David McNeil über die Kindheit mit seinem Vater Marc Chagall, die Decke der Pariser Oper und das schwierigeVerhältnis seines Vaters zu Picasso
In der Pariser Garnier-Oper lehnt David McNeil an der Brüstung des vierten Ranges.Er steht in Schwindel erregender Höhe, unmittelbar unter dem Gemälde derKuppel, das sein Vater, Marc Chagall, vor 40 Jahren schuf. Lange und schweigend betrachtet er die berühmte Decke: In Chagall’scher Leichtigkeit schweben Liebespaare, Blütenkränze, Blumensträuße, Esel und Engel um den mächtigenLüster aus Kristall und Bronze. Chagall unterteilte die 220 Quadratmeter in fünf Farbfelder, die jeweils zwei Komponisten gewidmet sind: Rot für Ravel und Strawinski, Weiß für Rameau und Debussy, Grün für Berlioz und Wagner, Blau fürMussorgski und Mozart. Auf gelbem Grund entdeckt man einen blauen Schwan ausTschaikowskis Schwanensee und leichtfüßige Ballerinen in bunten Tutus aus AdamsBallett Giselle. Und hie und da zwischen den Allegorien Pariser Wahrzeichen:der Eiffelturm in Blau, der Arc de Triomphe, die Place de la Concorde und das Opernhaus in Rot. Nachdem David McNeil sich geduldig fotografieren ließ, wirft er dem Fotografen ein großes, weißes Leinentuch über den Kopf, das zum Aufhellen diente. Er stachelt ihn an, als Phantom der Oper durchs leere Pausenfoyer zu laufen. Der Fotograf rennt mit ausgestreckten Armen als Gespenst los und David McNeil lacht. Ob er wohl weiß, dass sich einst hier oben, wo er soeben noch stand, ein Unfall ereignete, der Gaston Leroux zu einer Episode seines Phantoms der Oper inspirierte? Eines der Gegengewichte des sieben Tonnenschweren Lüsters hatte sich gelöst und erschlug eine Zuschauerin angeblich gerade auf Platz 13 des vierten Ranges.
Was
empfinden Sie, wenn Sie dieses Deckengemälde betrachten?
Heute ist ein besonderer Tag. Es ist das erste Mal, dass ich es fast alleine sehe.Denn entweder habe ich es mit den Arbeitern gesehen, die es anbrachten, oder mit Publikum und dem General de Gaulle, wo jeder im Stehen applaudierte und »Bravo, Bravo! » schrie. Was für eine schöne Idee, sich hier zutreffen! Ich danke der Zeitung. Aber ich brauche die Decke nicht vor Augen zuhaben. Wenn ich die Augen schließe, dann habe ich das Gemälde im Kopf. Ich habe gesehen, wie es in Bleistiftskizzen auf Papier entstand. Ich habe mit ihm gelebt. Die Grundierung, die mein Vater für die Entwürfe benötigte, bekam mal wieder ich während meiner Sommerferien in Les Collines, in Vence, aufgebrummt.
Haben Sie oft Bilder Ihres Vaters grundiert?
Das
Grundieren gefiel meinem Vater gar nicht. So wurde das häufig zu meiner
Aufgabe. Da es mir mehr Spaß gemacht hätte, an den Strand zu gehen, setzte er
eine raffinierte Strategie ein. Er erklärte, die Blätter würden davonfliegen,
wenn sie vollständig mit Farbe bedeckt seien. Er ließ Auguste, unseren
Chauffeur und Mann für alles, aus großen Papierrollen Bogen im Format von 50
mal 60 cm zuschneiden. Wir öffneten die Fenster, und ich begann mit der
lästigen Arbeit. Ich malte und malte in Grün, Rot, Gelb, sorgfältig und
unermüdlich, damit ja kein Eckchen weiß blieb. Doch ich konnte die Farbe noch
so gründlich auftragen, kein einziges Blatt flog jemals davon. Ich sagte meinem
Vater: Es funktioniert nicht. Er ermunterte mich: Versuch es weiter, hier,
versuch es mal mit Orange. Ich malte weiter und selbst nach fünf, zehn Bogen
geschah nichts. Mein Vater lächelte: Wahrscheinlich ist es heute zu heiß, wir
versuchen es morgen wieder.
Können
Sie Ihren Beitrag hier an der Decke noch festmachen ?
