsten Versionen, eine lautete: Er saß in einem Flugzeug, das mit Nahrung von den Vereinten Nationen eine Luftbrücke nach Kabul bildete, als es von einer Rakete getroffen wurde. Für mich ist sein Tod noch immer abstrakt und irreal. In Ihrem von Le Monde als « karg, berauschend, erschütternd, tief traurig und unvergleichlich » hervorgehobenen Debüt-Roman fragt sich der Protagonist: Was habe ich verbrochen, dass ich am Leben geblieben bin. – Die Toten seien heute glücklicher als die Lebenden.

Hatten Sie angesichts des Todes Ihres Bruders Schuldgefühle?

Ich dachte an den Bruder, den ich nicht mehr gesprochen und der nicht verstanden hatte, warum ich weggegangen war. Zehn Jahre nach meiner Flucht, kurz vor seinem Tod, erhielt ich einen Brief von ihm, in dem er mir Recht gab. Bis dahin hatte er mir nicht verziehen. Wir hatten keine Beziehung mehr zueinander. Die Trauer konnte mich entlasten und mir die Schuldgefühle nehmen. Es ist dieser rasende, nicht verarbeitete Kummer, der die Menschen in Afghanistan verdorben hat. Wenn der Schmerz nicht langsam verschwindet, indem er zu Tränen wird und aus den Augen rinnt, verwandelt er sich in ein Schwert oder im Inneren des Einzelnen in eine Bombe, die eines Tages hochgeht. Wenn man keine Trauerarbeit leistet, unterliegt man dem Gesetz der Rache und gerät in den ewigen Kreislauf von Tragödien, wo man entweder Blut an der Kehle oder an den Händen trägt.

Trauerarbeit als die Lösung?

Das Rachegefühl ist zutiefst menschlich und im Sinne von C. G. Jung archetypisch in unserem kollektiven Unterbewusstsein eingeschrieben. Wichtig sind jedoch die Mittel, die herangezogen werden, um es auszuleben. Wenn es uns gelänge, die Realität, also die konkrete Tötung, in die Vorstellungswelt zu verlagern, könnten wir endlich aus der Logik der Vergeltung aussteigen. Unser persisches Nationalepos Shahnama, das « Buch der Könige », das der Dichter Firdousi im 11. Jahrhundert verfasste, enthält eine Schlüsselszene, in der Rostam im Kampf zweier verfeindeter Clans unwissentlich seinen Sohn Sohrab tötet. Wenn die junge Generation unsere Mythen liest und sich mit ihnen auseinander setzt, wird ihr der imaginäre Akt der Rache eröffnet. In meiner Kindheit erlebte ich noch die alten Geschichtenerzähler, als ich mit meinem Vater durch die Dörfer der Provinz fuhr, in der er Gouverneur war. Sie konnten weder lesen noch schreiben, trugen aber Tausende, Abertausende von Versen der Shahnama auswendig vor. Afghanistan weist eine Analphabetenquote von 95 Prozent auf. Im Rahmen des Literaturhauses werde ich gezielt versuchen, diese alte Tradition zu fördern. Der im römischen Exil lebende König Zahir, der von 1933 bis 1973 in Afghanistan herrschte, meint, es sei schon seinerzeit heikel gewesen, die Blutrache abzuschaffen, da sie in der Scharia, dem religiösen Gesetz des Islams, verwurzelt sei. Als der Islam mit der arabischen Eroberung 642 ins heutige Afghanistan kam, stieß er im Gegensatz zu anderen muslimischen Ländern auf bereits vorhandene Religionen: den Zoroastrismus, die persische Nationalreligion, sowie den Buddhismus. Die von den muslimischen Mystikern übernommenen Religionen verschmolzen mit dem Islam zu einer Einheit. Statt eines erobernden, kämpferischen Islams wünschte ich mir eine Rückbesinnung auf unsere Tradition des Sufismus, jenen Mystizismus, der die Religion als innere Angelegenheit des Menschen auf der individuellen Suche nach Gott versteht. Dieser auf das Verzeihen ausgerichtete Glaube beruht auf der Liebe zu Gott und nicht auf Angst vor ihm und seinen Strafen.

In Ihrem zweiten Roman schildern Sie die Lebensgeschichte einer junge Witwe, die von ihrer Familie bedrängt wird, den Bruder ihres verstorbenen Mannes zu heiraten. Wie sehen Sie die heutige Situation der afghanischen Frau?

In den kleinen Dörfern leben die Frauen noch immer wie zu Zeiten der Taliban. Im Tal von Pandschir, wo der legendäre Militärchef der Nord-Allianz, Massud, geboren wurde, sieht man bis heute keine Frauen. Man darf nicht scheinheilig sein und alles dem Regime der Taliban zuschreiben. Eine solche Argumentationsweise dient nur dazu, die Vergangenheit zu rechtfertigen. Vielmehr sollte unsere Kultur infrage gestellt werden. Schon bevor die Taliban an die Macht kamen, war die Situation der afghanischen Frau problematisch. Ich bin glücklich, dass sich jetzt zumindest in den Städten die Lebensbedingungen der Frauen verbessern. Innerhalb eines Jahres ist ein Wechsel im Bewusstsein der Frauen und Männer festzustellen. Zum Beispiel trugen zu Schulbeginn in diesem Jahr von zehn Schülerinnen acht kein Kopftuch mehr. Dieser Fortschritt ist ermutigend. Wobei er nur einen minimalen Aspekt der schwer wiegenden Probleme der Afghanin darstellt, was ihre politische Mündigkeit, Erziehung, Sexualität und ihr Eheleben anbelangt: Der Mann hat immer noch das Recht, vier Frauen zu haben, selbst wenn er sie nicht alle ernähren kann. Oft nehmen sich Mullahs junge Mädchen, die unter furchtbaren psychologischen Problemen leiden. Diese Themen werden selten angesprochen. Im öffentlichen Diskurs Frankreichs stürzt man sich auf das Kopftuch und fordert auf diktatorische Weise dessen Abschaffung. Wenn man die Bildungs- und Erziehungsarbeit fortsetzt, wird es von allein verschwinden. In Ihrem Roman « Der Krieg und die Liebe » findet ein von Fundamentalisten auf der Straße zusammengeschlagener Mann bei einer fremden Frau Unterschlupf. Unverhoffte Güte im Moment äußerster Verzweiflung. Ich lebe in einem tiefschwarzen Bild und darin leuchtet ein ganz kleiner Fleck, der mir den Weg aus der Dunkelheit weist. Das Schwarze wird mich nie anziehen. Wenn es im Krieg einen Moment des Lachens gibt, dann zählt nur noch dieser. Jedes Mal drängt uns eine unglaubliche Überlebenskraft, alles zu akzeptieren, sich an die schwierigsten Momente anzupassen. Der junge Mann verliebt sich in die Frau, als ihm in der Küche der Geruch von angebratenen Zwiebeln in die Nase steigt. Für mich zählen die einfachsten Dinge: ein Augenblick, ein Essen, ein Film, ein Gedicht, ein Satz, ein Lächeln, ein Blick. Das Leben selbst gibt mir Hoffnung. An den Rest, an Politik, glaube ich nicht so sehr.

Wo fühlen Sie sich heute beheimatet?

Ich weiß es nicht. Vielleicht werde ich später in einem kleinen Dorf in Indien leben. Die gleiche Distanz, die ich gerne zu Menschen wahre, behalte ich zu einer Kultur, zu einem Land bei. So wie ein einziger Mensch einem nicht alles geben kann, kann man auch in einem einzigen Land nicht alles finden. In Frankreich gefallen mir Lebensart und Gastronomie. Die französische Arroganz amüsiert mich. An Holland schätze ich die Malerei, an Deutschland die Philosophie des 19. Jahrhunderts, die klassische Musik und Frankfurter Würstchen. An Afghanistan liebe ich die Küche, Kleidung und dessen mystische Vergangenheit. Ich bin überhaupt kein Patriot und verabscheue jeglichen Nationalismus. Ich lebe nicht in einem Land, ich lebe auf der Welt. Allen Kulturen liegt der Mensch zu Grunde. Den geografischen und historischen Kontext erachte ich nicht als wesentlich, er verleiht den Dingen nur eine Farbe. So wie ich mich nicht als Produkt einer Sozialisierung, Ideologie oder Religion sehe, bin ich einfach ein menschliches Wesen wie Milliarden andere. Ich glaube eher an das Individuum mit seinen Schwächen. Nur weil ich in Afghanistan geboren bin, muss ich nicht Afghane bleiben.

J wie Josephine

Brian Baker, eines der zwölf Adoptivkinder der legendären Tänzerin und Sängerin Josephine Baker, über das Leben im Schloss, im Hotel und die Träume seiner Mutter

Das Hôtel Scribe in Paris ist ein geschichtsträchtiger Ort: Die Lumière-Brüder veranstalteten hier 1895 die erste öffentliche Filmvorführung. Ein Jahr später stellte Wilhelm Conrad Röntgen seine Entdeckung der X-Strahlen vor, die später nach ihm umbenannt werden. 1929 bewarb sich Georg Orwell hier als Tellerwäscher. 1944 hielt General Eisenhower Pressekonferenzen ab, und statt Touristen gingen damals noch namhafte Kriegskorrespondenten ein und aus: Ernest Hemingway, Robert Capa und Lee Miller.

Brian Baker kommt zu spät, er hat sein Portemonnaie im Auto eines Freundes verloren, sagt er. Lang bespricht er mit der Bedienung, was er trinken könnte. Er wägt den Geschmack mancher Mineralwasser-Marken gegeneinander ab, bis er schließlich das passende Getränk gefunden hat: Einen Apfelsaft, s’il vous plaît.

Sie haben mit Ihrer Mutter Josephine Baker und Ihren Geschwistern einmal in diesem Hotel gelebt. Welche Erinnerungen ruft dieser Ort bei Ihnen hervor?

Wir wohnten drei Monate lang hier. Während der Woche gingen wir auf ein Jesuiten-Internat, an den Wochenenden kamen wir hierher. Meine neun Brüder, zwei Schwestern, meine Mutter und ich waren im ganzen Hotel verstreut. Wir Kinder hatten zu dritt, zu zweit oder allein ein Zimmer. Für meine Mutter muss das eine sonderbare Zeit gewesen sein: Ihr Schloss « Les Milandes », in dem wir vorher lebten, war zwangsversteigert worden und ein neues Haus noch nicht in Aussicht. Meine Mutter hatte sich hoch verschuldet.

Dennoch zog sie mit ihrer Großfamilie in ein Grandhotel?

Ich vermute, die damalige Hoteldirektion wird auf sie zugekommen sein und ihr vorgeschlagen haben, mit uns Kindern hierher kommen zu können. Entweder bekamen wir Zimmer, die sowieso leer standen und nicht verrechnet wurden, oder sie zahlte einen speziellen Gruppenpreis für uns alle. Die Leute wussten, dass meine Mutter ruiniert war. Das Fernsehen hatte nach ihrer Galaveranstaltung einen Spendenaufruf von Brigitte Bardot gesendet. Die großzügigen Spenden konnten die dramatische Zwangsversteigerung und anschließende Räumung des Schlosses auch nicht mehr verhindern.

Wie konnte sich die Situation derartig zuspitzen?

Meine Mutter hat nie glauben wollen, dass sie das Schloss verlieren könnte und sich eingeredet, Gott oder de Gaulle würden es nicht zulassen. Wir Kinder waren in Paris. Sie blieb alleine im Schloss, um es zu verteidigen. Der neue Besitzer wusste nicht, was er machen sollte. Er bestellte fünf Rausschmeißer, jeder bekam 500 Francs. Als meine Mutter sich weiterhin weigerte, das Schloss zu verlassen, haben die Jungs sie mit Gewalt aus der Schlossküche gezerrt. Draußen warteten Fotografen. Das Bild ging dann um die Welt, wie sie in Kopftuch und Bademantel vor die Tür gesetzt wurde.

Haben Sie diesen Umzug nach Paris als eine Art Bruch in Ihrem Leben empfunden?

Ich war 1969 zwölf Jahre alt. Als Kind habe ich mir nicht so viele Fragen gestellt. Immer lebte ich inmitten einer großen Gruppe. Wenn man allein und nicht ständig von anderen umgeben ist, hinterfragt man vielleicht mehr. Ich dachte nur, gut, wir werden jetzt ein paar Monate lang im Hotel wohnen. Meine Mutter hatte uns auch erklärt, dass das eine Übergangslösung sei.

Was bedeutete es für Sie, das mittelalterliche Schloss gegen die Großstadt einzutauschen?

Für uns Landkinder war das eine große Abwechslung. Wir fanden es besonders lustig, auf einmal in Paris zu leben. Meine Mutter ging zu der Zeit wenig auf Tournee. So bestanden unsere Wochenendausflüge aus Restaurant- und Kinobesuchen mit ihr. Das « Café de la Paix » wurde schnell zu unserem Stammlokal. Manchmal sagten wir zu ihr: « Komm, lass uns lieber da drüben ins Selbstbedienungsrestaurant gehen! » So etwas kannten wir nicht vom Land. Nachher haben wir nur noch dort gegessen, denn wir wussten, dass es nicht so teuer war.

Was für ein Verhältnis hatte Josephine Baker zum Geld?

Sie gab es einfach aus, sie konnte überhaupt nicht wirtschaften. Meine Mutter hat sehr viel verdient, aber auch sehr, sehr viel ausgegeben. Sowohl in den Jahren vor der Versteigerung des Schlosses als auch unmittelbar danach bestand sie auf unserem jährlichen Einkaufsritual. Einen Monat vor Weihnachten machte sie fünf Tage lang mit uns zwölf Kindern Einkäufe in den Galeries Lafayette. Die Direktion des Nobelkaufhauses stellte uns immer zwei, drei Verantwortliche zur Verfügung, die sich nur um uns kümmerten. Tagelang probierten wir Kleidung an, forsteten Regale durch und suchten Spielzeug aus. Wir waren glücklich, wobei wir schon vorher wussten, was wir zu Weihnachten bekommen würden. Dieser Shopping-Marathon hat uns immer vollkommen erschöpft. Ich frage mich noch heute, wie das Personal, das uns Kinder betreute, das durchgestanden hat.

War diese Einkaufstour für Ihre 60-jährige Mutter nicht auch ermüdend?

Manchmal ging sie zwischendurch weg und überließ uns den Verkäufern. In der Olympia Music Hall, die ganz in der Nähe lag, konnte sie dann Verabredungen erledigen. Aber sie wollte auf jeden Fall sehen, was wir für Klamotten kauften. Es war die Zeit der Mao-Kragen, des Hippie-Looks. Wir fragten uns immer, wird sie ja oder nein sagen. Manchmal hatten wir Glück, aber manchmal war es ihr zu hippiemäßig.

Wie stand sie zur Hippiekultur?

Die Ideale der Hippies « Peace & Love » befürwortete sie. Sie lehnte nur alles ab, was mit Drogen und Sex zusammenhing. Ihr Kommentar dazu lautete immer: « Ich möchte nicht, dass meine Kinder drogenabhängig werden! » Und zu Sex kein Kommentar.

Das steht im Widerspruch zum freizügigen Leben der Josephine Baker der Goldenen Zwanziger, in denen ihr ein verruchter Ruf vorauseilte. Durch ihre zahlreichen Liebhaber – wie Ernest Hemingway, Georges Simenon und Jean Gabin – wurde sie zum Inbegriff des « Flapper Girls », der emanzipierten Frau.

Die Mutter, die wir kannten, und die junge Künstlerin, das waren nicht ein und dieselbe Person. Wenn wir Kinder sie im Fernsehen – nur mit ihrem berühmten Bananenröckchen bekleidet – in den Zwanzigern tanzen sahen, dann versuchte sie verzweifelt, den Fernseher auszumachen und sagte: « Nein, das ist eine junge Tänzerin, das hat nichts mit mir zu tun! » « Das bist du », riefen wir dann, « Josephine Baker!!! » « Nein, das ist eine Tänzerin aus der Vergangenheit, ich bin eure Mutter! »

Hat sie ihre frivole Vergangenheit geleugnet?

Überhaupt nicht, nur vor uns. Von ihren Freunden habe ich später erfahren, wie ausgelassen sie im Alter von über 60 Jahren Partys feierte und sich über all die « Wer-gerade-mit-wem »-Bettgeschichten aus dem Showbusiness amüsierte.

Es gibt allein sechs verschiedene Versionen, wer Josephine Bakers Vater war. Wie erklären Sie sich, dass in nahezu jeder ihrer Biografien ihr Leben anders verläuft?

Meine Mutter hat versucht, die Spuren ihrer Vergangenheit zu verwischen. Ihren leiblichen Vater hat sie nie gekannt. Dass sie als Achtjährige als Dienstmagd zu Weißen gegeben wurde, weiß man noch. Aber sie wollte vertuschen, was sie zwischen 13 und 18 Jahren erlebt hat: zum Beispiel, als sie St. Louis verließ und nach New York ging. Angeblich hat sie die ersten zwei Nächte im Central Park schlafen müssen. Auch wenn das Spekulationen sind: Wir können nicht wissen, ob sie nicht vergewaltigt wurde. Oder ob Männer sie nicht ausnutzten, als sie ihre allerersten Jobs als Aushilfstänzerin hatte. Über ihre persönlichen Dramen hat sie nie etwas erzählt, auch nicht uns Kindern.

Dabei hat das Pogrom in St. Louis, bei dem 1917 bis zu hundert Schwarze ermordet worden sein sollen, sie als Elfjährige und ihren späteren Kampf gegen Rassenhass zutiefst geprägt.