Ich
weiß es nicht genau. Aber da ich den blauen Hintergrund gemalt habe, muss es
hier diese Fläche in Blau für Mozart mit dem die Zauberflöte spielenden Engel
sein.
So
entstand das berühmte Deckengemälde gar nicht an der Decke der Oper, sondern im
Atelier?
Als
der französische Kultusminister André Malraux in den sechziger Jahren meinen
Vater bat, dieses Deckengemälde anzufertigen, akzeptierte er es nur unter der
Bedingung, dass es zerlegbar sei. So bemalte er die Decke wie eine riesige, in
Stücke geschnittene Apfeltarte oder Pizza. Erst vor Ort wurden die Ölgemälde
aufgezogen und zusammengesetzt.
Erinnern
Sie sich an den Abend der Einweihung?
Der
Empfang war ein Riesenerfolg. Als mein Vater die Operntreppe emporstieg,
bildete das Gendarmeriekorps ein Ehrenspalier. Mein Vater saß neben Madame de
Gaulle in der Loge, die eigentlich Staatschefs reserviert ist. Mich hatten sie
oben auf der Galerie abgesetzt. Mein Vater war äußerst empfänglich für
Ehrungen. Ich glaube, dieser Abend war einer der größten und schönsten in
seinem Leben. In Erinnerung daran hat er das Pariser Opernhaus später mehrfach
in seinem Werk verewigt.
Was
für ein Mensch war Chagall ?
Mein
Vater war ein sehr naiver Mann. Er hat anderen kaum jemals etwas zu Leide
getan. Und wenn doch, dann aus vollkommener Naivität. Er konnte die Leute mit
seiner Naivität geradezu um den Finger wickeln. Und dann noch seine strahlenden
Augen, seine slawischen Seite und sein russischer Akzent, den er beibehalten hatte!
Wenn man 50 Jahre woanders wohnt, kann man so eine Aussprache, so einen Tonfall
durchaus ablegen. Aber es war bei ihm nicht aus Berechnung. Die Naivität ist
dem Engelhaften sehr nahe. Deshalb habe ich mein Buch über die Kindheit mit
meinem Vater « Auf den Spuren eines Engels » genannt.
Sie
sind Autor mehrerer Romane. Warum haben Sie erst jetzt, im Alter von 56 Jahren,
Ihre poetischen, ironischen Kindheitserinnerungen geschrieben?
Aus
Bescheidenheit, vielleicht auch aus Scham. Wenn man das Leben mit einem
berühmten Mann erzählt, kann das schlecht aufgenommen werden. Ich wollte meine
Kindheit nicht niederschreiben. Aber ich las das Buch von Marina Picasso, in
dem sie beschreibt, welche Hölle es war, mit ihrem Großvater zu leben: Picasso,
das egozentrische Monster voller Boshaftigkeit. Ich hatte Lust, für meinen Sohn
nur drei Seiten zu verfassen, um ihm zu zeigen, dass nicht alle berühmten
Männer Monster sind. Ich habe mit meinem Vater wunderbare Glücksmomente erlebt.
So hielt ich einen dieser Tage am Strand mit ihm fest: Er holte dort seine
Schachtel mit den Pastellkreiden hervor, jene, die in ihrer Hülle in der Mitte
immer brechen. Wir zauberten Fische, Vögel, Hähne, Esel, junge Frauen und
Sirenen auf die Steine. Danach warfen wir die bemalten Steine wieder ins
Wasser. Sie wurden zu Gemälden für die Quallen. Nach diesen Seiten kribbelte es
in meinen Fingern. Mein Sohn hat mich bestärkt weiterzumachen. Das war für mich
wie eine offene Tür. Ich war glücklich, meine glücklichen und unglücklichen
Momente erzählen zu können. Die nostalgischen, traurigen Passagen habe ich
später aber weggelassen.
Wie
zum Beispiel?
Mein
Vater war fast 60 Jahre alt, als ich geboren wurde. Ich habe keinerlei
Erinnerungen an einen Fußball-Vater. Ich habe auch auf alle meine Verletzungen
verzichtet, die es während der Trennung zwischen meinen Eltern gab. Und auf
alles, was für ein Kind verletzend sein kann.
Ihre
Mutter, Virginia Haggard, schrieb 1986 in « Sieben Jahre der Fülle. Mein
Leben mit Chagall », dass Ihr Vater trotz der starken gefühlsmäßigen
Bindung Ihnen gegenüber eine distanzierte Haltung einnahm, die später zur
Entfremdung führte.
Das
Kind akzeptiert die Distanz, denn es weiß nicht, dass es etwas anderes gibt.
Bestimmte
diese Distanz von Anfang an das Verhältnis zu Ihrem Vater?
Ich
habe erst später angefangen, diese Distanz zu spüren. Als er mich als Baby von
drei oder sechs Monaten sah, sagte er schon zu meiner Mutter: « Eines Tages
wird er trinken und rauchen und er wird in Bars gehen, wo Frauen sind! »
Mein Vater hatte die große, große Angst, dass ich so wie Paulo Picasso werden
würde. Paulo, war ein junger Mann, der viel trank, jeden Abend ausging und
sturzbetrunken morgens um 5 Uhr von zwei Gendarmen nach Hause gebracht wurde.
Je mehr ich heranwuchs, je mehr ich mich dem Erwachsenenalter näherte, desto
mehr hatte mein Vater Angst vor mir, desto mehr entfernte er sich von mir.
Hat
er Sie als Kind gerade noch, als Erwachsener überhaupt nicht mehr akzeptiert?
Das
Ende kam mit dem Verschwinden der Kindheit, mit 14 Jahren. Wenn es mir heute
gelingt, diese Zeit aus der Distanz zu betrachten, dann denke ich: An diesem
Ort hier, wo wir jetzt sitzen, wenden jeden Abend 2 000 Menschen den Kopf nach
oben, um das Deckengemälde anzusehen. Bin ich wichtiger als die Decke der Oper?
Wenn ich mir diese Frage stelle, dann sage ich mir: Vielleicht war dieser Mann
eher dazu geeignet, Millionen von Menschen zum Träumen zu bringen, als einfach
ein Kind zu streicheln.
Hieße
das, dass man neben einem Genie selbst keine Daseinberechtigung mehr hat?
Nein,
das heißt, dass man bescheiden zurücktritt und sich in den Schatten stellt.
Wenn jemand dieses wunderbare Genie hat, geht das immer auf Kosten von
jemandem. Das sind natürlich immer die Kinder. Ich kratzte nicht wie ein Hund
an die Tür und jaulte. Ich überwand meinen Groll und sagte mir: Okay, du
bereitest so vielen Menschen so viel Freude, mach weiter so. Ich habe mir
schnell in den Kopf gesetzt, das Gleiche wie er zu tun und anderen Freude zu
bereiten. Aber ich hatte nicht sein Charisma. Und in meiner Arbeit war ich sehr
viel mittelmäßiger.
Warum
wollte Ihr Vater nicht, dass Sie Künstler werden ?
Ich
sollte Architekt werden, ein Beruf, mit dem ich meine zukünftige Familie
ernähren konnte. Mein Vater hatte schon Grundstücke gekauft, wo ich Villen
bauen sollte, um Geld zu verdienen. Er hat immer geglaubt, dass er arm ist.
Aber
Marc Chagall war zu jener Zeit bereits ein anerkannter, vermögender Künstler.
Er
wusste es nicht. Sie sagte ihm, sie hätten kein Geld.
Sie
meinen die zweite Ehefrau Ihres Vaters, Valentina Brodsky?
Ja,
ja. Einmal jedenfalls, als wir bei seinem Kunsthändler Aimé Maeght eingeladen
waren, blieb mein Vater auf dem Parkplatz stehen. Er fragte sich, warum sich
sein Händler nur mit seinem 15-Prozent-Anteil einen weißen Rolls Royce Silver
Cloud III Cabriolet leisten konnte, während er selbst diese Klapperkiste, einen
alten Peugeot 403 fuhr. Die Stiefmutter erklärte ihm, statt des traurigen,
jüdischen Zeugs, diesen heruntergekommenen Schtetls, diesen erbärmlichen
Rabbinern mit ihrer alten Thora, solle er fröhliche Blumensträuße malen. Blumen
würden sich besser verkaufen. Dann könnten wir auch einen Rolls kaufen. So hat
mein Vater 15 Jahre lang Gladiolen gemalt und hat nie einen Rolls bekommen. Er
war naiv! So enstanden all die Blumengemälde, die man heute als dekorativen
Chagall bezeichnet. Er war davon überzeugt, kein Geld zu haben.
Wie
hat er reagiert, als er erfuhr, dass Sie Musiker werden?