So wenig sie uns über diese persönlich erlebten Lynchmorde erzählt hat, so viel hat sie mit uns über Rassismus gesprochen. Sie hat uns vermittelt, immer gegen Diskriminierung kämpfen zu müssen. Dabei hat sie uns auch geschildert, wie sie 1963 an der Seite von Martin Luther King am Marsch auf Washington teilgenommen hat. Insgesamt war ihr Blick aber weniger auf das Gewesene als auf die Zukunft gerichtet.

Was für ein Mensch war Josephine Baker?

Sie lehnte jede Form von Narzissmus ab. Sie wollte sich nicht im Fernsehen sehen, nicht Artikel über sich lesen und schon gar nicht ihre eigenen Platten zu Hause hören. Sie ging gerne wegen des Austauschs mit dem Publikum auf die Bühne, alles andere drum herum interessierte sie nicht. Ansonsten könnte man sie vor allem als großzügig und exzessiv bezeichnen. Ihre Entscheidungen waren manchmal völlig willkürlich.

Fällt Ihnen eine bestimmte Situation dazu ein?

Als meine Geschwister und ich das Gymnasium besuchten, hatten wir ein bisschen mehr Taschengeld als unsere Klassenkameraden. Einmal sagte der Schuldirektor zu meiner Mutter: « Madame Baker, Ihre Kinder haben viel mehr Taschengeld als die anderen zur Verfügung. Sie sollten ihnen ein bisschen weniger geben, so wären sie wie die anderen. » Meine Mutter antwortete: « Ja, Sie haben recht. Sie bekommen zu viel. Ich habe mich geirrt. » Von einem Tag auf den anderen gab es überhaupt kein Taschengeld mehr für uns! Null, gar nichts, bis mein Vater Jo Bouillon zurückkam. Meine Eltern lebten schon getrennt, und er besuchte uns nur von Zeit zu Zeit. Sobald er sein Kleingeld auf den Tischen herumliegen ließ, nahmen wir es ihm weg. Irgendwann merkte er das und fragte uns, warum. Wir erklärten ihm, dass wir überhaupt kein Taschengeld mehr bekämen. Beim Essen gab es eine große Diskussion, und mein Vater beschloss, dass wir von nun an auf vernünftige Weise Taschengeld bekommen sollten. Weder zu viel noch zu wenig. Meine Mutter war damit einverstanden. Als er wieder weg war, hat sie es zeitweilig wieder gestrichen. Sie ging auf Tournee und hatte Angst, dass meine älteren Brüder Dummheiten machen oder sich mit ihren Freunden Drogen besorgen.

Wie lebten Sie in dem Schloss?

Das war ein ungewöhnliches, aber alles andere als trauriges Leben. Es ähnelte am ehesten einer ständigen Ferienkolonie: Viele Erwachsene, viele Kinder und viele Tiere. Wir hatten eine Art kleinen Zoo: Papageien, Tukane, Pfauen, Katzen, Hunde und Affen. Tagsüber liefen die Affen im Park herum, nachts mussten sie in große Käfige. Es passierte auch schon mal, dass ein Pavian zu einem kam, um nach Flöhen zu suchen, unter dem Hosenbein oder auf dem Kopf. Am besten setzte man sich dann neben ihn und blieb ganz ruhig. Manchmal machten wir Kinder uns einen Spaß und liefen Grimassen schneidend mit den Affen zum Schlossgitter, hinter dem auch hie und da Paparazzi oder Touristen standen. Die waren dann schnell weg.

Kamen Touristen, um sich Josephine Baker « in echt » anzusehen?

Meine Mutter hat den Tourismus überhaupt erst in diese verlassene Gegend in den Südwesten Frankreichs, den Périgord, gebracht. Damals kannte kein Mensch die hügeligen Landschaften mit ihren Foie- Gras-Produktionen. Meine Eltern haben 1948 das Anwesen mit dem Schloss gekauft und in eine Art Josephineland verwandelt. Das hat Jahre gedauert. Es gab ein Dorf, das sie erweitern ließen, damit die Angestellten dort schlafen konnten. Hinzu kamen ein Hotel, ein Restaurant, ein Theater, ein Golf- und Tennisplatz und ein Wachsfigurenmuseum, das « Jorama », das Szenen aus dem Leben meiner Mutter nachstellte. Wir lebten im höher gelegenen Schloss, an das auch das Dorf angrenzte. Der Park erstreckte sich Hügel abwärts bis zu einem Fluss, wobei der untere Teil für Touristen zugänglich war, ebenso unser Schwimmbecken in J-Form, J wie Josephine. Wie bei einem König waren am Gitter des Schlosses und am Eingang des Theaters die Initialen JO oder JB eingearbeitet.

Sie sagten zuvor, Ihre Mutter habe jede Form von Narzissmus abgelehnt.

Sie war immerhin Amerikanerin! Das ist eher hollywoodmäßig. Und die Namen meiner Eltern hatten dieselben Anfangsbuchstaben: Joseph Boullion und Josephine Baker.

Welche Rolle nahm Ihr Vater, der fünfte Ehemann von Josephine Baker, bei Ihrer Erziehung ein?

Wenn er da war, kümmerte er sich als Vater um uns und versuchte, uns zu erziehen. Wir Kinder waren noch ganz klein, als meine Eltern sich trennten. Das Schloss war das Universum meiner Mutter, ihr Zuhause. Sie hatte alles initiiert, er blieb immer im Hintergrund und half, ihre Ideen zu verwirklichen. Wenn einer gehen musste, dann er. Er eröffnete in Buenos Aires ein Lokal, so sahen wir ihn nicht so oft.

Wie war er im Vergleich zu Ihrer Mutter?

Viel ausgeglichener! Wir fanden ihn normaler. Sie war ein bisschen verrückt, eine gute Mutter, aber durchgeknallt. Mit wechselhaften Stimmungen. Man wusste nie, wie sie reagieren würde. Unser Vater war sehr französisch: logisch denkend und vorhersehbar. Er hatte seine Laufbahn als Orchesterleiter aufgegeben, um mit meiner Mutter das Schloss und den angrenzenden Komplex aufzubauen. Ursprünglich war er Violinist gewesen. Als er versuchte, uns ein bisschen Musik beizubringen, hat sie sich dem widersetzt.

Warum?

Sie wollte verhindern, dass ihre Kinder möglicherweise später einen künstlerischen Beruf ergreifen. Kunst sei zu sehr vom Zufall abhängig und mit zu vielen Risiken verbunden. Sie sagte immer: « Ich hatte viel Erfolg und einfach Glück. Mich haben gute Beine unterstützt. Aber ich habe zu viele talentierte oder sogar geniale Künstler herumkrebsen sehen. » Sie war davon überzeugt, dass ihre Kinder einen vollkommen sicheren Beruf, den eines Gentlemans, ausüben sollten. Zum Beispiel wollte sie, dass mein Bruder Akio Diplomat in Japan wird. Am Anfang hatte sie sich sogar in den Kopf gesetzt, dass wir später alle für das Schloss arbeiten würden: Moïse sollte Anwalt, Jean-Claude Notar und ich Buchhalter des Anwesens werden. « Brian, du kannst gut kopfrechnen, ich habe deine Mathenoten gesehen », sagte sie einmal zu mir, « außerdem muss unser Verwalter eines Tages sowieso ersetzt werden. »

Welche Lebenswege haben Ihre Geschwister eingeschlagen?

Jeannot und Luis wohnen heute beide in Monaco: Der eine ist Gärtner, der andere Versicherungskaufmann. Jari ist nach New York gegangen und arbeitet im Restaurant « Josephine ». Moïse starb nach langer Krankheit. Koffi betreibt in Buenos Aires einen Teesalon. Mara ist Steuerbeamte im Osten Frankreichs, Stelina eine ehemalige Stewardess, Hausfrau und Mutter in Treviso. Wir anderen fünf leben in Paris und Umgebung: Noël, der seit der Pubertät wegen Schizophrenie behandelt wird, hat als Tischler in einer Behindertenwerkstatt eine Beschäftigung gefunden. Marianne ist medizinisch-technische Assistentin, Akio wurde Bankkaufmann, Jean-Claude leitet eine Produktion von Dokumentarfilmen, und ich habe mich als einziger für einen künstlerischen Werdegang entschieden. In den 80er-Jahren war ich Schauspieler, heute bin ich Autor und freier Journalist.

Welche Beziehung haben Sie heute zu Ihren Geschwistern?

Wir halten immer noch zusammen, trotz der Entfernungen und Lebenswege, die sich nur mehr oder weniger kreuzen. Wir sehen, sprechen und mögen uns. Geburtstage, Depressionen, Hochzeiten, Sonntage, Weihnachten – wir verpassen keine Gelegenheit, in Kontakt zu bleiben.

Wie ist die Idee Ihrer Mutter, Kinder unterschiedlichster Herkunft und Hautfarbe zu adoptieren und die sogenannte « Regenbogenfamilie » zu gründen, entstanden?

Sie war in Kinder vernarrt. Sobald sie auf der Straße ein Kind sah, blieb sie stehen. Während des Krieges, 1941/42, hatte sie sich als Folge einer Fehlgeburt eine Bauchfellentzündung zugezogen. Fast ein Jahr lang lag sie in Marokko im Krankenhaus. Dort erfuhr sie, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnte. Angeblich war sie das Showbusiness leid und wünschte, sich, nur noch von Kindern und Tieren umgeben zu leben. Sie wollte ihr Ideal der Brüderlichkeit der Rassen, eine Art private Mini-Unesco verwirklichen, wo sie zeigen konnte, dass unterschiedliche Kulturen friedlich miteinander leben können. Sie fing erst an, uns zu adoptieren, nachdem das eigens dafür erworbene Schloss restauriert und die Struktur drum herum aufgebaut war. Zunächst ist sie nach einem wohlüberlegten Plan vorgegangen. In der Pariser Umgebung hat sie mit Jean-Claude und Moïse begonnen. Ein paar Monate später adoptierte sie bei einer reichen Freundin, die in Tokio ein Waisenheim gegründet hatte, Akio, den Koreaner, und Teruya, den Japaner, den sie in Jeannot umbenannte.

Wie stand Ihr Vater der Adoptionsidee Ihrer Mutter gegenüber?

Er hatte an drei, vier, höchstens an sechs Kinder gedacht, aber nicht gleich an zwölf! Nach dem vierten Kind sagte er zu meiner Mutter: « Wir hören jetzt mal auf zu adoptieren, oder? » Sie sagte: « Ja, ja! », und sechs Monate später kam sie wieder mit einem Kind auf dem Arm von einer Tournee zurück. Sie setzte ihn vor die vollendete Tatsache. « Voilà, sieh dir mal den Kleinen an! Koffi kommt von der Elfenbeinküste, sein Stamm wollte ihn mitten in der Savanne zurücklassen, du glaubst doch nicht, dass ich das zugelassen hätte! » Als sie in Venezuela auf indianische Familien stieß, die ihre Kinder dem Meistbietenden verkaufen wollten, nahm sie Mara mit. Danach kamen Luis aus Kolumbien und Jari aus Finnland hinzu. Als meine Mutter an einem Heiligabend in der Olympia Music Hall sang, erfuhr sie von Journalisten, dass ein Kind neben einem Mülleimer am Stadtrand von Paris gefunden worden war. Noch am gleichen Abend ist sie zum Sozialamt gegangen, hat nach dem Jungen gefragt und ihn zu sich genommen. Sie gab ihm den Vornamen Noël, was auf Französisch zugleich Weihnachten bedeutet. Stelina stammte eigentlich aus Marokko. Sie wurde als uneheliches Kind von Freunden meiner Mutter geboren, die mit dem marokkanischen Königshaus verbunden waren. So bekam sie diesen italienischen Namen, damit die Geschichte unter den Teppich gekehrt werden konnte. In Algier wollte meine Mutter im Waisenheim ein Kind für ihre Schwester Margaret adoptieren. Als sie Marianne, uneheliche Tochter einer in Algerien arbeitenden Französin, sah, holte sie sie gleich in ihre Regenbogenfamilie. Im selben Zimmer war ich: Brahim. Der Aussprache wegen hat sie mich Brian genannt. Das macht zwölf!

Hat die Adoption Ihre Identitätsfindung beeinflusst?

Für mich war das nie problematisch. Als Berber muss das in meinen Genen liegen: Ich bin Fatalist. Meine Eltern sind im Algerienkrieg gestorben, und mich hat Josephine Baker adoptiert. Im Heim gab es viele andere Waisen, dennoch hat sie mich ausgesucht, angeblich habe ich sie angesehen und angelächelt. Ich hatte einfach Glück, vielleicht ist das Schicksal? Die meisten meiner Geschwister sehen das ähnlich: Wir haben alle ein besonderes Schicksal, ein außergewöhnliches Leben, aber so sehr auch wieder nicht.

Was halten Sie von den Polemiken, die Adoptionen von Hollywood-Stars auslösen?

Meine Mutter hat sicherlich teilweise auch ihren Status als Star und die fehlenden Reglementierungen der jeweiligen Länder nutzen können, um manche von uns zu adoptieren. Aber bei Madonna war es wirklich: Ich komme und ich nehme. Man kann nur hoffen, dass es nicht nur eine Laune von ihr war. Aber, wenn sie sich gut um das Kind kümmert, warum nicht? Wobei der besagte Junge aus Malawi kein Baby mehr war. Wenn man adoptiert, sollte man eher Säuglinge zu sich nehmen. Ältere Kinder reißt man aus ihrem bisherigen Lebensraum heraus, was dann später zu Hinterfragungen führen kann. Als unsere Mutter uns adoptierte, waren wir alle jünger als ein Jahr. Manche der Frauen, wie Angelina Jolie oder Mia Farrow, die sich für Adoptionen entscheiden, haben auf Josephine Baker verwiesen. Zum Glück sind es nicht nur Prominente, die dem Beispiel folgen.

Es wurde verbreitet, Josephine Baker habe die jeweilige Herkunft ihrer Kinder bei der Erziehung berücksichtigt. Stimmt das?

Moïse hat sie immer als den Israeli vorgestellt, dabei war er Franzose jüdischen Ursprungs. Auf Reisen sagte sie stets zu Journalisten: « Das ist der Jude, Moïse, setz deine Kippa auf! » Als er älter wurde, hat sie nicht mehr darauf bestanden, dass er sie trägt, schließlich war er nie in eine Synagoge gegangen! Sie hatte es sich als Gläubige zum Ziel gesetzt, dass wir Kinder religiöse Grundlagen vermittelt bekommen. Aber als der eigens für mich eingestellte ägyptische Hauslehrer mit mir gen Mekka beten wollte, habe ich ihm in die Hand gebissen. Mit dem Koran sind wir auch nicht sehr weit gekommen, denn schon bald wurde der Lehrer wieder entlassen. Ursprünglich sollte er mir die arabische Sprache und Kultur beibringen. Meine Mutter hat mich immer als den kleinen Araber präsentiert.

Hat sie ihre unterschiedlichen Ursprünge für eine mediale Inszenierung instrumentalisiert?

Für sie verkörperten wir vor allem ihr Ideal der universellen Brüderlichkeit. Auch wenn es eine impulsive Entscheidung von ihr war, mich zu adoptieren, hat es ihr sicherlich besonders gut gefallen, dass von nun an ein Araber neben einem Juden in Frieden aufwachsen würde.

Inwiefern hatten Sie eine vertrauliche, persönliche Beziehung zu Ihrer Mutter?

Sie konnte nicht die Mutter von jedem von uns sein. Oft ging sie auf Tournee, um Geld zu verdienen. Ihre Schwester Margaret und deren Mann oder andere Erwachsene waren für uns da. Wenn man zu zwölft ist, hat man eine Mutter, die sich um eine Gruppe, aber nicht um einen persönlich kümmert. Wie in jeder kinderreichen Familie ist das ein wenig frustrierend. Manchmal hätte ich mir gewünscht, sie nur für mich alleine zu haben, sie nicht mit den anderen teilen zu müssen.

Gab es nie Situationen, in denen Sie mit Ihrer Mutter alleine waren?

Selten, aber doch! Einmal kam ich zu spät zur Schule und wurde nicht mehr in die Klasse gelassen. Da lebten wir inzwischen dank Grace Kelly in einer Villa in einem Dorf an der Côte d’Azur, das unmittelbar an Monaco grenzte. Jedenfalls konnte ich nicht gleich den Schulbus nach Hause nehmen, denn meine Mutter war zufälligerweise da. So trat ich den Heimweg zu Fuß an. Als ein Regenguss losbrach, habe ich mich extra nicht untergestellt, um völlig durchnässt eine gute Ausrede zu haben: Mir sei furchtbar kalt, ich hätte vergeblich auf den Bus gewartet. Meine Mutter hat mich dann abgetrocknet, ins Bett gesteckt, mir Medikamente geholt und Tee gemacht. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, gelogen zu haben, aber ich genoss es einfach, dass sie mich alleine umsorgte. Manchmal nahm sie einen von uns auf Reisen mit, auch in unsere Herkunftsländer. Das waren besondere Momente.

Suchte Ihre Mutter auch eine stärkere Nähe zu jedem einzelnen von ihnen?

In unsere Ursprungsländer reiste sie mit uns vor allem, weil es dem Projekt der universellen Brüderlichkeit nutzen sollte. Sie wusste, dass Fernsehen und Presse über unsere Reise berichten und Politiker es mitbekommen würden. Sie machte das weniger, um ganz allein mit einem von uns zu sein. Sie wünschte sich, dass ihre Idee der Regenbogenfamilie weltweit um sich greift. Deshalb hat sie ihre Utopie so deutlich nach außen getragen. Das war alles ein bisschen merkwürdig, aber auch nicht traumatisierend.