Er
war furchtbar enttäuscht. Bill Wyman, der ehemalige Bassist der Stones, hat
einmal ein Buch über meinen Vater geschrieben und ihn in Saint-Paul besucht.
Wyman erzählte mir, mein Vater habe ihm sehr stolz gesagt: « Wissen Sie,
mein Sohn ist auch Musiker. » So muss er darüber glücklich gewesen sein.
Ich schrieb einmal ein Lied für meinen Vater, in der Hoffnung, es möge ihm
eines Tages zu Ohren kommen. Denn er hörte oft Radio in seinem Atelier. Wer
weiß?
Ab
welchem Zeitpunkt haben Sie Ihren Vater nicht mehr gesehen?
Von
da an, als ich mit sechzehn Jahren anfing Zigaretten zu rauchen. Das ertrug er
nicht. Zu seinem Geburtstag schrieb ich ihm einen Brief, den er nie
beantwortete. Ich glaube, dass meine Stiefmutter ihn versteckt hat. Da er nie
antwortete, schrieb ich ihm auch nicht mehr. Der eine ist stolz, der andere ist
dann noch stolzer. So habe ich ihn fast zehn Jahre lang nicht mehr gesehen.
Eines Tages bin ich mit meinem vierjährigen Sohn zu ihm gefahren, um ihm mein
Kind zu zeigen.
Wie
hat Ihr Vater reagiert?
Er
hat ihn sofort ins Atelier mitgenommen und genau das gemacht, was er mit mir machte,
als ich ein Kind war. Er gab ihm Papier, Farben und Pinsel. Sie haben sich
hervorragend verstanden. Sie waren wie Vater und Sohn. Ich war ausgeschlossen,
aber ich fand es okay. Einerseits war ich eifersüchtig, andererseits sehr
glücklich. Von da an sahen wir uns wieder, bis ein blöder Artikel erschien. Ich
habe meinen Vater die letzten drei Jahre bis zu seinem Tod nicht mehr gesehen.
Wegen eines Zeitungsartikels! Wirklich grotesk!
Was
stand in diesem Artikel?
Journalisten
hatten mich befragt, worin ich die Zukunft der Malerei sähe. Ich dachte, sie
liegt natürlich nicht in den 90-jährigen, alten Meistern wie meinem Vater und
sagte: Die Kunst wird von Videos, Installationen und neuen künstlerischen
Bewegungen bestimmt werden. Der Titel des Artikels lautete dann: « Der Sohn
von Chagall verurteilt die Malerei. » Meine Stiefmutter nahm diesen Artikel
zum Vorwand, um den Kontakt abzubrechen. Mein Sohn Dylan rief später einmal
seine Großeltern an. Ihm wurde ausgerichtet, sie hätten keine Zeit, ihn zu
sehen. Ich rief zweimal an. Mir wurde nicht geantwortet. Als mein Vater starb,
wurde es noch schlimmer.
In
welcher Hinsicht ?
Die
Stiefmutter drohte, wenn mein Sohn oder ich ins Haus kämen, würde sie uns
verhaften lassen. Und da kommen wir wieder zur Picasso-Familie: Als Pablito,
dem Sohn von Paulo, dem Enkel von Picasso, der Zugang zum Totenbett seines
Großvaters verweigert wurde, trank er eine Flasche Chlorwasser. Drei Monate
lang ist er dann dahingesiecht. Wenn ich meinen Vater hätte sehen wollen, hätte
mich die Stiefmutter von der Gendarmerie festnehmen lassen.
Was
hätte sie als Grund angeben können?
Erst
einmal kannte sie im Gegensatz zu mir die Gendarmerie. Dann steht in meinen
Papieren nicht Chagall, sondern McNeil. Man hätte mich gefragt: « Wer sind
Sie überhaupt? » Soll ich einem Gendarmen eine Stunde lang erklären, wer
ich bin, um meinen Vater auf dem Totenbett sehen zu können? Ich bin nicht
hingegangen. Da sieht man mal wieder die Boshaftigkeit dieser Frau.
Warum
heißen Sie nicht Chagall ?