Berliner Zeitung

Der Peter-Pan- Komplex, Gespräch mit Michel Onfray über den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy

Der französische Philosoph Michel Onfray hält Präsident Sarkozy für ein schlecht erzogenes Kind, das nie erwachsen geworden ist. Ein Gespräch über den Spielzeugladen der Republik: Der Peter-Pan-Komplex

Monsieur Onfray, Frankreich scheint in einem auffallenden Spannungsverhältnis zu stehen: Es wird gestreikt und demonstriert, während im Elysée-Palast ein Präsident versucht, die « Grande Nation » glorreich zu verkörpern. Leidet Frankreich am Sonnenkönig-Komplex?

Wissen Sie, Frankreich hat sich nie wirklich davon erholt, Ludwig XVI. enthauptet zu haben! Seitdem schwankt es zwischen dem Wunsch nach einem König und dem Wunsch nach seiner Enthauptung. Anders gesagt: Das Volk wählt seinen Staatspräsidenten direkt, macht aber zugleich die Straße zum Austragungsort der Politik. General de Gaulle hielt die richtige Distanz, indem er sich, das war im April 1969, der Enthauptung durch ein Referendum aussetzte. Bei ihm war das eine klare Sache: Ich habe keinen Rückhalt mehr im Volk, dann trete ich zurück! Andere Zeiten, andere Sitten: Heutige Berufspolitiker tun alles, um an die Macht zu gelangen. Wenn sie dort angekommen sind, tun sie weiter alles, um dort zu bleiben. Währenddessen träumt das Volk davon, den König abzusetzen.

Sie haben Sarkozy zweimal für eine Recherche getroffen. Wie würden Sie ihn beschreiben?

Wie ein Mensch, der unter einer Art Peter-Pan-Komplex leidet: Dieser Mann hatte keine Kindheit, er mag die Kindheit nicht, er mag seine Kindheit nicht, er hasst die Vergangenheit, seine Vergangenheit, er hat keine Ahnung von Geschichte, und es fällt ihm sogar schwer, in der Gegenwart zu leben. Er ist von der Zukunft besessen, dem nächsten Tag und unfähig, heiter und gelassen zu sein. Bei diesem Gespräch meinte Sarkozy, Pädophilie und Homosexualität seien genetisch bedingt. Seine Äußerungen wurden weltweit kommentiert. Er hat mir auch erklärt, er habe seine Persönlichkeit darüber aufgebaut, dass er ständig Grenzen überschritten und Gebote übertreten habe. Ich erinnere daran, dass dieser Mann zu der Zeit, als er dieses Loblied auf die Überschreitung hielt, Innenminister war und das höchste Amt der französischen Republik anstrebte! Inzwischen ist er Staatsoberhaupt und lebt noch immer nach diesem Prinzip: ungeduldig, ungestüm, unruhig, sprunghaft und transgressiv wie ein Kind, das sich über die Gesetze, den Vater, die Vorschriften des Vaters hinwegsetzt. Hinter seiner angeblichen Modernisierung des Amtes verbirgt sich eigentlich eine permanente transgressive Handlungsweise. Von seinem Liebesleben, seinen Medienauftritten, bis zu seinem Verhältnis zur Politik, die er nur aus machtpolitischer Perspektive betrachten kann. Der Fluch, der auf ihm – und damit auch auf uns – lastet, besteht darin, dass er keinen Sinn für Geschichte, keinen Sinn für die Vergangenheit hat.

Wie deuten Sie Sarkozys Äußerung, nichts schiene ihm absurder, als das Sokratische « Erkenne dich selbst »?

Diese Aufforderung ist für ihn das Gefährlichste schlechthin. Er weiß, wenn er sich auf die Suche nach seinem Selbst, auf die Suche nach seinem tiefsten Wesen begeben würde, dass er dann Ungeheuer entdecken müsste. Instinktiv weiß er, dass er nicht in diese Richtung gehen darf, wenn er keine Geister wecken will.

Wenn Sarkozy erklärt, er sei « ein Mann wie jeder andere, der morgens aufsteht und abends schlafen geht », gibt er, indem er es so betont, damit nicht preis, genau das Gegenteil davon zu denken?

Absolut.

Vor den Verhandlungen um die Sonderrenten der Eisenbahner ließ Sarkozy sein Gehalt um 170 Prozent erhöhen.

Wie haben Sie diese Geste aufgefasst?

Als Beleg seiner Vorliebe, sich an keine Normen zu halten. Diese Unverfrorenheit ist eines Erwachsenen unwürdig, aber sie sagt viel über das Verhalten eines Kindes aus, das sich ohne Hemmungen im Spielzeugladen der Republik bedient.

Wie deuten Sie seine besondere Vorliebe für Luxus, für Milliardärsfreunde und seine Lust diese – unter dem Vorwand der Transparenz – zur Schau zu stellen?

Wie eben: Dieselbe Schamlosigkeit eines schlecht erzogenen Kindes, die auf seinem Verlangen beruht, unbedingt etwas haben zu wollen, da ihn das eigene Dasein nicht erfüllt. Er ist nur das, was er hat, so wie alle, die ihre Existenz auf Geld, Macht, Ansehen und den Blick der Anderen aufgebaut haben.

Wie deuten Sie Sarkozys Redeweise: häufiges Duzen, simple Sätze und ein Sprachniveau, das sich deutlich von seinen Vorgängern absetzt?

Ich sehe darin die Rüpelhaftigkeit eines Emporkömmlings, der über Bräuche, Konventionen, Symbole und Höflichkeit hinweggeht. All diese Zeichen unserer Zivilisation zeigen, dass sich unser Dasein nicht auf unsere unmittelbare Gegenwart beschränken lässt, sondern in der Vergangenheit verankert ist. Das versteht dieser Staatspräsident aber nicht. Die Kumpelhaftigkeit, die er Ihrer Kanzlerin gegenüber gezeigt hat, offenbart das infantile Verhalten desjenigen, der es immer noch nicht glauben kann, am Tisch der Großen sitzen zu dürfen. Er umarmt Madame Merkel und klopft Benedikt XVI. auf die Schulter, als seien das seine Kumpels aus der Grundschule.

Sarkozy hat die ungeschriebenen präsidialen Kleidungsvorschriften reformiert. Er ist in Jeans, T-Shirt mit dem Logo der New Yorker Polizei sowie Fliegerbrille zu sehen und joggt in kurzen Hosen. Was halten Sie von diesem für Chirac oder De Gaulle undenkbarem Aufzug?

Diese Kleidung drückt aus, dass sich dieser Mann in einer Welt der kurzen Hosen bewegt, anders gesagt, in einer Welt von nicht mal Zehnjährigen, wie im Film « Krieg der Knöpfe ». Sich so zur Schau zu stellen, ist nicht nur infantil und lächerlich, es ist jämmerlich.

Sind die Franzosen mit einem Präsidenten, der sein Privatleben wie einen Fotoroman ausstellt, wieder am Hofe von Versailles?

Ja, darum geht es: Aufstehen des Königs, Frühstück des Königs, Mittagsmahl des Königs, Souper des Königs, Stuhlgang des Königs, Schleimauswurf des Königs (übrigens, einer der Ärzte Ludwigs XV. hieß Chirac), Garderobe des Königs, Zerstreuung des Königs, Spiele des Königs, Sport des Königs, Ferien des Königs, Gemahlin des Königs, Mätressen des Königs, Favoriten des Königs, Mutter des Königs, Reisen des König und so weiter.

Während der Eisenbahner-Streiks hat Sarkozy seine Scheidung bekannt gegeben. Und unmittelbar nach dem für ihn kompromittierenden Besuch von Gaddhafi hat er seine Beziehung zu Carla Bruni verkündet. Instrumentalisiert er gezielt sein Privatleben, um von seiner Politik abzulenken?

Er nimmt die ganze Zeit die Medien in Anspruch, rund um die Uhr, so dass es sich bei ihm weniger um eine Strategie oder Kommunikationstaktik als um eine Non-Stop-Bilderflut des Königs handelt, ein Bild jagt das andere.

Was bedeutet so ein « TV-Präsident » für die Demokratie des Landes?

Den Siegeszug der selbstständig funktionierenden Maschinen in der Politik, in erster Linie die europäische Bürokratie, die den Staat in eine Instanz zur bloßen Absegnung ihrer Entscheidungen verwandelt. So hat der Staatspräsident zwischen zwei Unterschriften nichts anderes mehr zu tun, als seinen Körper in Szene zu setzen, wodurch seine nicht mehr vorhandene politische Macht kaschiert wird.

Ist das Sarkozys Methode: Durch sein Handeln eine bestimmte Position zu beziehen und sogleich in seinen Reden die gegenteilige Position einzunehmen?

Nein, er lebt nur im Moment und sucht den darauf folgenden Moment. Er glaubt an das, was er im Augenblick sagt, während er es sagt. Das Gesagte erlischt noch in der Sekunde, in der es ausgesprochen wird. Von nun an ist alles möglich, besonders der Widerspruch. Kohärenz setzt eine klare Linie voraus, die dem Verlauf der Zeit gehorcht. Sarkozy ist unfähig, diese Zeitachse zu begreifen. Um bei dieser geometrischen Metapher zu bleiben: Als Opfer seiner Unfähigkeit in der realen Zeit zu leben, hüpft er ständig auf dem gleichen Punkt. Er ist dazu verurteilt, mit dem Zeitgefühl eines Kindes zu leben, in der ewigen Gegenwart.

Was halten Sie davon, dass sich Sarkozy immer wieder auf Leitfiguren der Linken wie Leon Blum, Guy Moquet und sogar François Mitterrand beruft?

Henri Guaino, sein Redenschreiber, der für ihn denkt, will Sarkozys Unfähigkeit, in der realen Zeit zu leben, durch Reden ausgleichen, die breit angelegte historische Fresken sind. Dieser Ghostwriter hat einen sehr ausgeprägten Sinn für Geschichte. Und Nicolas Sarkozy spielt die ihm zugewiesene Rolle wie ein Schauspieler, der jede Stunde das Stück wechselt. Damit ihm das De-Gaulle-Kostüm passt, legt ihm sein Berater romantische Versatzstücke in den Mund – Chateaubriand, Hugo oder Michelet. Mit diesen Phrasen kann er sich zwar nicht im politischen Geschäft behaupten, aber ohne großen Aufwand seinen Platz in der Geschichte finden. Eine sehr geschickte politische Vorgehensweise, die zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt, denn gleichzeitig wird der ohnehin schon blutarmen Linken das Blut ausgesaugt, indem man sich ihrer Symbole bemächtigt.

Sarkozy hat linke Politiker als Minister und Staatssekretäre unter dem Motto der « Öffnung » in seine rechte Regierung geholt.

Diese Abwerbung ist eigentlich gar keine. Der Übertritt von liberalen Sozialisten zu den Liberalen von Sarkozy zeigt, dass sich die angebliche sozialistische Linke oft nur in Form, Personal und Stil von der echten Rechten unterscheidet. Mitterands liberale Wende in der Wirtschaftspolitik von 1983 zeigt, dass der Sozialismus, wie der « Sarkozyismus », den liberalen Kapitalismus bedient, obwohl sie beide ihre jeweiligen Ideologien hartnäckig beibehalten. Die Bipolarisierung der französischen Politik ist nur Fassade. Alles ist so angelegt, dass es die Liberalen sind, egal ob von rechts oder links, die bei den Wahlen gewinnen. Außer Opportunismus, Karrierismus, Geschmack an Privilegien, ist es die globalisierte Sicht, dass Geld alles bestimmt, die diese so genannten linken Politiker zu Sarkozy führt.

Herrscht nach den Vorstadtkrawallen im Winter 2005 und den Gewaltausbrüchen im November 2007 ausreichend politischer Wille, die Lebensbedingungen in den Stadtrandgebieten zu verbessern?

Nein, die liberale Politik erzeugt gesellschaftlichen Abfall, auf den sie mit Repression und Polizeigewalt reagiert. Als die liberale Linke damit konfrontiert war, hat sie kaum etwas anderes gemacht.

Ist es nicht ein gutes Zeichen, dass aktuelle Regierungsmitglieder aus der zweiten Einwanderergeneration stammen?

Das ist PR! Sarkozy entscheidet alles allein. Jeder Minister muss seinen Aufsatz gegenlesen lassen, bevor er in der Presse erscheint. Das sind nur Pixel-Effekte, Vorwände, für die ein paar Machthungrige sich hergeben.

Die Justizministerin Rachida Dati und die Staatssekretärin für Menschenrechte Rama Yade, beide aus der zweiten Einwanderergeneration, sind auffallend fotogen. Dati posiert in Dior für die Boulevardpresse, Yade erscheint auf der Titelseite einer Psychologiezeitschrift. Sind wir in einer neuen Ära der politischen Kommunikation?

Sie leben sich auf den Hochglanzseiten als Klon eines Mannes mit Kinderseele aus. Es ist wie in der Fabel von La Fontaine, in der der Frosch sich derart aufbläst, um die Größe des Ochsen zu erreichen, dass er zerplatzt. Sie sind Frösche, die genauso groß wie der Ochse sein wollen.

Monsieur Onfray, bevor Sie den Weg der Philosophie eingeschlagen haben, erlebten Sie den harten Arbeitsalltag in einer Molkerei. Was halten Sie von Sarkozys Slogan « Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen »?

Ich gehöre wirklich nicht zu jenen, die die Arbeit zu einer Religion erklären. Zumal die großen Reichtümer selten durch Arbeit, wenn überhaupt, dann nur durch die der Anderen, sondern vielmehr durch das Kapital entstehen. Die Lohnarbeit ist meistens eine Form der modernen Sklaverei. Denn wer würde weiter arbeiten, wenn man ihm weiter sein Gehalt überweisen würde, ohne dass er jeden Tag zu seinem Arbeitsplatz kommen müsste? Sehr wenige Leute: Künstler oder die, deren Arbeit durch symbolische Bezahlung oder in Form von Macht über andere vergütet wird, was wohl nur für eine Minderheit zutrifft. Man muss weniger Arbeit unter besseren Arbeitsbedingungen anstreben: Historisch gesehen hat die Linke immer in diese Richtung gearbeitet. Wenn sie dies nicht mehr tut, ist sie ihrer ideologischen Substanz beraubt.

In Ihrem auf Deutsch zuletzt erschienenen Buch « Wir brauchen keinen Gott » setzen Sie sich für einen offensiven Atheismus ein. Was halten Sie von Sarkozys Position, es seien « die Religionen, die uns als Erste die universellen Prinzipien der Moral, der Menschenwürde, der Freiheit, der Verantwortlichkeit und der Aufrichtigkeit beibrachten »?

Ich glaube, dass diese Tugenden, die nicht gerade zu denen gehören, die von unserem Staatspräsidenten befolgt werden, aus komplexeren Zusammenhängen als lediglich dem der Religionen hervorgehen. Nicolas Sarkozy zeichnet sich nicht durch eine übermäßige Vorliebe für Literatur, Kultur, Bücher und Philosophie aus. Die christlichen, ethischen Grundwerte basieren auf älteren, ethischen Grundwerten, den griechischen, aber auch den orientalischen, insbesondere den altindischen Religionsschriften. Die Idee einer « universellen Moral » leitet sich bei ihm eher aus dem katholischen Katechismus als aus einer persönlichen philosophischen Überlegung ab. Benedikt XVI. denkt genauso, aber um diese Sichtweise beibehalten zu können, muss man eine lokal beschränkte Position einnehmen: europäisch, weiß und christlich.

Werden Sarkozys sozialpolitische Reformen zu einer definitiven Orientierung Europas zum Liberalismus hin beitragen?

Sarkozy redet nur, deshalb wird er auch von den Medien verhätschelt. In kaum mehr als sechs Monaten hat er alles Mögliche und das Gegenteil davon gesagt. Vor allem hat er eine Politik verfolgt, die von Jacques Chiracs Politik nicht so weit entfernt ist – Afrika, Russland, arabische Welt, China. Er bringt gar nicht so viel durcheinander, und Europa braucht nicht ihn, um eine liberalistische Kriegsmaschine zu sein! Das ist es schon seit einem Vierteljahrhundert.

Glauben Sie, dass wir in Europa nach einigen Jahrzehnten besserer Arbeitsbedingungen wieder einen Raubtierkapitalismus erleben?

Der Kapitalismus ist eine blinde Produktionsweise von Reichtum. Der Liberalismus ist ein Modus, den vom Kapitalismus produzierten Reichtum aufzuteilen: Er gibt jenen, die schon haben und erzeugt Verarmung, das heißt, die Vermehrung des Reichtums der Reichen und die Vermehrung der Armut der Armen. Dementsprechend sind es immer weniger Reiche, die immer reicher werden, während immer mehr Arme immer ärmer werden.

Welches Bild vom Individuum haben die Rechten und Linken, und welche Rolle schreiben sie demnach der Gesellschaft zu?

Die Rechte glaubt an das Individuum nach dem Gesetz der Wildnis. Sie lässt alles so laufen, wie es ist, und behauptet, dass die Tauglichsten sich anpassen, überleben und sich durchsetzen werden. Die Linke behauptet, dass wir uns zwar de facto in der Wildnis befinden, dass nach Darwin, den wir nie ganz lesen, aber auch Solidarität und gegenseitige Hilfe genauso wie die Anpassungsfähigkeit der Stärksten oder Klügsten zu unseren natürlichen Veranlagungen zählen. Die Rechte will eine Gesellschaft, die die Kräfte der Wildnis freisetzt. Die Linke will eine Gesellschaft, die auf Humanität und Solidarität aufbaut und auf das Mitgefühl für die Opfer der Brutalität der Ersten.