Als
ich zur Welt kam, war meine Mutter noch mit John McNeil verheiratet. Sie wollte
die Scheidung, aber er willigte nicht ein. Er war gekränkt, dass sie ihn
verlassen hatte. Sieben Jahre später gab er seine Einwillung. Da hatte sie
Chagall aber bereits verlassen. Legal heiße ich McNeil. Als ich wegging, um
mein eigenes Leben als Jazzman zu leben, wollte ich nicht der Sohn eines
bekannten Mannes sein. Ich jobbte im Londoner Jazzclub Ronny Scott’s. Ich
wollte David McNeil sein, der Mäntel in einer Garderobe aufhing, ohne dass
jemand wusste, woher ich kam. Mit der heutigen Gesetzgebung könnte ich
vielleicht den Namen wechseln. Meinen Vornamen habe ich immerhin vom Onkel
meines Vaters, den er Geige spielend immer wieder malte.
Warum
geigt dieser Onkel in Chagalls Darstellungen wie z. B. « Der Geiger »
(1912-1913) und « Der grüne Geiger » (1923) eigentlich auf einem Dach?
Die
Frau dieses Onkels fluchte immer: « Du spielst dermaßen schief, raus, du
spielst nicht im Haus. » Heute würden wir sagen: « Geh in den
Keller! » Da sie in Russland aber in Holzhäusern lebten, die keinen Keller
hatten, musste er zum Geige spielen tatsächlich wegen seiner Ehefrau aufs Dach.
Warum
sprechen Sie noch heute nie den Namen der zweiten Ehefrau Ihres Vaters aus?
Selbst in Ihrem Buch benennen Sie Ihre Stiefmutter Valentina Brodsky immer nur
mit « sie ».
Es
gibt Orte und Restaurants in Paris, die ich bis heute nicht betrete, weil sie
die gerne aufsuchte. Ich meide auch ein Ufer der Ile-Saint-Louis, das Quai
d’Anjou. Ich gehe niemals an ihrem Haus vorbei.
Sie
ist doch schon längst gestorben.
Ja.
Ich danke Gott jeden Tag dafür. Sie starb viel zu spät! Ich hätte Lust, einen
großen Sack voller Salz zu nehmen und überall, wo diese Frau entlang gegangen
ist, Salz zu streuen. Damit kein Gras mehr wächst, wo sie auch nur ihren Fuß
hingesetzt hat.
Warum
haben Sie noch heute solche Ressentiments?
Dieses
Gorgonenweib schreckte nicht einmal davor zurück, das Zimmer meiner Schwester
Ida zuzumauern. Ida, Chagalls Tochter aus erster Ehe, und ich überlegten
einmal, was wir machen könnten, damit sie krepiert. Wir sind jede Möglichkeit
durchgegangen. Da sie leberkrank war und sie es sich dennoch nicht verkneifen
konnte, alle Pralinen zu essen, die man ihr schenkte, wollten wir sie einfach
mit Schokolade vergiften. Der Hass war dermaßen groß! Ich bin dieser Frau
gegenüber boshaft, weil sie eine boshafte Person war. Vielleicht hat sie sich
an mir gerächt, weil sie kein eigenes Kind mit meinem Vater hatte. Ich fragte
sie einmal, ob ich nicht mein schreckliches Internat verlassen könnte, um bei
ihnen zu leben. Meine Mutter konnte sich damals nicht um mich kümmern, da sie
ihren neuen Mann, der schwer krank war, pflegen musste. Die Stiefmutter
antwortete lediglich, das käme nicht in Frage, das sei unmöglich.
Was
schätzte Ihr Vater an Valentina Brodsky, die er Vava nannte und mit der er 33
Jahre verheiratet blieb?
Den
Komfort. Sie war sehr schön, sehr sanft. Es war behaglich mit ihr. Sie hat ihm
das Leben eines alten, bequemen Monsieurs ermöglicht. Eine totale Geisha war
sie. Ida wusste, dass ihr Vater, nachdem meine Mutter fortgegangen war, nicht
alleine bleiben konnte. Sie stellte ihm diese dunkelhaarige Kaukasierin aus
bester Familie vor, die bei einer Londoner Hutmacherin Federn auf Damenhüte
nähte. Ida hatte diese Frau als Geisha ausgewählt, weil sie eine war. Sie hat
sich als äußerst intelligent erwiesen und alles beschlagnahmt. Aber ich möchte
betonen: wenn diese Frau boshaft war, dann auch, weil das Leben ihr nichts
geschenkt hat. In der Oktoberrevolution hatte ihre Familie in Russland alles
verloren. Jetzt, wo sie seit langem tot ist, werde ich auch kein Salz streuen.
Und dennoch: wenn ich mir vorstelle, dass sie im Grab meines Vaters ruht! Ich
habe noch immer Lust, sie herausnehmen zu lassen. Und manchmal sage ich mir,
man muss verzeihen.
Inwiefern
spielte es für Ihren Vater eine Rolle, dass Valentina Brodsky einem russischen
Zuckerimperium und er einer armen, russischen Familie entstammte?
Mein
Vater hatte einen echten Tick, nämlich die Manie, Zucker zu stehlen. In
Venedig, im Café Floriani, gab er dem Geiger 20 Dollar, dem Kellner 20 Dollar
Trinkgeld, ließ aber den gesamten Zucker mitgehen. Eines Tages sagte er mir:
Wenn meine Eltern miterlebt hätten, dass ich die Tochter vom Zuckerbaron
Brodsky aus Strawropol heirate. Was wären sie stolz auf ihren Sohn! Und ich
fragte ihn: Wären sie nicht stolz darauf, dass sie einen Sohn haben, der die
Decke der Oper bemalt hat? Er antwortete: Nein, nein! Auf die Heirat mit der
Tochter vom Zucker B., darauf wären sie stolz!
Ließ
Ihr Vater aus reiner Naivität zu, dass Valentina Brodsky alles in Beschlag nahm
und dabei Ihre Vater-Sohn Beziehung zerstörte?
Das
war nicht Naivität, sondern reine Schwäche, sich wie ein Kind verzärteln,
verhätscheln zu lassen. Für ihn war es einfach sich zurückzuziehen. « Ich
bin Künstler. Ich will nur in mein Atelier gehen und arbeiten. Ich kümmere mich
nicht um die alltäglichen Probleme. » Das kam ihm gelegen. Es gab keine
Freunde, keine Kinder, niemanden mehr.
Chagall
hatte am Ende seines Lebens keine Freunde mehr?
Es
gab Freunde, aber nur jene, die sie aussuchte. Wenn die Kinder von Ida ihn in
Saint-Paul-de-Vence besuchten, durften sie nicht einmal bei ihm zu Hause
schlafen. Die kleinen Nichten mussten ins Hotel gehen. Sie hielt jeden Einfluss
von außen, alles, fern. Er hat es akzeptiert.
Ist
Chagall demnach nicht mitverantwortlich?
Ich
hätte ein Kapitel schreiben können, dass er ein schwacher Mann war, der auf den
Tisch hätte hauen müssen. Aber ich habe es nicht gemacht. Die so genannten
Blues-Momente sind etwas zwischen mir und mir selbst und sicher nicht zwischen
mir und anderen Leuten. Das sind Dinge, die mir gehören.
Wollten
Sie nicht vielmehr ein positives Bild Ihres Vater entwerfen? Ihre Mutter
schrieb in ihrem Buch, Sie hätten niemals auch nur die kleinste Kritik über
Ihren Vater verlauten lassen. Sie hätten immer eine bedingungslose Liebe für
ihn gehegt.
Ich
habe diese schwache Seite von ihm ausradiert. Denn man darf nicht vergessen, er
hat ein hartes Leben gehabt: die Pogrome und Hungersnot in Russland, die
Oktoberrevolution, der Erste Weltkrieg, der Zweite Weltkrieg. Er hat einen
Bruder und 1944 seine erste Frau verloren. Sein Leben war dem Unglück
ausgesetzt. Man kann über einen Mann, der das alles durchleben musste, nicht
den Stab brechen. Ich lebe nur ein bisschen länger als ein halbes Jahrhundert
und mir ist nicht eines dieser Unglücke widerfahren. In meinem Alter hatte er
schon das Unglück der ganzen Welt erlebt. Man kann die Schwäche eines Mannes
verzeihen, der im Alter von 75 Jahren sagt: Jetzt habe ich Lust zu malen, lasst
mich alle in Ruhe! Deshalb lasse ich meinen Vater in meinem Buch in Ruhe.
Chagall
unterhielt zu Schriftstellern wie Guillaume Apollinaire und Blaise Cendrars
unkompliziertere Beziehungen als zu Malern. Welches Verhältnis hatte er zu
Picasso?
Die
beiden schätzten einander, doch mit der Zeit war so ein Spielchen zwischen
ihnen entstanden. Wenn man meinen Vater dann einmal fragte, ob er Picasso
mochte, antwortete er: Wenn Picasso mich mag, mag ich ihn auch.