Sie vertreten eine hedonistische Philosophie und eine dementsprechende Ethik. Wie würden Sie eine hedonistische Politik beschreiben?

Helvétius, ein Philosoph der Aufklärung, definiert sie vor der Französischen Revolution so: « Das größte Glück der größten Zahl ». Ich glaube, dass diese Aussage weiter aktuell ist und ein immenses Potenzial für die Gegenwart und Zukunft in sich birgt. Der Liberalismus verwirklicht das Glück von einigen Wenigen auf Kosten der großen Menge. Er impliziert, hart gegenüber den Schwachen und schwach gegenüber den Starken zu sein. Aufgrund meines Antiliberalismus denke ich, dass man das Glück der größten Menge anstreben muss und dass man eine Politik machen muss, die unnachgiebig mit den Starken und milde mit den Schwachen umgeht. Wie Sie sehen, ist diese Politik eine Ethik. Der Hedonismus wird häufig missverstanden. Er hat einen schlechten Ruf und überall Feinde. Es reicht zu behaupten, Hedonismus ist gleich egoistischer, körperlicher, konsumorientierter Genuss, um sich nicht mit meinen Thesen auseinandersetzen zu müssen. Ich habe zwei Volkshochschulen gegründet, in denen ich ehrenamtlich unterrichte. Ich stecke Zeit und Energie hinein, vom Geld ganz zu schweigen. All meine beruflichen Kontakte stelle ich zwei Provinzstädten in der Normandie zur Verfügung. In einer der Städte, Argentan, wo ich herkomme, habe ich die « Volkshochschule des Geschmacks » ins Leben gerufen, um im Rahmen eines Garten-Projekts mit einem Verein zur Resozialisierung von Menschen in Schwierigkeiten zusammenzuarbeiten. Wie könnte mein Hedonismus mondän, pariserisch, konsumorientiert und egozentrisch sein? Hedonismus ist ein komplexes Spiel mit Freuden, das die Freude der anderen mit beinhaltet.Ein Ersatz für die Revolution zur Aneignung des Staatsapparates.Wissen Sie, der Staat ist nicht mehr der einzige Ort der Macht, daher erübrigt sich das Konzept einer Revolution zur Aneignung des Staatsapparates. Das ist übrigens eine der Lehren von Michel Foucault. Da derselbe Philosoph schreibt, dass « die Macht überall ist », bedarf es folglich überall der Gegenmächte. Die Revolution wird somit zur mikrologischen Angelegenheit, denn sie ist eine Antwort auf die dominierende Macht, die auch mikrologisch ist. Die Summe aller Mikro-Widerstände gegenüber den Mikro-Faschismen kann die herrschende Macht wirklich bremsen. Durch das, was ich das Gulliver-Prinzip nenne: Viele kleine miteinander verbundene Punkte können den Riesen Gulliver endgültig aufhalten. Es bedarf nur der Vernetzung dieser Mikro-Widerstände. Die Mikro-Widerstände sind effizient, auch wenn sie nicht unbedingt sehr sichtbar sind. Dort, wo der eine den anderen ausbeutet, unterdrückt, muss man sich durch Verweigerung entgegensetzen. Die Macht gibt es nur, weil diejenigen, auf die sie ausgeübt wird, sich ihr beugen. Das ist eine der bedeutenden Lehren von La Boétie, dem Freund von Montaigne, der in der Politik mein Lehrmeister ist, im Übrigen ein Lehrmeister für alle Libertären. Es reicht, dass man der Macht nicht mehr zustimmt, und sie bricht von alleine zusammen.

Können Sie ein Beispiel für einen Mikro-Widerstand nennen?

Nehmen wir den Feminismus. Man kann die Gesellschaft reformieren, ihre Gesetze ändern, neue vorschlagen wollen, man kann aber auch im konkreten Alltagsleben Widerstand gegen Mikro-Herrschaftsverhältnisse leisten: Die Aufteilung der Haushaltsarbeit, die hauptsächlich Mann und Kindern gewidmete Zeit, die einseitig gefassten Entscheidungen. All das stellt politische Wirkungsbereiche dar, in denen die Mikro-Widerstände greifen. Ich bin für eine permanente Mikro-Revolution, hier und jetzt, mit konkreten, unmittelbaren Auswirkungen, und nicht für eine Makro-Revolution in ferner Zukunft, die nie eintreten wird.

Haben Sie aus diesem Grund die « Université Populaire » gegründet?

Ja, sicher. Ich wollte nicht das französische Uni-System reformieren, Projekte vorschlagen und auf eine bessere Zukunft und die Politiker hoffen. Ich habe mich entschieden, hier und jetzt, politisch zu handeln. Zusammen mit ein paar Freunden haben wir dann 2002 die freie Volkshochschule in Caen aufgebaut. Sie steht jedem offen und ist kostenlos, man muss sich nicht einschreiben, wir verlangen keinerlei Zeugnis, kein bestimmtes Bildungsniveau und keine persönlichen Daten. Es gibt keine Prüfungen und auch kein Diplom. Das von uns angebotene Wissen soll dazu dienen, auf sich selbst und dann die Welt wirken zu können. Wir sind etwa fünfzehn Leute, die unentgeltlich Kurse über Feminismus, Politik, Psychoanalyse, zeitgenössische Kunst, Film, Literatur, Geschichte, Jazz sowie einen Philosophie-Workshop für Kinder geben. Ich selber biete 21 Kurse im Jahr an, die wöchentlich stattfinden. In der ersten Stunde stelle ich eine wissenschaftliche Arbeit vor, in der zweiten wird dann darüber diskutiert. Jede Woche kommen über 750 Menschen in den Hörsaal zu meiner Vorlesung über die Gegengeschichte der Philosophie.

Berliner Zeitung

Die Esel und die Stiere – Interview – Berliner Zeitung

David McNeil über die Kindheit mit seinem Vater Marc Chagall, die Decke der Pariser Oper und das schwierigeVerhältnis seines Vaters zu Picasso

In der Pariser Garnier-Oper lehnt David McNeil an der Brüstung des vierten Ranges.Er steht in Schwindel erregender Höhe, unmittelbar unter dem Gemälde derKuppel, das sein Vater, Marc Chagall, vor 40 Jahren schuf. Lange und schweigend betrachtet er die berühmte Decke: In Chagall’scher Leichtigkeit schweben Liebespaare, Blütenkränze, Blumensträuße, Esel und Engel um den mächtigenLüster aus Kristall und Bronze. Chagall unterteilte die 220 Quadratmeter in fünf Farbfelder, die jeweils zwei Komponisten gewidmet sind: Rot für Ravel und Strawinski, Weiß für Rameau und Debussy, Grün für Berlioz und Wagner, Blau fürMussorgski und Mozart. Auf gelbem Grund entdeckt man einen blauen Schwan ausTschaikowskis Schwanensee und leichtfüßige Ballerinen in bunten Tutus aus AdamsBallett Giselle. Und hie und da zwischen den Allegorien Pariser Wahrzeichen:der Eiffelturm in Blau, der Arc de Triomphe, die Place de la Concorde und das Opernhaus in Rot. Nachdem David McNeil sich geduldig fotografieren ließ, wirft er dem Fotografen ein großes, weißes Leinentuch über den Kopf, das zum Aufhellen diente. Er stachelt ihn an, als Phantom der Oper durchs leere Pausenfoyer zu laufen. Der Fotograf rennt mit ausgestreckten Armen als Gespenst los und David McNeil lacht. Ob er wohl weiß, dass sich einst hier oben, wo er soeben noch stand, ein Unfall ereignete, der Gaston Leroux zu einer Episode seines Phantoms der Oper inspirierte? Eines der Gegengewichte des sieben Tonnenschweren Lüsters hatte sich gelöst und erschlug eine Zuschauerin angeblich gerade auf Platz 13 des vierten Ranges.

Was empfinden Sie, wenn Sie dieses Deckengemälde betrachten?

Heute ist ein besonderer Tag. Es ist das erste Mal, dass ich es fast alleine sehe.Denn entweder habe ich es mit den Arbeitern gesehen, die es anbrachten, oder mit Publikum und dem General de Gaulle, wo jeder im Stehen applaudierte und »Bravo, Bravo! » schrie. Was für eine schöne Idee, sich hier zutreffen! Ich danke der Zeitung. Aber ich brauche die Decke nicht vor Augen zuhaben. Wenn ich die Augen schließe, dann habe ich das Gemälde im Kopf. Ich habe gesehen, wie es in Bleistiftskizzen auf Papier entstand. Ich habe mit ihm gelebt. Die Grundierung, die mein Vater für die Entwürfe benötigte, bekam mal wieder ich während meiner Sommerferien in Les Collines, in Vence, aufgebrummt.

Haben Sie oft Bilder Ihres Vaters grundiert?

Das Grundieren gefiel meinem Vater gar nicht. So wurde das häufig zu meiner Aufgabe. Da es mir mehr Spaß gemacht hätte, an den Strand zu gehen, setzte er eine raffinierte Strategie ein. Er erklärte, die Blätter würden davonfliegen, wenn sie vollständig mit Farbe bedeckt seien. Er ließ Auguste, unseren Chauffeur und Mann für alles, aus großen Papierrollen Bogen im Format von 50 mal 60 cm zuschneiden. Wir öffneten die Fenster, und ich begann mit der lästigen Arbeit. Ich malte und malte in Grün, Rot, Gelb, sorgfältig und unermüdlich, damit ja kein Eckchen weiß blieb. Doch ich konnte die Farbe noch so gründlich auftragen, kein einziges Blatt flog jemals davon. Ich sagte meinem Vater: Es funktioniert nicht. Er ermunterte mich: Versuch es weiter, hier, versuch es mal mit Orange. Ich malte weiter und selbst nach fünf, zehn Bogen geschah nichts. Mein Vater lächelte: Wahrscheinlich ist es heute zu heiß, wir versuchen es morgen wieder.

Können Sie Ihren Beitrag hier an der Decke noch festmachen ?

Ich weiß es nicht genau. Aber da ich den blauen Hintergrund gemalt habe, muss es hier diese Fläche in Blau für Mozart mit dem die Zauberflöte spielenden Engel sein.

So entstand das berühmte Deckengemälde gar nicht an der Decke der Oper, sondern im Atelier?

Als der französische Kultusminister André Malraux in den sechziger Jahren meinen Vater bat, dieses Deckengemälde anzufertigen, akzeptierte er es nur unter der Bedingung, dass es zerlegbar sei. So bemalte er die Decke wie eine riesige, in Stücke geschnittene Apfeltarte oder Pizza. Erst vor Ort wurden die Ölgemälde aufgezogen und zusammengesetzt.

Erinnern Sie sich an den Abend der Einweihung?

Der Empfang war ein Riesenerfolg. Als mein Vater die Operntreppe emporstieg, bildete das Gendarmeriekorps ein Ehrenspalier. Mein Vater saß neben Madame de Gaulle in der Loge, die eigentlich Staatschefs reserviert ist. Mich hatten sie oben auf der Galerie abgesetzt. Mein Vater war äußerst empfänglich für Ehrungen. Ich glaube, dieser Abend war einer der größten und schönsten in seinem Leben. In Erinnerung daran hat er das Pariser Opernhaus später mehrfach in seinem Werk verewigt.

Was für ein Mensch war Chagall ?

Mein Vater war ein sehr naiver Mann. Er hat anderen kaum jemals etwas zu Leide getan. Und wenn doch, dann aus vollkommener Naivität. Er konnte die Leute mit seiner Naivität geradezu um den Finger wickeln. Und dann noch seine strahlenden Augen, seine slawischen Seite und sein russischer Akzent, den er beibehalten hatte! Wenn man 50 Jahre woanders wohnt, kann man so eine Aussprache, so einen Tonfall durchaus ablegen. Aber es war bei ihm nicht aus Berechnung. Die Naivität ist dem Engelhaften sehr nahe. Deshalb habe ich mein Buch über die Kindheit mit meinem Vater « Auf den Spuren eines Engels » genannt.

Sie sind Autor mehrerer Romane. Warum haben Sie erst jetzt, im Alter von 56 Jahren, Ihre poetischen, ironischen Kindheitserinnerungen geschrieben?

Aus Bescheidenheit, vielleicht auch aus Scham. Wenn man das Leben mit einem berühmten Mann erzählt, kann das schlecht aufgenommen werden. Ich wollte meine Kindheit nicht niederschreiben. Aber ich las das Buch von Marina Picasso, in dem sie beschreibt, welche Hölle es war, mit ihrem Großvater zu leben: Picasso, das egozentrische Monster voller Boshaftigkeit. Ich hatte Lust, für meinen Sohn nur drei Seiten zu verfassen, um ihm zu zeigen, dass nicht alle berühmten Männer Monster sind. Ich habe mit meinem Vater wunderbare Glücksmomente erlebt. So hielt ich einen dieser Tage am Strand mit ihm fest: Er holte dort seine Schachtel mit den Pastellkreiden hervor, jene, die in ihrer Hülle in der Mitte immer brechen. Wir zauberten Fische, Vögel, Hähne, Esel, junge Frauen und Sirenen auf die Steine. Danach warfen wir die bemalten Steine wieder ins Wasser. Sie wurden zu Gemälden für die Quallen. Nach diesen Seiten kribbelte es in meinen Fingern. Mein Sohn hat mich bestärkt weiterzumachen. Das war für mich wie eine offene Tür. Ich war glücklich, meine glücklichen und unglücklichen Momente erzählen zu können. Die nostalgischen, traurigen Passagen habe ich später aber weggelassen.

Wie zum Beispiel?

Mein Vater war fast 60 Jahre alt, als ich geboren wurde. Ich habe keinerlei Erinnerungen an einen Fußball-Vater. Ich habe auch auf alle meine Verletzungen verzichtet, die es während der Trennung zwischen meinen Eltern gab. Und auf alles, was für ein Kind verletzend sein kann.

Ihre Mutter, Virginia Haggard, schrieb 1986 in « Sieben Jahre der Fülle. Mein Leben mit Chagall », dass Ihr Vater trotz der starken gefühlsmäßigen Bindung Ihnen gegenüber eine distanzierte Haltung einnahm, die später zur Entfremdung führte.

Das Kind akzeptiert die Distanz, denn es weiß nicht, dass es etwas anderes gibt.

Bestimmte diese Distanz von Anfang an das Verhältnis zu Ihrem Vater?

Ich habe erst später angefangen, diese Distanz zu spüren. Als er mich als Baby von drei oder sechs Monaten sah, sagte er schon zu meiner Mutter: « Eines Tages wird er trinken und rauchen und er wird in Bars gehen, wo Frauen sind! » Mein Vater hatte die große, große Angst, dass ich so wie Paulo Picasso werden würde. Paulo, war ein junger Mann, der viel trank, jeden Abend ausging und sturzbetrunken morgens um 5 Uhr von zwei Gendarmen nach Hause gebracht wurde. Je mehr ich heranwuchs, je mehr ich mich dem Erwachsenenalter näherte, desto mehr hatte mein Vater Angst vor mir, desto mehr entfernte er sich von mir.

Hat er Sie als Kind gerade noch, als Erwachsener überhaupt nicht mehr akzeptiert?

Das Ende kam mit dem Verschwinden der Kindheit, mit 14 Jahren. Wenn es mir heute gelingt, diese Zeit aus der Distanz zu betrachten, dann denke ich: An diesem Ort hier, wo wir jetzt sitzen, wenden jeden Abend 2 000 Menschen den Kopf nach oben, um das Deckengemälde anzusehen. Bin ich wichtiger als die Decke der Oper? Wenn ich mir diese Frage stelle, dann sage ich mir: Vielleicht war dieser Mann eher dazu geeignet, Millionen von Menschen zum Träumen zu bringen, als einfach ein Kind zu streicheln.

Hieße das, dass man neben einem Genie selbst keine Daseinberechtigung mehr hat?

Nein, das heißt, dass man bescheiden zurücktritt und sich in den Schatten stellt. Wenn jemand dieses wunderbare Genie hat, geht das immer auf Kosten von jemandem. Das sind natürlich immer die Kinder. Ich kratzte nicht wie ein Hund an die Tür und jaulte. Ich überwand meinen Groll und sagte mir: Okay, du bereitest so vielen Menschen so viel Freude, mach weiter so. Ich habe mir schnell in den Kopf gesetzt, das Gleiche wie er zu tun und anderen Freude zu bereiten. Aber ich hatte nicht sein Charisma. Und in meiner Arbeit war ich sehr viel mittelmäßiger.

Warum wollte Ihr Vater nicht, dass Sie Künstler werden ?

Ich sollte Architekt werden, ein Beruf, mit dem ich meine zukünftige Familie ernähren konnte. Mein Vater hatte schon Grundstücke gekauft, wo ich Villen bauen sollte, um Geld zu verdienen. Er hat immer geglaubt, dass er arm ist.

Aber Marc Chagall war zu jener Zeit bereits ein anerkannter, vermögender Künstler.

Er wusste es nicht. Sie sagte ihm, sie hätten kein Geld.

Sie meinen die zweite Ehefrau Ihres Vaters, Valentina Brodsky?

Ja, ja. Einmal jedenfalls, als wir bei seinem Kunsthändler Aimé Maeght eingeladen waren, blieb mein Vater auf dem Parkplatz stehen. Er fragte sich, warum sich sein Händler nur mit seinem 15-Prozent-Anteil einen weißen Rolls Royce Silver Cloud III Cabriolet leisten konnte, während er selbst diese Klapperkiste, einen alten Peugeot 403 fuhr. Die Stiefmutter erklärte ihm, statt des traurigen, jüdischen Zeugs, diesen heruntergekommenen Schtetls, diesen erbärmlichen Rabbinern mit ihrer alten Thora, solle er fröhliche Blumensträuße malen. Blumen würden sich besser verkaufen. Dann könnten wir auch einen Rolls kaufen. So hat mein Vater 15 Jahre lang Gladiolen gemalt und hat nie einen Rolls bekommen. Er war naiv! So enstanden all die Blumengemälde, die man heute als dekorativen Chagall bezeichnet. Er war davon überzeugt, kein Geld zu haben.

Wie hat er reagiert, als er erfuhr, dass Sie Musiker werden?

Er war furchtbar enttäuscht. Bill Wyman, der ehemalige Bassist der Stones, hat einmal ein Buch über meinen Vater geschrieben und ihn in Saint-Paul besucht. Wyman erzählte mir, mein Vater habe ihm sehr stolz gesagt: « Wissen Sie, mein Sohn ist auch Musiker. » So muss er darüber glücklich gewesen sein. Ich schrieb einmal ein Lied für meinen Vater, in der Hoffnung, es möge ihm eines Tages zu Ohren kommen. Denn er hörte oft Radio in seinem Atelier. Wer weiß?

Ab welchem Zeitpunkt haben Sie Ihren Vater nicht mehr gesehen?

Von da an, als ich mit sechzehn Jahren anfing Zigaretten zu rauchen. Das ertrug er nicht. Zu seinem Geburtstag schrieb ich ihm einen Brief, den er nie beantwortete. Ich glaube, dass meine Stiefmutter ihn versteckt hat. Da er nie antwortete, schrieb ich ihm auch nicht mehr. Der eine ist stolz, der andere ist dann noch stolzer. So habe ich ihn fast zehn Jahre lang nicht mehr gesehen. Eines Tages bin ich mit meinem vierjährigen Sohn zu ihm gefahren, um ihm mein Kind zu zeigen.

Wie hat Ihr Vater reagiert?

Er hat ihn sofort ins Atelier mitgenommen und genau das gemacht, was er mit mir machte, als ich ein Kind war. Er gab ihm Papier, Farben und Pinsel. Sie haben sich hervorragend verstanden. Sie waren wie Vater und Sohn. Ich war ausgeschlossen, aber ich fand es okay. Einerseits war ich eifersüchtig, andererseits sehr glücklich. Von da an sahen wir uns wieder, bis ein blöder Artikel erschien. Ich habe meinen Vater die letzten drei Jahre bis zu seinem Tod nicht mehr gesehen. Wegen eines Zeitungsartikels! Wirklich grotesk!

Was stand in diesem Artikel?

Journalisten hatten mich befragt, worin ich die Zukunft der Malerei sähe. Ich dachte, sie liegt natürlich nicht in den 90-jährigen, alten Meistern wie meinem Vater und sagte: Die Kunst wird von Videos, Installationen und neuen künstlerischen Bewegungen bestimmt werden. Der Titel des Artikels lautete dann: « Der Sohn von Chagall verurteilt die Malerei. » Meine Stiefmutter nahm diesen Artikel zum Vorwand, um den Kontakt abzubrechen. Mein Sohn Dylan rief später einmal seine Großeltern an. Ihm wurde ausgerichtet, sie hätten keine Zeit, ihn zu sehen. Ich rief zweimal an. Mir wurde nicht geantwortet. Als mein Vater starb, wurde es noch schlimmer.

In welcher Hinsicht ?

Die Stiefmutter drohte, wenn mein Sohn oder ich ins Haus kämen, würde sie uns verhaften lassen. Und da kommen wir wieder zur Picasso-Familie: Als Pablito, dem Sohn von Paulo, dem Enkel von Picasso, der Zugang zum Totenbett seines Großvaters verweigert wurde, trank er eine Flasche Chlorwasser. Drei Monate lang ist er dann dahingesiecht. Wenn ich meinen Vater hätte sehen wollen, hätte mich die Stiefmutter von der Gendarmerie festnehmen lassen.

Was hätte sie als Grund angeben können?

Erst einmal kannte sie im Gegensatz zu mir die Gendarmerie. Dann steht in meinen Papieren nicht Chagall, sondern McNeil. Man hätte mich gefragt: « Wer sind Sie überhaupt? » Soll ich einem Gendarmen eine Stunde lang erklären, wer ich bin, um meinen Vater auf dem Totenbett sehen zu können? Ich bin nicht hingegangen. Da sieht man mal wieder die Boshaftigkeit dieser Frau.

Warum heißen Sie nicht Chagall ?

Als ich zur Welt kam, war meine Mutter noch mit John McNeil verheiratet. Sie wollte die Scheidung, aber er willigte nicht ein. Er war gekränkt, dass sie ihn verlassen hatte. Sieben Jahre später gab er seine Einwillung. Da hatte sie Chagall aber bereits verlassen. Legal heiße ich McNeil. Als ich wegging, um mein eigenes Leben als Jazzman zu leben, wollte ich nicht der Sohn eines bekannten Mannes sein. Ich jobbte im Londoner Jazzclub Ronny Scott’s. Ich wollte David McNeil sein, der Mäntel in einer Garderobe aufhing, ohne dass jemand wusste, woher ich kam. Mit der heutigen Gesetzgebung könnte ich vielleicht den Namen wechseln. Meinen Vornamen habe ich immerhin vom Onkel meines Vaters, den er Geige spielend immer wieder malte.

Warum geigt dieser Onkel in Chagalls Darstellungen wie z. B. « Der Geiger » (1912-1913) und « Der grüne Geiger » (1923) eigentlich auf einem Dach?

Die Frau dieses Onkels fluchte immer: « Du spielst dermaßen schief, raus, du spielst nicht im Haus. » Heute würden wir sagen: « Geh in den Keller! » Da sie in Russland aber in Holzhäusern lebten, die keinen Keller hatten, musste er zum Geige spielen tatsächlich wegen seiner Ehefrau aufs Dach.

Warum sprechen Sie noch heute nie den Namen der zweiten Ehefrau Ihres Vaters aus? Selbst in Ihrem Buch benennen Sie Ihre Stiefmutter Valentina Brodsky immer nur mit « sie ».

Es gibt Orte und Restaurants in Paris, die ich bis heute nicht betrete, weil sie die gerne aufsuchte. Ich meide auch ein Ufer der Ile-Saint-Louis, das Quai d’Anjou. Ich gehe niemals an ihrem Haus vorbei.

Sie ist doch schon längst gestorben.

Ja. Ich danke Gott jeden Tag dafür. Sie starb viel zu spät! Ich hätte Lust, einen großen Sack voller Salz zu nehmen und überall, wo diese Frau entlang gegangen ist, Salz zu streuen. Damit kein Gras mehr wächst, wo sie auch nur ihren Fuß hingesetzt hat.

Warum haben Sie noch heute solche Ressentiments?

Dieses Gorgonenweib schreckte nicht einmal davor zurück, das Zimmer meiner Schwester Ida zuzumauern. Ida, Chagalls Tochter aus erster Ehe, und ich überlegten einmal, was wir machen könnten, damit sie krepiert. Wir sind jede Möglichkeit durchgegangen. Da sie leberkrank war und sie es sich dennoch nicht verkneifen konnte, alle Pralinen zu essen, die man ihr schenkte, wollten wir sie einfach mit Schokolade vergiften. Der Hass war dermaßen groß! Ich bin dieser Frau gegenüber boshaft, weil sie eine boshafte Person war. Vielleicht hat sie sich an mir gerächt, weil sie kein eigenes Kind mit meinem Vater hatte. Ich fragte sie einmal, ob ich nicht mein schreckliches Internat verlassen könnte, um bei ihnen zu leben. Meine Mutter konnte sich damals nicht um mich kümmern, da sie ihren neuen Mann, der schwer krank war, pflegen musste. Die Stiefmutter antwortete lediglich, das käme nicht in Frage, das sei unmöglich.

Was schätzte Ihr Vater an Valentina Brodsky, die er Vava nannte und mit der er 33 Jahre verheiratet blieb?

Den Komfort. Sie war sehr schön, sehr sanft. Es war behaglich mit ihr. Sie hat ihm das Leben eines alten, bequemen Monsieurs ermöglicht. Eine totale Geisha war sie. Ida wusste, dass ihr Vater, nachdem meine Mutter fortgegangen war, nicht alleine bleiben konnte. Sie stellte ihm diese dunkelhaarige Kaukasierin aus bester Familie vor, die bei einer Londoner Hutmacherin Federn auf Damenhüte nähte. Ida hatte diese Frau als Geisha ausgewählt, weil sie eine war. Sie hat sich als äußerst intelligent erwiesen und alles beschlagnahmt. Aber ich möchte betonen: wenn diese Frau boshaft war, dann auch, weil das Leben ihr nichts geschenkt hat. In der Oktoberrevolution hatte ihre Familie in Russland alles verloren. Jetzt, wo sie seit langem tot ist, werde ich auch kein Salz streuen. Und dennoch: wenn ich mir vorstelle, dass sie im Grab meines Vaters ruht! Ich habe noch immer Lust, sie herausnehmen zu lassen. Und manchmal sage ich mir, man muss verzeihen.

Inwiefern spielte es für Ihren Vater eine Rolle, dass Valentina Brodsky einem russischen Zuckerimperium und er einer armen, russischen Familie entstammte?

Mein Vater hatte einen echten Tick, nämlich die Manie, Zucker zu stehlen. In Venedig, im Café Floriani, gab er dem Geiger 20 Dollar, dem Kellner 20 Dollar Trinkgeld, ließ aber den gesamten Zucker mitgehen. Eines Tages sagte er mir: Wenn meine Eltern miterlebt hätten, dass ich die Tochter vom Zuckerbaron Brodsky aus Strawropol heirate. Was wären sie stolz auf ihren Sohn! Und ich fragte ihn: Wären sie nicht stolz darauf, dass sie einen Sohn haben, der die Decke der Oper bemalt hat? Er antwortete: Nein, nein! Auf die Heirat mit der Tochter vom Zucker B., darauf wären sie stolz!

Ließ Ihr Vater aus reiner Naivität zu, dass Valentina Brodsky alles in Beschlag nahm und dabei Ihre Vater-Sohn Beziehung zerstörte?

Das war nicht Naivität, sondern reine Schwäche, sich wie ein Kind verzärteln, verhätscheln zu lassen. Für ihn war es einfach sich zurückzuziehen. « Ich bin Künstler. Ich will nur in mein Atelier gehen und arbeiten. Ich kümmere mich nicht um die alltäglichen Probleme. » Das kam ihm gelegen. Es gab keine Freunde, keine Kinder, niemanden mehr.

Chagall hatte am Ende seines Lebens keine Freunde mehr?

Es gab Freunde, aber nur jene, die sie aussuchte. Wenn die Kinder von Ida ihn in Saint-Paul-de-Vence besuchten, durften sie nicht einmal bei ihm zu Hause schlafen. Die kleinen Nichten mussten ins Hotel gehen. Sie hielt jeden Einfluss von außen, alles, fern. Er hat es akzeptiert.

Ist Chagall demnach nicht mitverantwortlich?

Ich hätte ein Kapitel schreiben können, dass er ein schwacher Mann war, der auf den Tisch hätte hauen müssen. Aber ich habe es nicht gemacht. Die so genannten Blues-Momente sind etwas zwischen mir und mir selbst und sicher nicht zwischen mir und anderen Leuten. Das sind Dinge, die mir gehören.

Wollten Sie nicht vielmehr ein positives Bild Ihres Vater entwerfen? Ihre Mutter schrieb in ihrem Buch, Sie hätten niemals auch nur die kleinste Kritik über Ihren Vater verlauten lassen. Sie hätten immer eine bedingungslose Liebe für ihn gehegt.

Ich habe diese schwache Seite von ihm ausradiert. Denn man darf nicht vergessen, er hat ein hartes Leben gehabt: die Pogrome und Hungersnot in Russland, die Oktoberrevolution, der Erste Weltkrieg, der Zweite Weltkrieg. Er hat einen Bruder und 1944 seine erste Frau verloren. Sein Leben war dem Unglück ausgesetzt. Man kann über einen Mann, der das alles durchleben musste, nicht den Stab brechen. Ich lebe nur ein bisschen länger als ein halbes Jahrhundert und mir ist nicht eines dieser Unglücke widerfahren. In meinem Alter hatte er schon das Unglück der ganzen Welt erlebt. Man kann die Schwäche eines Mannes verzeihen, der im Alter von 75 Jahren sagt: Jetzt habe ich Lust zu malen, lasst mich alle in Ruhe! Deshalb lasse ich meinen Vater in meinem Buch in Ruhe.

Chagall unterhielt zu Schriftstellern wie Guillaume Apollinaire und Blaise Cendrars unkompliziertere Beziehungen als zu Malern. Welches Verhältnis hatte er zu Picasso?

Die beiden schätzten einander, doch mit der Zeit war so ein Spielchen zwischen ihnen entstanden. Wenn man meinen Vater dann einmal fragte, ob er Picasso mochte, antwortete er: Wenn Picasso mich mag, mag ich ihn auch.

Chagall befand: Picasso interessiert sich nicht für die menschlichen Gefühle. Er setzt sich nur mit dem Sichtbaren, dem Äußeren der menschlichen Natur auseinander.

Das stimmt auch!

Chagall sagte: Picasso wechselt den Stil so oft wie seine Socken.

Aber er dachte, es sind schöne Socken. Das war Eifersucht.

Erlebten Sie Situationen mit, wo diese Eifersucht zum Ausdruck kam?

Ich erinnere mich genau an Vallauris. Eine Töpferwerkstatt ist für ein Kind das Paradies. Mein Vater wollte im Madoura Atelier, der Werkstatt renommierter Keramiker, arbeiten. Picasso muss fuchsteufelswild geworden sein, denn das war sein Revier. Vor der Werkstatt, in der mein Vater seine Keramiken machte, lief ständig ein kleines Mädchen pfeifend auf und ab. Vielleicht war es Paloma oder Marina Picasso, wer weiß? Jedenfalls bat mein Vater mich, das Gleiche zu tun: Sag mir, was er macht, welchen Ton er verwendet! Das kleine Mädchen und ich waren von den zwei großen Künstlern als Spione angeheuert. Ich sah nach: Der macht einen Teller mit Stierhörnern. Stierhörner?, fragte mein Vater. Die Hörner werden doch beim Brennen springen. Später ging mein Vater zum Arbeiter, der sich um den Ofen kümmerte: Dieser Teller von Picasso hat doch das Brennen nicht überstanden, oder? Der eine machte seine Esel, der andere seine Stiere und beide beobachteten sich gegenseitig. Ich erinnere mich gut an Picasso, den alten, glatzköpfigen Monsieur, der neben Papa arbeitete. Sie liebten und verachteten sich.

In Françoise Gilots Erinnerungen heißt es, Picasso habe gesagt: Wenn Matisse stirbt, wird Chagall der einzige Maler sein, der noch weiß, was Farbe ist. Ich bin nicht versessen auf seine Hähne und Esel und fliegenden Geiger und die ganze übrige Folklore, aber seine Bilder sind wirklich gemalt, nicht nur einfach zusammengeschmiert.

Chagall ist ein Kolorist, Picasso überhaupt keiner. Das berühmsteste Bild von Picasso ist schwarz-weiß: Guernica. Picasso hat immer die schrecklichsten Farben verwendet.

Ihre Mutter erwähnt, Matisse schenkte Ihrer Schwester eine Katze und Ihr Vater soll eifersüchtig gewesen sein, wenn man die Matisse-Katze zu viel gestreichelt hat.

Ich erinnere mich an eine schwarz-weiße Katze. Das war also die Katze von Matisse! Ihn habe ich als einen alten Mann im großen Sessel in seinem Atelier in Erinnerung. Bei uns zu Hause hieß er bald nur noch der Schnipselkleber. Der Rheumatismus hatte den alten Meister so steif gemacht, dass er nur noch Papierfetzen ausschnitt.

Welche ist die letzte Erinnerung an Ihren Vater?

Ich sah ihn zum letzten Mal auf der Eisenbahnbrücke. Wie jeden Tag brach er zu seinem Spaziergang auf. Ich kam mit dem Auto zufällig vorbei, weil ich eine Frau, eine alte Schulfreundin, nach Hause brachte. Sie war wirklich keine Schönheit mehr und ich wollte nicht, dass er sie für meine Freundin hielt. Snobismus kann ein Verbrechen sein! Ich hätte das Mädchen und Auto stehen lassen und auf ihn zulaufen sollen, um ihm zu sagen: Wir machen noch einen Spaziergang. Ich habe es nicht gemacht. Das ist das letzte Bild von ihm: Er mit dem Rücken zu mir, der wie Chaplin am Ende seiner Filme verschwindet. Ein Monsieur von über 90 Jahren, der leicht humpelnd über die Brücke geht. Ich habe Angst, dass diese alte Brücke zerstört und durch Beton ersetzt worden ist. Ich wage es nicht, die Orte meiner Jugend aufzusuchen.

Das Gespräch führte Christine Velan.