Chagall
befand: Picasso interessiert sich nicht für die menschlichen Gefühle. Er setzt
sich nur mit dem Sichtbaren, dem Äußeren der menschlichen Natur auseinander.
Das
stimmt auch!
Chagall
sagte: Picasso wechselt den Stil so oft wie seine Socken.
Aber
er dachte, es sind schöne Socken. Das war Eifersucht.
Erlebten
Sie Situationen mit, wo diese Eifersucht zum Ausdruck kam?
Ich
erinnere mich genau an Vallauris. Eine Töpferwerkstatt ist für ein Kind das
Paradies. Mein Vater wollte im Madoura Atelier, der Werkstatt renommierter
Keramiker, arbeiten. Picasso muss fuchsteufelswild geworden sein, denn das war
sein Revier. Vor der Werkstatt, in der mein Vater seine Keramiken machte, lief
ständig ein kleines Mädchen pfeifend auf und ab. Vielleicht war es Paloma oder
Marina Picasso, wer weiß? Jedenfalls bat mein Vater mich, das Gleiche zu tun:
Sag mir, was er macht, welchen Ton er verwendet! Das kleine Mädchen und ich
waren von den zwei großen Künstlern als Spione angeheuert. Ich sah nach: Der
macht einen Teller mit Stierhörnern. Stierhörner?, fragte mein Vater. Die
Hörner werden doch beim Brennen springen. Später ging mein Vater zum Arbeiter,
der sich um den Ofen kümmerte: Dieser Teller von Picasso hat doch das Brennen
nicht überstanden, oder? Der eine machte seine Esel, der andere seine Stiere
und beide beobachteten sich gegenseitig. Ich erinnere mich gut an Picasso, den
alten, glatzköpfigen Monsieur, der neben Papa arbeitete. Sie liebten und
verachteten sich.
In
Françoise Gilots Erinnerungen heißt es, Picasso habe gesagt: Wenn Matisse
stirbt, wird Chagall der einzige Maler sein, der noch weiß, was Farbe ist. Ich
bin nicht versessen auf seine Hähne und Esel und fliegenden Geiger und die
ganze übrige Folklore, aber seine Bilder sind wirklich gemalt, nicht nur
einfach zusammengeschmiert.
Chagall
ist ein Kolorist, Picasso überhaupt keiner. Das berühmsteste Bild von Picasso
ist schwarz-weiß: Guernica. Picasso hat immer die schrecklichsten Farben
verwendet.
Ihre
Mutter erwähnt, Matisse schenkte Ihrer Schwester eine Katze und Ihr Vater soll
eifersüchtig gewesen sein, wenn man die Matisse-Katze zu viel gestreichelt hat.
Ich
erinnere mich an eine schwarz-weiße Katze. Das war also die Katze von Matisse!
Ihn habe ich als einen alten Mann im großen Sessel in seinem Atelier in
Erinnerung. Bei uns zu Hause hieß er bald nur noch der Schnipselkleber. Der
Rheumatismus hatte den alten Meister so steif gemacht, dass er nur noch
Papierfetzen ausschnitt.
Welche
ist die letzte Erinnerung an Ihren Vater?
Ich
sah ihn zum letzten Mal auf der Eisenbahnbrücke. Wie jeden Tag brach er zu
seinem Spaziergang auf. Ich kam mit dem Auto zufällig vorbei, weil ich eine
Frau, eine alte Schulfreundin, nach Hause brachte. Sie war wirklich keine
Schönheit mehr und ich wollte nicht, dass er sie für meine Freundin hielt. Snobismus
kann ein Verbrechen sein! Ich hätte das Mädchen und Auto stehen lassen und auf
ihn zulaufen sollen, um ihm zu sagen: Wir machen noch einen Spaziergang. Ich
habe es nicht gemacht. Das ist das letzte Bild von ihm: Er mit dem Rücken zu
mir, der wie Chaplin am Ende seiner Filme verschwindet. Ein Monsieur von über
90 Jahren, der leicht humpelnd über die Brücke geht. Ich habe Angst, dass diese
alte Brücke zerstört und durch Beton ersetzt worden ist. Ich wage es nicht, die
Orte meiner Jugend aufzusuchen.
Das Gespräch führte Christine Velan.
Quelle: Berliner Zeitung, Magazin 15./16. Mai 2004