Quelle: Berliner Zeitung, Magazin 15./16. Mai 2004

Das kranke Spiel mit der Sehnsucht – Interview – Berliner Zeitung

Mit einem Enthüllungsroman greift der Pariser Schriftsteller Frédéric Beigbeder die Werbeindustrie an, das Buch wurde zum Bestseller. Ein Gespräch

Monsieur Beigbeder, Octave, der Antiheld Ihres Insiderromans über die Werbeindustrie « Neununddreißigneunzig » sagt: « Ich schreibe dieses Buch, um mich feuern zu lassen. » Octave ist es nicht gelungen, Ihnen schon. Ja, bei mir hat es geklappt. Es hat zu gut geklappt. Ich wollte mich feuern lassen und eine hohe Abfindung kassieren. Und dann habe ich nicht einen Franc bekommen. Jetzt prozessiere ich gegen meinen ehemaligen Arbeitgeber, den französischen Ableger der US-Agentur « Young & Rubicam ». Sollte ich Kohle kriegen, möchte ich sie Organisationen geben, die gegen Werbung arbeiten. Es wäre doch witzig, wenn die größte Agentur Amerikas den Kampf gegen Werbung finanziert. Mein Buch war ein Bestseller in Frankreich, ich brauche kein Geld mehr. Erst mit Ihrem Enthüllungsroman haben Sie den Bruch mit der Werbebranche vollzogen. Wären Sie auch freiwillig gegangen, wenn man Sie nicht vor die Tür gesetzt hätte? Ich wäre auf keinen Fall mehr geblieben, auch wenn man mich nicht gefeuert hätte. Im Roman ist das anders. Octave ist schwach, krank und schizophren. Er hat nicht den Mut zu gehen. Ich finde es witzig, dass er alles Mögliche versucht, um rausgeschmissen zu werden. Selbst als er mit seinem aus der verkoksten Nase fließenden Blut den Toilettenspiegel des Auftraggebers Danone beschmiert, funktioniert es nicht. Am Ende wird stattdessen sein Gehalt erhöht und er zum Chef befördert. Wie haben Sie mögliche Reaktionen der Branche auf Ihren « Hochverrat » eingeschätzt? Ehrlich gesagt, habe ich nicht damit gerechnet, gefeuert zu werden. Wenn meine Arbeitgeber auf den Beruf bezogen intelligent gewesen wären, hätten sie natürlich sagen müssen: « Haha, das ist sehr komisch, danke Frédéric, du bist wunderbar. Du bekommst ein noch höheres Gehalt. » Doch sie haben wie Menschen reagiert. Ihre Kritik richtet sich hauptsächlich gegen Danone. Mein früherer Arbeitgeber hatte wegen dieses Kunden große Angst. Wenn man derzeitige Boykottaktionen gegen den Konzern in Frankreich betrachtet, war ich eine Art Vorbote. Das Verhalten von Danone kannte ich nur aus Werbekonferenzen. Ich dachte nicht, dass den eigenen Angestellten gegenüber der gleiche Zynismus, die gleiche Verachtung herrschen würde, unglaubliche Gewinne anzukündigen und gleichzeitig Menschen zu entlassen. Ich betone jetzt « Danone ». Mein Verlag Grasset hatte mich aus Rechtsgründen gebeten, den Originalnamen im Manuskript zu verändern. To protect the guilty. Andere Markennamen wie Nestlé und Nike behielt ich bei. Musste Ihr Verlag nicht mit Klagen von multinationalen Konzernen rechnen? Mein Verleger hat darauf verzichtet, « Neununddreißigneunzig » von einem Rechtsanwalt prüfen zu lassen. Er meinte, sonst müsste man alles neu schreiben. Das ist doch Wahnsinn. Wie soll man heute die Wahrheit sagen, ohne einen Prozess am Hals zu haben oder zumindest zu riskieren? Die Literatur kann die Realität, die wir täglich erfahren, nicht mehr beschreiben. Heute unterliegt ein Schriftsteller fast mehr als früher der Zensur. Man kann über Marken und Unternehmen nicht mehr sprechen. Worüber soll man dann schreiben? Verrückt ist, dass Unternehmen und Marken hingegen das Recht bleibt, sich auszudrücken. Es gibt doch weiterhin Foren, wo Marken und Unternehmen kritisiert werden können. In Frankreich sind Journalisten nicht sehr mutig. Da Fernsehen und Printmedien von der Werbung finanziert werden, wollen alle ihre Budgets nicht verlieren. Nur in seltenen Wirtschaftssendungen übt man vereinzelt Kritik. Vor etwa drei Jahren hat die Werbeagentur « Publicis » den « Figaro » gebeten, eine Journalistin zu entlassen, weil sie den Agenturchef kritisiert hatte. Die Zeitung zog es vor, sich ihrer zu entledigen, denn das Werbebudget lag in Millionenhöhe. Wenn Sie zehn Jahre lang in der Werbung gearbeitet haben, müssen Sie zumindest am Anfang Gefallen daran gefunden haben. Sicher. Mit 24 Jahren kam ich eher zufällig in die Werbung. Ich hatte Politikwissenschaft studiert. Einem Agenturchef hatte mein erster Roman « Erinnerungen eines verstörten jungen Mannes » gefallen, und er schlug mir vor, für ihn zu arbeiten. Was gefiel Ihnen konkret? Die Kohle. Wenn man eine Kampagne herausgebracht hat, die beachtet wird, wechselt man die Agentur und verdient 8 000 Mark monatlich, und nach acht oder zehn Jahren kommt man auf 15 000 Mark. Reisen, Glamour, schöne Mädchen, auch große Fotografen und Filmemacher zu treffen, das alles gefiel mir. Doch schnell wurde mir bewusst, dass Auftraggeber potenzielle Käufer für bescheuert halten. Ich dachte, nein, der ist ein Idiot, der nächste wird besser drauf sein. Und der nächste sagte das Gleiche: « Die Hausfrau ist dumm, man muss ihr Scheiße vorsetzen, wir werden deine Idee nicht nehmen. Ich bin derjenige, der zahlt, also habe ich Recht. » Diese Haltung war die Regel. So habe ich hauptsächlich für den Mülleimer gearbeitet. Wann haben Sie angefangen, sich von der Werbewelt innerlich zu distanzieren? Schon nach zwei, drei, vier Jahren. Erst dachte ich, es sei ein Problem der Agentur, und wechselte. Die letzten fünf Jahre, die ich bei « Young & Rubicam » blieb, war ich total angewidert. Ich hätte wie viele Kreative werden können: zynisch, resigniert, blasiert, den ganzen Tag Joints rauchend und Koks sniffend. Die denken nur ans Gehalt und leiden unter Magengeschwüren. Da ich schon vier Bücher geschrieben hatte, fing ich 1997 an, Aufzeichnungen zu machen und dachte, vielleicht ist das der Ausweg. Als ich Michel Houellebecq kennen lernte und ihm von dem Werbekram erzählte, hat er gesagt: « Du bist ja blöd, warum schreibst du nicht einen Roman darüber? Die Werbung ist das wahre Machtzentrum heute. » Durch langjährige Berufserfahrung verfügen Sie über das Wissen, um Mechanismen und Codes der Werbewelt enthüllen zu können. Ich habe Berufsgeheimnisse verraten, die man nur kennt, wenn man einer ihrer Sklaven war. Das hat die Branche am meisten schockiert. Werbung zu kritisieren ist nichts Neues, schon in den 60er-Jahren wurde das gemacht. Ich übe Kritik, indem ich Arbeits- und Herstellungsvorgänge enthülle: sinn- und endlose Meetings mit größenwahnsinnigen Kreativen und rassistischen Auftraggebern, überteuerte Dreharbeiten, überflüssige Motivationsseminare. Mit den zehn Geboten des perfekten Kreativen, die ich aufstelle, erfahren Kunden von Werbeagenturen, wie sie beschissen werden. Das hat ihnen missfallen. Mit Nazis verglichen zu werden natürlich auch. Sie setzen die Werbeindustrie mit den Nationalsozialisten gleich, schreiben, Industrielle seien fast bereit, Viehwaggons wieder einzusetzen, damit Konsumenten ihre Produkte fressen. Ist das nicht äußerst spekulativ? Ich übertreibe. Es ist Octave, der von Nazis besessen ist. Wenn er ein Gebäude betritt, stellt er sich vor, Albert Speer habe es entworfen. Wenn er muskulöse Männer in Miami sieht, denkt er an Skulpturen von Arno Breker. Er hebt ständig ab, denn er nimmt täglich vier Gramm Koks. Und Sie, was denken Sie? Mir ist wichtig, diese Assoziationen Octave zuzuschreiben. Es entspricht nicht ganz dem, was ich denke. Das sagen Schriftsteller, wenn sie unangenehmen Fragen entkommen wollen. Aber wahr ist doch, dass wir in einem Werbe-Totalitarismus leben. Ein diktatorischer Diskurs definiert sich als Diskurs, der keine Antwort hat. Die Werbung kauft das Recht, sich auszudrücken: Sie bezahlt dafür Werberaum in Straßen, Zeitschriften und im Fernsehen. Und wir können darauf nicht antworten. In dieser Konstellation sehe ich eine Art von Faschismus. Ein weiterer Aspekt der Werbung ist, wie sie in der Geschichte wirksam sowohl von Kommunisten in der russischen Revolution als auch von Nazis zu Propagandazwecken benutzt wurde. Ich finde es wichtig, an die nicht zu leugnenden historischen Tatsachen zu erinnern. Werbung ist nicht leicht, frivol und cool. Millionen Menschen zu manipulieren, bleibt brutal, mit ihren Sehnsüchten zu spielen, macht krank. Wie beurteilen Sie bei der Vorherrschaft von Marken multinationaler Konzerne unseren Demokratiebegriff? Die Politiker haben die Macht der Wirtschaft überlassen. Wir können unsere Wahlzettel zerreißen, sie sind nichts mehr wert. Bill Gates Vermögen entspricht dem Bruttosozialprodukt Portugals, der 168 Milliarden Dollar Umsatz von General Motors dem Dänemarks. Marken sind so reich wie Länder. Wenn man paranoid ist, was bei mir der Fall ist, kann man sich vorstellen, dass General Motors eine Armee aufbauen, Gesetze aufstellen und Land kaufen kann, indem sich GM-Bewohner niederlassen. Schließlich gab es schon Unternehmen, die ganze Dörfer besaßen. Eines Tages werden wir nicht mehr Länder, sondern Marken bewohnen, Mac Donaldianer und Microsofties sein. Wie schätzen Sie die so genannte « Privatisierung der Welt » ein, wenn man bedenkt, dass Herbert Marcuse 1964 es noch als Sakrileg erachtete, Bach im Supermarkt zu spielen und heute selbst schon der Name « Bach » in Leipzig geschützt ist. Unsere Wirklichkeit wird von Marken aufgekauft. Die Sprache zum Beispiel, die jedem von uns gehören sollte, wird immer mehr privatisiert. Nestlé hat sich das Wort « Glück » als Markennamen schützen lassen, Pepsi gehört das Wort « blau ». Vor kurzem hat ein Comic-Zeichner die Stadt Dijon abbilden wollen. Da er die Realität gezeichnet hatte, war neben Kiosken und Autos auch ein Werbeplakat mit Mickeymouse vom Pariser Disneyland zu sehen. Disney hat mit Erfolg gegen ihn prozessiert, um die Mickeymouse-Darstellung zu verbieten. Täglich gibt es jetzt solche Rechtsstreitigkeiten. Ihrem Roman stellen Sie zwar ein Zitat von Rainer Werner Fassbinder voran, « Was man nicht verändern kann, sollte man zumindest beschreiben », gleichzeitig deuten Sie Möglichkeiten zu Veränderungen an. Die echte Macht liegt im Konsum: eher in der Kreditkarte als im Wahlzettel. Das Bemühen des Einzelnen ist jetzt gefragt, Produkte bewusst auszuwählen und Marken zu bestrafen, die uns in ihren Werbekampagnen sexistisch, rassistisch oder einfach nur dumm erscheinen. Man sollte ein Notizheft bei sich tragen, um diese Marken zu notieren und nicht mehr zu kaufen. Ratgeber erscheinen inzwischen, die den Marken, wenn sie ethisch korrekt sind, Sterne wie im Guide Michelin verleihen. Wir müssen Marken wie Nike boykottieren, wenn man mitkriegt, dass sie Kinder in Indonesien ausbeuten. Diese Form von Protest wird in Amerika und auch in Deutschland schon mehr als in Frankreich betrieben. Bei der Erika-Ölpest hat sich « Total » nach dem Beginn von Protesten entschieden, für die Reinigung der Strände zu zahlen. Die Vorstandsvorsitzenden müssen jetzt aufpassen, wenn sie Entscheidungen treffen, denn Konsumenten fangen an, Aktionen und Prozesse, wie beispielsweise in Amerika gegen die Tabakindustrie, anzuzetteln. Käufer sind nicht mehr bescheuert, sie reagieren. Sie selbst behaupten, das System habe sein Ziel erreicht, denn sogar Ungehorsam sei zu einer Form von Gehorsam geworden. Haben Sie mit Ihrer medial äußerst präsenten Kritik nicht den Eindruck, lediglich zur Unterhaltung und Auflockerung des verfestigten Systems beizutragen? Deshalb habe ich mich entschlossen, in die Illegalität zu gehen und mit Organisationen, die Werbung bekämpfen, zusammen Aktionen durchzuführen. Den Anti-Werbe-Aktivisten gehören auch ehemalige Werbeleute an, die ihr Wissen über Werbung einsetzen, um es als Waffe gegen diese selbst zu richten. Heute haben wir zu Baudelaires 180. Geburtstag drei Werbeplakate vor dessen Haus beschmiert, in dem gerade Luxusappartements entstehen. Die Tafel, die darauf hinwies, wo Baudelaire geboren wurde, fehlt jetzt. Die Stadt Paris vermietet hingegen riesige Werbeflächen vor seinem Geburtshaus. Wir müssten es schaffen, im Fernsehen Werbung gegen Werbung zu zeigen. Werbespots, die sich über Autos und Alkohol, über Mode und Mannequins mokieren. Ich hatte einen Spot für die « Casseurs de Pub » konzipiert, in dem die Erde Unmengen an Autos aß, schwitzte und schwitzte, bis sie starb. Die französische Medienaufsichtsbehörde weigerte sich, diesen Spot zum « Buy-nothing-Day », der anregen sollte, nichts zu kaufen, zu zeigen. Das sei eine politische Werbung und somit verboten. Für Ihre Kampagne haben Sie den Buchpreis als Romantitel gewählt. Mein Buch ist eine Ware, der Preis ist der Titel: Neununddreißigneunzig. Darüber steht mein Name. Ich bin käuflich. Um unsere Zivilisation des Geldes zu denunzieren, ist es gut, gleich den Preis auf ein Kunstwerk zu kleben. Ich halte der Branche den Spiegel vor. Der Preis bestimmt heute den Wert der Dinge und nicht umgekehrt. Der Erfolg meines Buches führt jetzt auch noch vor, wie gefährlich Werbung ist. Was Ihre Glaubwürdigkeit anbelangt, setzen Sie sich nicht einem starken Paradoxon aus, indem Sie sich als selbst geschaffenes Medienprodukt am System bereichern, das Sie kritisieren? Alle Kritik ist im System integriert. Was soll man machen, wenn man unzufrieden ist? Sich beispielhaft verhalten, sein Maul halten, abhauen und unwirksam bleiben? Ich kritisiere und verdiene lauter Kohle damit. Es stimmt, ich bin nicht rein und makellos. Ich bin widersprüchlich und habe gerne schmutzige Hände. An der Pop-Art mag ich die Idee, dass Warhol von der Konservenbüchse gleichzeitig fasziniert und abgestoßen ist. Er präzisiert niemals, was er mag oder nicht mag. Er sagt nur: « Ich will Werbung im Museum zeigen. » Mein Vorgehen ist von der Popliteratur nicht weit entfernt. Man beschreibt die Realität, in der wir leben. Bilder, Marken, Werbung und Fernsehen sind zu unserer Welt geworden. Mode und Luxus ziehen mich an. Gleichzeitig sehe ich klar, dass es ekelhaft ist. Der Rest des Planeten krepiert. Und doch faszinieren mich Glamour und Pailletten. Gerade als ehemaliger Werbeexperte, der mit der Werbung abrechnet, könnten Sie falsche Glücksversprechen jener Bilderwelt doch entlarven und müssten dem Schein nicht erliegen. Ich gebe nicht vor, ein Musterbeispiel zu sein. (Er ist irritiert, springt auf, holt eine Colaflasche, setzt sich wieder und schenkt sich ein. Wie in einem Werbespot nimmt er eine Pose ein und hält seinen Plastikbecher sehr hoch.) So, ich habe mir ein Glas Coca Cola eingeschenkt, ich leugne nicht, dass diese Marke pro Stunde weltweit eine Million Dosen verkauft, dass sie Phosphor- und Zitronensäure ins Produkt gibt, um die Illusion zu schaffen, den Durst zu löschen. Es gibt Leute, die Coca-Cola-süchtig sind und täglich zwei Liter trinken. Ich sage das alles und trinke jetzt dennoch einen Schluck, weil ich Coca Cola liebe. Das nervt die Leute, deshalb auch mein Buch, weil es sehr brutal gegen Werbung ist. Dabei sind Titel, Verpackung und Ich ein Medienprodukt. All diese Widersprüche lebt jeder in den Industrieländern. Die meisten Leute sind so wie ich. Sie kritisieren den ganzen Tag den Konsumterror. Und wenn sie im Stau stecken, schimpfen sie auf Autos und sitzen trotzdem in einem. Ihr Antiheld Octave zeichnet ein Porträt seiner selbst, indem er Unmengen an Markenartikeln in dem Sinne von « Ich besitze, so bin ich » auflistet. Als ironische Ergänzung fügt er noch den Besitz eines Autogramms des französischen Topmodels Laetitia Casta hinzu. Was würden Sie aufführen? Definieren Sie sich auch über Ihr Konsumverhalten? Nein, mich interessieren nur Bücher. Ich würde eine Buchliste statt Luxusartikel aufzählen. Für mich sind Bücher letzte Orte der Freiheit. Keiner kauft ihre Seiten, um dort Produkte zu bewerben. Als Schriftsteller kann man sich ausdrücken, wie man denkt. Das bleibt ein Ort, der heute eine Art von Mission hat, eine « Mission Impossible »: Wort gegen Bild, Ruhe gegen Krach, Kunst gegen Kommerz. Auf Ihrem Kühlschrank liegt tatsächlich das im Roman erwähnte Autogramm von Laetitia Casta. Sie schrieb darauf Ihren legendären Werbespruch für den Wonderbra « Sehen Sie mir in die Augen. In die Augen, habe ich gesagt! » Ich traf sie mal zufällig eines Abends. Wissen Sie, der Konsum hat die Religion, Markenartikel haben Gott ersetzt. Leute gehen geradezu mit Andacht in einen Laden, als ob sie einem mystischen Orden zugehörten. Auf der Suche nach Glück kaufen sie diese angebeteten Dinge in einer Art Ritus oder Messe. In Bezug auf Marcuse erscheint es mir nicht als Zufall, dass Bach zuvor in Kirchen erklang und heute in Supermärkten gespielt wird. Michel Houellebecq und Sie beschreiben beide den Untergang unserer Zivilisation. Die « traditionelle Metaphysik » wird, so Houellebecq, von der Wissenschaft, Ihnen zufolge von der Werbung ersetzt. Wie sehen Sie sich in Bezug auf ihren Freund Houellebecq? Michel mag Loser. Er zeigt gerne, dass unsere Gesellschaft Verlierer fabriziert, die kein Recht auf Sex, die keinen Zugang zum Komfort haben. Sie langweilen sich, leiden, sind ausgeschlossen und unglücklich. Ich interessiere mich eher für Winner, die Geld, Macht und Einfluss haben. Ich sage, es lohnt sich nicht, sich anzustrengen, einen Super-Schlitten zu haben und mit Fotomodellen zu schlafen. Man ist genauso unglücklich. Michel und ich beschreiben das gleiche Unglück. Nehmen Sie nicht hinsichtlich der 68er-Generation divergierende Positionen ein? Ich stimme mit Michel überein, dass der Libertinismus, die sexuelle Befreiung, dem Liberalismus, den Weg bereitet hat, wo der Mensch auf ein Produkt, auf einen Preis reduziert wurde. Er hat Recht, wenn er behauptet, Freiheit endet bei freiheitlich. Im Gegensatz zu Michel bedaure ich, dass die 68er-Revolution nicht wirklich stattgefunden hat. Die Forderungen der 68er waren den meinigen nicht unähnlich: die Infragestellung der Konsumgesellschaft und des unbegrenzten Wirtschaftswachstums. Viele Alt-68er sagen uns heute: « Hört mal, eure kleine Revolte haben wir schon versucht. Es hat nicht geklappt, es lohnt sich nicht. » Und die nächsten vierzig Jahre sind sie unbeweglich. Ihr Misserfolg hat meiner Generation geschadet. Deshalb nerven mich die 68er, sie sind total entmutigt und entmutigend. Gibt es für Sie noch Utopien? Nach dem Tod Gottes, nach dem Tod der Utopien gibt es keine andere Hoffnung als Geld und Konsum. Der Mauerfall war ein wichtiges Ereignis, aber jetzt fehlt uns das Gegenbeispiel. Zur derzeitigen Welt haben wir keine Alternative. Wir sollten uns wirklich fragen, ob es nicht doch eine Möglichkeit zur Veränderung gibt. Sobald man das Wort Veränderung nur ausspricht, sagt jeder sofort: Du bist ein Träumer, Idealist und Utopist. Die einzige Hoffnung, die den Leuten bleibt, ist, die gleiche Nase, den gleichen Hintern wie jeder zu haben. Die Schönheitschirurgie ist die einzige Ideologie, die geblieben ist. Werbeslogans sind vielleicht die Aphorismen von heute. Meinen Sie, dass Sie deshalb häufig mit dem Selbstdarsteller des viktorianischen Zeitalters, Oscar Wilde, verglichen werden? Oscar Wilde ist mein Idol. Werbung verkauft heute Aphorismen. Vielleicht wäre Wilde jetzt Werbetexter. Gleichzeitig hätte er nicht die Disziplin aufgebracht, sich in den Dienst der Wirtschaft zu stellen. Vielleicht hätte er « Neununddreißigneunzig » geschrieben. Ich mag Autoren wie Wilde, Proust oder Voltaire. Ihre Gemeinsamkeit liegt darin, reich, mondän, snobistisch und Teil der Bourgeoisie zu sein. Das hinderte sie nicht daran, die Welt aufs Schärfste zu kritisieren, der sie selbst angehörten. Mir gefällt, dass sie Spione waren. Vielleicht waren sie die ersten Bobos. Ich bin so ein Bourgeois Bohemien. Wenn man Ihnen vorschlüge, in die Werbung zurückzukehren, nähmen Sie ein Angebot, das Ihren gestiegenen Marktwert berücksichtigen würde, an? Niemals. Ich werde Journalist und Schriftsteller bleiben. Das Fernsehen, wo ich als Literaturkritiker arbeite, ist wieder ein sehr unsympathisches Milieu, eine Welt voller Haie und Krabben. Eines Tages würde ich gerne auch darüber schreiben. Deshalb bleibe ich bei meiner Strategie des Undercover-Agenten. Ich muss gestehen, es ist äußerst angenehm, gut bezahlt zu sein. Einer der für mich größten amerikanischen Schriftsteller, J.D. Salinger, der seit fünfzig Jahren in seiner Hütte am Waldrand lebt und mit niemandem spricht, ist mutiger. Es ist immer das Gleiche. Ich sage, ich bin gegen das Bild, und gleichzeitig bin ich drin. Warum? Um über Bücher zu reden. Ich weiß nicht, ob ich Recht habe. Vielleicht werde ich mich in ein Stück Seife verwandeln. Aber ich bin eine Seife, die zweifelt. Das ist schon nicht schlecht.

Die Mafia der heiligen Krieger

Frankreichs Starphilosoph Bernard-Henri Lévy über den Mord an dem Reporter Daniel Pearl, den Djihad als Business und die Verstrickungen der Atommacht Pakistan
Im Pariser Grandhotel Montalembert bekommt eine Dame mit, dass Bernard-Henri Lévy erwartet wird. Unter dem Akronym BHL kennt ihn in Frankreich jedes Kind. Die Frau im Chanel-Twinset beginnt zu schwärmen: « Er ist schön. Er ist intelligent. Er hat eine junge Frau. Und er ist reich. Er hat wirklich alles! Aber achten Sie bei den Fotos darauf, dass er sein Hemd zuknöpft. Er lässt es immer viel zu weit offen. Ich bin eher eine verklemmte Bourgeoise. Er wird doch nicht entführt worden sein? Schade, dass ich sein neues Buch nicht dabei habe, sonst könnte er es signieren. ,Wer hat Daniel Pearl ermordet? ist großartig. »

Bernard-Henri Lévy im Pariser Grandhotel Montalembert
Hans-Joachim Richter

Auftritt von BHL himself.

Vanity Fair widmete Ihnen ein achtseitiges Porträt, in dem es heißt, obwohl Sie nicht an Gott glaubten und den Menschen für eine gescheiterte Spezies hielten, seien Sie ein zutiefst glücklicher Mann.

Ich habe zwar keine Ahnung, wie ich auf andere wirke, aber ich stecke voller Lebenslust und handle überhaupt nicht aus einem Ressentiment heraus. Das ist sicher merkwürdig für jemanden, der den Großteil seines Lebens damit verbringt, das Grauen der unterschiedlichsten Kriege zu sehen und verstehen zu wollen. Ich bin furchtbar pessimistisch, aber gleichzeitig nicht traurig.

Worauf beruht Ihr Pessimismus?

Man kann nicht pessimistisch sein, wenn man an den Krieg denkt, den die Terroristen den Demokraten erklärt haben. Fanatismus und Demokratiehass sind die bedrückenden Tendenzen unserer Zeit. Nach dem historischen und dem roten Faschismus sind wir mit diesem Neofaschismus konfrontiert. Aber es gibt genügend Kräfte, sich dem entgegenzustellen, insbesondere in der muslimischen Welt, als dass wir die Arme hängen lassen sollten.

Sie suchten 1971 zum ersten Mal ein Kriegsgebiet auf: In Bangladesch ergriffen Sie für die Bengalen Partei, als diese sich von Pakistan abspalten wollten. Warum bereisen Sie seit nun über 30 Jahren die Kriegsschauplätze der Welt?

Das ist mein Beruf, die Rolle eines Intellektuellen.

Aber Sie haben diesen Beruf ausgewählt.

Sicher. Die Aufgabe eines Intellektuellen, der von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, liegt darin, dort hinzugehen, wofür sich der Westen und die Medien nicht zwangsläufig interessieren. Ich machte zum Beispiel vor zwei Jahren auf die kriegerischen Auseinandersetzungen im Südsudan aufmerksam, in denen sich Menschen ohne Sinn und Ziel abschlachteten. In Deutschland verfolgt Hans Christoph Buch mit seinen Reisen nach Westafrika und Lateinamerika den gleichen Ansatz.

Was drängt Sie dazu, immer wieder dorthin zu gehen?

Ich sehe nicht jeden Morgen in den Spiegel und frage mich, warum gehe ich zu den Nubas? Sicherlich gibt es Gründe dafür, die im Verborgenen liegen. Aber ich frage mich nicht, warum ich die Dinge tue, ich mache sie.

Sind Sie ein Gegner der Selbstreflexion?

Ich war weder in Psychoanalyse, noch schreibe ich introspektive Romane. Ich bin nicht davon besessen, meine eigenen seelischen Vorgänge zum Zweck psychologischer Selbsterkenntnis zu beobachten. Mein Fall interessiert mich nicht besonders, der von Daniel Pearl umso mehr.

Daniel Pearl, der Südostasien-Korrespondent des Wall Street Journal, wurde im Januar vergangenen Jahres von islamischen Fanatikern in Karatschi entführt und eine Woche später vor laufender Videokamera enthauptet. Für Ihr jüngstes Buch « Wer hat Daniel Pearl ermordet? » haben Sie ein Jahr lang in Pakistan, Indien, Amerika und Bosnien die Spuren des Opfers und seines Mörders verfolgt. Warum haben Sie dieses Verbrechen und dessen Verstrickungen aufdecken wollen?

Ich folgte einer Art innerem Zwang. In dem Augenblick, als ich von Pearls Tod erfuhr, hatte ich das irrationale, unerklärbare Gefühl von einem Mikro-World-Trade-Center. Selbst wenn es auf der einen Seite dreitausend Tote und auf der anderen Seite einen einzigen Toten gab, war es für mich ein vergleichbares Ereignis. Symbolisch gesehen hatte es die gleiche Kraft, die gleiche Schockwirkung.

Was hat Sie am meisten schockiert?

Die Todesszene. Ich hatte den Eindruck, dass wir auf einmal mit etwas Neuem konfrontiert sind. Diese Inszenierung: die Hinrichtung zu filmen, das Verbrechen nicht zu verstecken, sondern auszustellen. Die islamistischen Entführer haben dieses Videoband an das amerikanische Konsulat von Karatschi geschickt. Ich sah darin eine Botschaft an die westliche Welt: « Seht her, wie wir euch Amerikaner, Juden und Europäer in Zukunft behandeln werden. » In Pakistan kursierte dieses Band zum Verkauf und in manchen Moscheen diente es zur Propaganda.

Spielt es eine Rolle, dass Sie selbst Jude sind und im muslimischen Algerien geboren wurden?

Die Notwendigkeit, die ich sofort empfunden habe, diese Recherche machen zu müssen, geht über meine eigene Biografie hinaus. Aber für mich als Jude ist es nicht Nichts, festzustellen, dass ein Mann zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch wie ein Tier abgeschlachtet werden kann, weil seine Eltern Juden sind. Daniel Pearls letzte Worte auf dem Video lauteten: « My father is a Jew, my mother is a Jew, I m a Jew! »

Samuel P. Huntington stellte die These auf, die zukünftige Weltpolitik werde nicht mehr durch ideologische oder wirtschaftliche Auseinandersetzungen, sondern durch den Kampf der großen Kulturkreise bestimmt. Sehen Sie Pearl in diesem Sinne als Symbolfigur der Konflikte, die uns im 21. Jahrhundert erwarten werden?

Nein. Ich glaube sowieso nicht an Huntingtons « Kampf der Kulturen », dass der Westen mit den nicht-westlichen Kulturkreisen im Krieg steht. Im Westen gibt es genauso Demokraten und Faschisten wie in nicht-westlichen Kulturkreisen Demokraten und Fundamentalisten. Die Auseinandersetzung, um die es wirklich geht, findet auf beiden Seiten statt: Es ist der Kampf innerhalb des Islams zwischen moderaten und radikalen Muslimen. Die Kluft zwischen Moderaten und Radikalen ist viel größer als die zwischen dem Westen und den moderaten Muslimen.

Sie haben bei Ihren Nachforschungen entdeckt, dass sowohl Daniel Pearl als auch sein zukünftiger Mörder Omar Sheikh zur gleichen Zeit Huntingtons « Clash of Civilizations » lasen.

Als progressiver linker Jude und Amerikaner wies Danny diesen blödsinnigen Krieg der Kulturen von sich und glaubte weiter an den Frieden mit dem Islam. Er verabscheute die arrogante, dumme Seite Amerikas und stand anderen Kulturen stets aufgeschlossen gegenüber. Im Alter von dreißig Jahren hatte er Arabisch gelernt. Danny lehnte das prophezeite Unheil ab. Omar hingegen sah darin die Formulierung seiner eigenen Vision von der Welt, nahm den ihm versprochenen Tod an und bejubelte ihn. Man darf nicht vergessen, dass Huntingtons Theorie nicht nur die amerikanischer Ideologen, sondern auch der geheime Wunsch fanatischer Terroristen wie Bin Laden ist.

So sehr Sie sich mit Danny, dem Opfer, identifizieren, so sehr scheint Sie Omar Sheikh, der Killer bzw. Drahtzieher des Verbrechens, zu faszinieren.

Ich muss zugeben, dass mich keiner so beeindruckt wie Omar, dieser scheinbar zivilisierte, sanfte, kultivierte und feinsinnige Mann mit dieser Mischung aus Scharfsinn und Verblendung, Kultur und krimineller Brutalität.

Warum diese Faszination für die Verkörperung des Bösen?

Was ist das Böse? Seit dreißig Jahren setze ich mich mit dieser Fragestellung auseinander. Ich beschäftigte mich mit den Faschisten der 30er-Jahre und mit den Linksradikalen meiner Generation. Heute interessiert mich der radikale Islam: der zeitgenössische Nihilismus, der Wille vieler Menschen, zerstören zu wollen. Omar Sheikh ist ein Prototyp des modernen Terroristen. Nach Pakistan zu reisen ist weit und kompliziert. Aber viel weiter und viel komplizierter ist es, in den Kopf eines Djihadisten zu dringen. Was findet im Kopf des Teufels statt? Was geschieht in der Seele eines Menschen, der eiskalt das Böse will und das schlimmste aller Verbrechen begeht? Wie funktioniert das Teuflische heute? Wer sind diese modernen Besessenen, die denken, alles sei erlaubt, nicht weil es keinen Gott gibt, sondern gerade weil es ihn gibt und seine Existenz sie in den Wahnsinn treibt?

Haben Sie Antworten darauf gefunden?

Wir stehen einem enormen Phänomen gegenüber, das wir nicht eindeutig erklären können. Eines wissen wir: Der radikale Terrorismus ist das Ergebnis der Begegnung des Islams mit dem Westen. Aber warum sind gerade jene jungen Muslime, die mit der westlichen Kultur in Berührung kommen, diejenigen, die plötzlich dem schlimmsten Fanatismus verfallen? Was passiert bei diesem Zusammenstoß? Wovon hängt es ab, ob die Begegnung des Islams mit dem Westen gelingt oder scheitert? Keiner der großen Djihadisten kam aus arabischen oder pakistanischen Madrassen, Religionsseminaren. Khalid Sheikh Mohammed, der Vertraute von Bin Laden, den die Pakistanis im Februar dieses Jahres verhafteten, ging in den Vereinigten Staaten zur Schule. Mohammed Atta kam aus Hamburg. Auch der Drahtzieher von Pearls Entführung und Ermordung, Omar Sheikh, besuchte die London School of Economics. Die meisten stammen aus gehobenen Verhältnissen und absolvierten angesehene Studiengänge in europäischen Hauptstädten. Das bedeutet, dass ihre Überzeugung weder auf Hoffnungslosigkeit noch auf Armut zurückzuführen ist.

Wie erklären Sie sich im Falle von Omar Sheikh den Wandel vom netten Engländer zum radikalen Islamisten?

Nihilismus, Ressentiments, Racheabsichten und ein fehlendes Zugehörigkeitsgefühl: Er, als Brite pakistanischer Abstammung, erlebte das Zusammentreffen dieser zwei Kulturen in sich nicht mit Stolz als Chance, sondern schmerzvoll als Verhängnis. Will man den Moment datieren, der Omar Sheikhs Leben umkrempelte, stößt man auf den Bosnienkrieg. Dieses Ereignis brachte den moderaten Muslim dazu, seinen islamischen Hintergrund und seine Kontakte zum Westen als Gegensatz zu empfinden. In seinem Gefängnistagebuch steht, dass die Erinnerung an ein vergewaltigtes Mädchen in diesem Krieg ihn noch Jahre später bis ins Mark schockierte. Er bezog sich dabei auf ein Archivbild in einem von ihm gesehenen Film, das eine dreizehnjährige verstümmelte Bosnierin zeigt, die von serbischen Milizen vergewaltigt und ermordet wird. Auf einer Studienreise nach Bosnien, die von muslimischen Studenten organisiert wurde, entdeckte Omar Sheikh dann für sich den islamistischen Fundamentalismus. Dabei ist er kein frommer, betender Gläubiger.

Sie führen in Ihrem Buch an, allein die Vorstellung, nach britischem Recht und nicht nach den Gesetzen des Korans, der Scharia, verurteilt zu werden, habe Omar Sheikh bei seinem Prozess in Pakistan außer sich geraten lassen. Können Sie belegen, inwiefern dieser fanatische Djihadkämpfer kein guter Muslim sein soll?

Ja! Für alle, die ihn kennen und mit denen ich sprach, wäre ein frommer Omar eine ziemliche Überraschung. Asad Khan wunderte es, ihn auf der Bosnienreise so selten beten zu sehen. Rhys Patridge erlebte, wie unverfroren er den koranischen Status des « Reisenden » ausnutzte, um sich um seine Gebete zu drücken. Und Peter Gees, mit dem er zwei Jahre lang dieselbe Gefängniszelle teilte, sagte mir: « Er glaubt an die Unsterblichkeit der Seele wie daran, dass ein Ei ein Ei ist. » Omar Sheikh ist ein schlechter Muslim. Ihm geht es nicht um den religiösen Glauben, sondern um Ruhm, Ehre und vor allem um die Herrschaft über andere. Der Djihad ist eine Mafia.

Ist das nicht eine äußerst spekulative Formulierung?

Die einfachen Soldaten des heiligen Krieges sind sicherlich von einem starken Glauben geleitet. Ihre zynischen, skrupellosen Chefs hingegen handeln aus Machtgründen heraus, um sich selbst zu bereichern. Oft sind es einfach nur Gangster. Man nimmt es viel zu sehr für bare Münze, wie sie sich selbst als Gottesfanatiker darstellen. Im Westen haben wir – wie die arabische Welt – das Bild von einem Bin Laden, der als saudischer Milliardär seinen Reichtum auf dem Altar der arabischen Vergeltung geopfert hat. Das vertuscht vollkommen die Tatsache, dass El Kaida eine Maschine ist, ein gigantisches, den gesamten Erdball umspannendes Netz, um Geld zu machen. Dazu zählen Schutzgelderpressungen, Steuern auf Glücksspiele und auf den afghanischen Drogenhandel sowie ausgeklügelte, fast nicht nachweisbare Finanzbetrügereien, die auf Kreditkartenfälschungen beruhen.

Haben Sie für Ihre Hypothese, dass Bin Laden sich vorwiegend bereichern will, Belege?

Inzwischen ist allgemein bekannt, dass Börsenmakler, die mit Bin Laden in Verbindung standen, durch Put-Optionen auf Aktien der United-Airlines und American-Airlines den Anschlag vom 11. September finanziert haben. Die Vorwegnahme des Ereignisses, seine Virtualität, hat das Ereignis selbst, seine Realisierung, erst ermöglicht. Diese vollkommen neue Erscheinungsform der politischen Kriminalität kommentierte Bin Laden am 28. September 2001 in einer Tageszeitung in Karatschi: « El Kaida verfügt über viele modern gesinnte, gut ausgebildete junge Menschen, die die Schwachstellen im westlichen Finanzsystem kennen und auszunutzen wissen. » Damit ist alles gesagt.

Was haben Sie in Dubai, der arabischen Hauptstadt des Geldes, entdeckt?

Ich fand heraus, dass Anschläge von El-Kaida-Kämpfern, zum Beispiel gegen indische Armeeoffiziere in Kaschmir, vergütet werden. Der Preis variiert je nach Dienstgrad des Opfers. In Dubai sah ich wechselstubenartige Anlaufstellen für zukünftige Selbstmordattentäter, in denen sie ihre Bewerbungsunterlagen abgeben können. Der Selbstmordattentäter hat einen Preis, der im Voraus zwischen ihm, der Organisation und der Familie ausgehandelt wird. Vertraglich wird festgelegt, welche Summe die Hinterbliebenen monatlich, lebenslang zur Sicherung halbwegs akzeptabler Lebensbedingungen erhalten werden. Wenn der Vertrag gut verhandelt wird, ist er an den Inflationsindex gekoppelt, beziehungsweise in harten Devisen kalkuliert. Ich stieß auf den Fall eines afghanischen Familienvaters, der als Flüchtling in der Umgebung von Dubai lebt und nach dem Tod seiner zwei Kinder in Tora Bora 2001 eine Geldsumme erhielt, mit der er eine Metzgerei eröffnete.

Sie haben die Recherchen von Pearl im islamistischen Milieu fortgesetzt. Was haben Sie herausbekommen?

Daniel Pearl war auf der Spur von Richard Colvin Reid, jenem Mann, der am 22. Dezember 2001 mit Sprengstoff in den Turnschuhen das Flugzeug von Paris nach Miami bestieg. Pearl beging den Fehler, Omar Sheikh zu trauen, der ihm versprach, ihn zu Reids Guru zu bringen, zu Mubarak Ali Shah Gilani, dem Anführer der Terrorsekte Jamaat ul-Fuqra, die auf der Liste der terroristischen Organisationen des FBI steht. Am vereinbarten Tag wurde Pearl nicht zu Gilani gebracht, sondern entführt. Daniel Pearl ist nicht gestorben, weil ein paar Gottesfanatiker einfach durchgedreht sind. Bei seiner Ermordung handelt es sich vielmehr um ein Staatsverbrechen. Der pakistanische Präsident Pervez Musharraf sagte einmal über Daniel Pearl, er sei « over intrusive » gewesen, zu aufdringlich, und später, er habe sich leider in den Fäden des Geheimdienstes verstrickt. Pearl hatte in seinem letzten Artikel vom 24. Dezember 2001 aufgedeckt, wie Hamil Gul, der ehemalige Leiter des pakistanischen Geheimdienstes ISI, Ende August 2001 in Kabul den Islamisten Bashiruddin Mahmoud traf, der bis 1999 dem pakistanischen Kommissariat für Atomenergie vorstand. Dieser renommierte Wissenschaftler und Gründer einer Fabrik zur Herstellung von Plutonium hatte wiederum Anfang August 2001 Bin Laden in Kandahar getroffen. Pearls Artikel erregte in Amerika kein großes Aufsehen. Jedoch alarmierte er in Karatschi jene, denen nicht daran gelegen war, dass die Kontakte zwischen El Kaida, dem pakistanischen Geheimdienst und einem Atomwissenschaftler offen gelegt wurden.

Gibt es konkrete Beweise für diese Verstrickungen?

Ja, einen weiteren Fall. Mahmouds Chef, der Wissenschaftler Abdul Qadir, gewissermaßen der Oppenheimer Pakistans, der wahre Vater der am 28. Mai 1998 erstmals getesteten Bombe, ist auch ganz offiziell Mitglied der Terroristenorganisation Lashkar-e-Toiba. Diese Organisation bildet mit der Harkat den engen Kreis um El Kaida. Man muss wissen, dass Abdul Qadir von 1986 bis 1994 eine wissenschaftliche Zusammenarbeit mit dem Iran der Ajatollahs eingeleitet hat. Er begab sich auch mehrmals offiziell als Tourist nach Nordkorea, wo er, der Spezialist für die Herstellung von Plutonium, Freunde behalten hat. In Lahore und Karatschi ist es ein offenes Geheimnis, dass zwischen Pakistan, El Kaida und Nordkorea ein Tauschhandel von Know-how gegen Missiles betrieben wird.

Eine entsetzliche Vorstellung.

Ja, denn diese islamistischen Wissenschaftler betrachten die pakistanische Atombombe nicht als Besitz Pakistans, sondern der gesamten islamischen Welt, der Ummah, der Gemeinschaft der Gläubigen. Man stelle sich den Albtraum vor, den sie sich herbeisehnen! Für diese Leute wäre es kein Hochverrat, Bin Laden mit Massenvernichtungswaffen auszustatten, sondern ein Treueakt, fast ein Zeichen der Frömmigkeit.

Der pakistanische Präsident Musharraf behauptet, er habe die volle Kontrolle über die nukleare Befehlskette und über die strikte Trennung zwischen Materiallager und Abschussbasen.

Pakistan ist heute der größte Schurkenstaat der Erde. Zwischen Islamabad und Karatschi bildet sich ein veritables schwarzes Loch des internationalen Terrorismus, in dem eine Atmosphäre der Apokalypse herrscht. Man muss nicht gleich mit dem Schlimmsten rechnen und von einer Katastrophe ausgehen. Doch da die Bombe von Islamisten erfunden wurde, verfügen sie schon einmal über den Zugangscode zu den Übermittlungssystemen und den Sprengköpfen Pakistans. Die Bedrohung ist da!

Was kann dagegen unternommen werden?

Ich denke, die Amerikaner und westlichen Diplomaten irren sich, wenn sie Pakistan für einen stabilen Staat halten, den Musharraf unter Kontrolle hat. Es handelt sich wieder einmal um eine historische Fehleinschätzung. Trotz antiterroristischer Kooperationen bleibt Pakistan ein gefährliches Land. Selbst wenn seine Regierung dem Islamismus den Prozess machen will, indem sie Islamisten – am Beispiel von Omar Sheikh – zunächst zum Tode verurteilt. Wenn man die Liste der so genannten « Schurkenstaaten » von Bush junior betrachtet, fällt einem auf, dass es zufällig dieselben wie von Bush senior sind. George W. Bush ist zehn Jahre zu spät dran. Er muss seine Liste aktualisieren. Die Welt und ihre Bedrohungen haben sich verändert. Die Gefahr geht nicht mehr von Libyen, dem Iran und Irak aus, sondern von Pakistan, Saudi-Arabien, dem Jemen und Nordkorea. Die Sache drängt mehr als jemals zuvor, da wir vor der großen Herausforderung des beginnenden Jahrhunderts stehen.

Sie haben gesagt, der Kaschmirkonflikt zwischen Indien und Pakistan sei brisanter als das Nahostproblem. Warum?

Meine Äußerung soll dazu provozieren, nicht nur auf Palästina fixiert zu sein. In Europa unterliegen wir einer Art Pawlow schem Mechanismus, den Islam mit der arabischen Welt gleichzusetzen. Dabei verlieren wir den asiatischen Islam aus den Augen. Von Pakistan, Afghanistan, Indonesien und den Philippinen aus gesehen steht der palästinensische Konflikt viel weniger im Zentrum, als man es von Paris oder Berlin aus denkt. Die Turbulenzen im Inneren der muslimischen Welt kommen in Kaschmir zum Vorschein. Dort steht man mitten im Auge des Zyklons.

Wie haben Sie den Mut aufgebracht, Binori Town in Karatschi zu betreten, jenes sunnitische Religionsseminar, das Taliban-Würdenträger ausbildete und Bin Laden versteckt haben soll?

Das ist nicht Mut, da hineinzugehen. Wie soll ich sagen . ich habe dieses Jahr in einem merkwürdigen Zustand verbracht: sozusagen in Loslösung oder Abwesenheit von mir selbst mit diesem obsessionellen Willen, ans Ende dieser Geschichte zu gelangen.

Haben Angst oder Vorsicht Sie nie gebremst?

Die Angst war immer da. Binori Town ist wie ein eigenes Dorf in der Stadt, groß. Man verliert sich dort. Als ich es betrat, war mir vollkommen bewusst, dass ich der erste muslimische Fremde, noch dazu der erste Jude war, der dort eindrang. Natürlich ist dieses Gefühl nicht beruhigend und Vertrauen erweckend. Aber dass es einen bremst? Nein.

Ihr Vorgänger wurde bei seinen Recherchen ermordet. Welche Sicherheitsvorkehrungen haben Sie getroffen?

Meine Vorsichtsmaßnahmen bestanden darin, meine Aufenthalte zu zerstückeln und die Recherche nicht in einem einzigen Zeitraum durchzuführen. Ich blieb nie länger als zehn oder 15 Tage. Außerdem hatte ich das Glück, Franzose und Schriftsteller zu sein. Wenn ich Amerikaner und Journalist gewesen wäre, hätte ich Pearls Recherche nicht fortsetzen können.

Nach einer Lobeshymne auf Daniel Pearl bezeichnen Sie sich in Ihrem Buch selbst als seinen « Bruder », als « Gleichgesinnten ». Deutschsprachige Rezensionen kreideten Ihnen an, dass Sie selbstgefällig in dieser Rolle aufgingen, ihn als Marionette instrumentalisierten und sich seines Martyriums bemächtigten.

Zwischen der Hommage an Danny und mir sind im Buch bestimmt zwei Seiten. Dieser Vorwurf überrascht mich. Den Eltern von Pearl wäre es nie in den Sinn gekommen, dass ich ihren Sohn benutze und selbst zu präsent bin. Judea und Ruth Pearl verstehen mein Buch ausschließlich als Ehrerbietung an ihren Sohn und die Werte, die er verkörperte.

Le Monde pries Ihr Buch als « überzeugend und verstörend », Le Point als einen « prächtigen und Furcht erregenden Bericht » an. Le Figaro verglich Sie mit Norman Mailer und James Ellroy. Auf Grund der an « Heiligsprechung grenzenden » Berichterstattung wurde im Ausland an Ihrem Beispiel die Beziehungskorruption und Machtballung des französischen Literaturbetriebs angeprangert.

Diese Behauptung zeugt eher davon, dass sowohl die französische Presse als auch meine Situation falsch eingeschätzt werden. Wenn mich das System hier angreifen will, macht es das. Vor sechs Jahren ist die gesamte Presse über meinen Film « Der Tag und die Nacht » hergefallen, den ich mochte und noch immer sehr mag. Diese einhellig vernichtende Kritik fand ich ungerecht und hat mich sehr verletzt. Ich glaube nicht, dass mein Einfluss ausreicht, als dass ich den Zeitungen ihre Ansichten über mich diktieren könnte.

Meinen Sie, dass Ihr mondänes Image möglicherweise provoziert?

Ich bin wie ich bin. Ich stehe dazu: Ich führe ein Leben im absoluten Wohlstand. Die, die es stört, nerve ich damit. Ich entspreche vielleicht nicht dem klassischen Profil eines engagierten Intellektuellen. Aber ich werde mich nicht ändern und anfangen Theater zu spielen, um in ein bestimmtes Bild zu passen. Ich stehe vollkommen zu meinen Eigenheiten und zu meiner eigenen Wahrheit.

Ihnen wurde Narzissmus und Ich-Besessenheit vorgeworfen.

Ja, jeder Schriftsteller ist ein bisschen narzisstisch. Wenn die Kritik sagen wollte, dass ich kein gewöhnlicher Reporter bin, hat sie Recht. Was ich schreibe ist Literatur, subjektiv.

Unlängst haben Sie im Pariser Wachsfigurenkabinett, dem Grévin Museum, Ihr eigenes Monument errichtet bekommen. Wie war es, der Bernard-Henri-Lévy-Statue gegenüberzustehen?

Ich habe nichts gefühlt.

Das Gespräch führte Christine Velan.

Zur Person // BERNARD-HENRI LéVY wurde 1948 in Algerien geboren und lebt in Paris. Sein Vater hinterließ ihm ein beachtliches Vermögen. Er ist mit der glamourösen Schaupielerin Arielle Dombasle verheiratet. In Frankreich gilt er als einer der namhaftesten Intellektuellen und insbesondere als engagierter Experte des Nahen und Mittleren Ostens. In Deutschland erschien sein jüngstes Buch « Wer hat Daniel Pearl ermordet? » im Econ Verlag.

DER PHILOSOPH Henri Lévy tauchte vor fünfundzwanzig Jahren im Sartre-Umfeld auf. Er zählt zu den führenden « nouveaux philosophes », die sich Ende der 70er-Jahre vom Marxismus und vom revolutionär-utopischen Denken lautstark verabschiedeten. In seinem ersten Buch « Die Barbarei mit menschlichem Gesicht » (Rowohlt Verlag 1985) zeigte er auf, inwiefern der Marxismus das Paradigma eines anderen Totalitarismus war. Von seinen philosophischen Büchern wurde zuletzt seine Biografie über Jean-Paul Sartre ins Deutsche übersetzt. « Sartre, der Philosoph des 20. Jahrhunderts » (Hanser Verlag 2001).

DER GLOBETROTTER bereist seit über dreißig Jahren Kriegsschauplätze, um den Horror der Barbarei höchst medienwirksam anzuklagen. 1992 harrte er als Jude im belagerten Sarajevo an der Seite der bosnischen Moslems aus.

DER FILMEMACHER drehte « Der Tag und die Nacht » mit Lauren Bacall, Alain Delon und Arielle Dombasle. Die französische Kritik stufte den Streifen 1997 einhellig als « schlechtesten französischen Film aller Zeiten » ein.

LéVY WAR PRÄSIDENT des Programmbeirates von Arte, ist Filmproduzent von « Les Films du Lendemain », Herausgeber einer Buchreihe des Verlags « Grasset » sowie der Literaturzeitschrift « La règle du jeu ».

Was geschieht in der Seele eines Menschen, der eiskalt das schlimmste aller Verbrechen begeht?

George W. Bush ist zehn Jahre zu spät dran. Die Welt und ihre Bedrohungen haben sich verändert.

Quelle: Berliner Zeitung